Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Kristallisation

Volkswerdung ist immer ein geheimnisvoller Prozeß. Aus Gruppen, Horden und Sippen, aus Einzelheiten, die nur an sich selber denken, erwachsen eines Tages Verbundenheiten, Gemeinsamkeiten der Art und des Schicksals, bekommen Geburt und Tod, Glückseligkeit und Verhängnis einen veränderten Sinn, entstehen neue Gefühle und neue Denkarten, die der Erde ein neues Angesicht aufdrücken. Nichts ist damit gedient, wenn man uns lehrt, dafür gebe es nachweisbare Ursachen: Klima, Ernährung, wirtschaftliche Notwendigkeiten. Das ist richtig, aber unzulänglich. Menschliche Gemeinschaften 13 wachsen so organisch, wie der Mensch als Stück Natur selber wächst. Das Entscheidende daran ist der Gehalt an Seele, Geist, Idee. Das ist das Unbeweisbare und Geheimnisvolle in jeder historischen Entwicklung. Ideen sind nicht zu beweisen. Sie manifestieren sich nur. Ob einer sie annehmen kann oder nicht, ist Sache des Glaubens.

Solche Manifestationen treten schon in der frühesten, noch eben erkennbaren Zeit der jüdischen Geschichte in einem prägnanten Kristallisationsprozeß zutage.

Etwa zu Beginn des Dritten Jahrtausends vor der heutigen Zeitrechnung dehnen sich über Vorderasien Teile jener Volksgruppe aus, die man Semiten nennt und deren Urheimat vielleicht die arabische Halbinsel gewesen ist. Sie dringen von dorther nach Norden, in das Gebiet des Euphrat und Tigris, Mesopotamien genannt, breiten sich im südlichen Babylonien als Akkader aus, sitzen im Westen, an der Grenze Kanaans, als Amurru oder Amoriter, entlassen Abzweigungen nach Palästina hinein und fluktuieren an dessen Südrand bis an Ägypten heran in zahlreichen nomadischen Stämmen. Sie sind ein Gemisch von Nomaden und Bauern. Es sitzt ihnen allen die Unruhe im Blut und doch zugleich das Verlangen, irgendwo seßhaft zu werden. Darum wandern sie viel weiter, als es sonst Nomaden auf ihrer Suche nach neuen Weideplätzen zu tun pflegen. Sie bewegen sich in einem großen, unruhigen, immer drängenden Zuge zwischen den beiden Zentren der damaligen Zivilisation, zwischen Ägypten und Babylonien. Sie durchstreifen immer wieder das Land zwischen zwei Polen: Palästina, diese natürliche Brücke zwischen Asien und Afrika. Gruppe auf Gruppe bleibt hängen und siedelt sich an. Eine Unzahl kleiner Herrschaftsgebiete entsteht und engt den freien Raum des Landes ein. Zugleich strecken die beiden Großmächte aus Norden und Süden die Hand nach diesem Durchgangsland aus. Sie brauchen es als Handelsweg. Schon um das Jahr 2500 hält Babylonien das Land besetzt. Das hat 14 zur Folge, daß die Wanderströme an den Grenzen wie an Deichen künstlich gestaut werden und endlich mit Gewalt in das umwehrte Land einbrechen müssen. Dann dringt Ägypten vor und bemächtigt sich des Landes. Damit schafft es die gleichen Bedingungen, wie die Babylonier sie geschaffen hatten: es staut die Völkerwanderung. Folgerichtig brechen, etwa um 1400, wieder semitische Stämme in Palästina ein. Aber diesmal handelt es sich innerhalb der semitischen Völkerschaften um eine besondere Gruppe: die Hebräer.

Wie und wann sie sich aus der größeren Gemeinschaft abgesondert haben, steht nicht fest. Sie neigten alle zur Absonderung im engeren Rahmen ihrer Familienverbände. Nur aus ihren Namen und dem historischen Kern der Erzväterlegenden läßt sich folgendes sagen: sie werden zuerst am unteren Lauf des Euphrat sichtbar, ziehen dann hinauf nach Mesopotamien und verfolgen den Weg, den alle Gruppen dort und in jener Zeit gingen: nach Syrien, weiter nach Kanaan, in die Randsteppen und – wenn die Hungersnot sie trieb – sogar bis nach Ägypten. Für die, in deren Sichtweite sie traten, kamen sie »von der andern Seite« des Stromes. »Die andere Seite« heißt im Hebräischen ewer. Die von der andern Seite Kommenden sind die Iwrim, oder, in der deutschen Transkription: Ebräer, Hebräer. Das ist etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Diese hebräische Gruppe der Semiten wird zu einem Teil in den Grenzgebieten Kanaans seßhaft. Aber da Seßhaftigkeit und schweifendes Dasein nicht nur begriffliche Gegensätze sind, sondern auch widersprechende Inhalte an Gedanken und Lebensformen haben, muß die hebräische Gruppe sich so notwendig spalten, wie es die größere semitische getan hat. Als ein Teil dieses Spaltungsvorganges steht eines Tages vor uns der Stamm der Bne Jisrael, der Söhne Israel, mithin das Ergebnis einer doppelten Auslese sowohl aus den Semiten wie aus den Hebräern. 15

Aber der Differenzierungsprozeß geht weiter. Noch im Gebiete und in Reichweite des Landes Kanaan löst sich der Stamm der Bne Jisrael in zwölf Geschlechtergruppen auf, die sogenannten zwölf Stämme. Nach Ursprung, Sprache und Sitte auf das engste verwandt, sondern sie sich doch zunächst in Wegen und Schicksalen völlig voneinander. Ein Teil bleibt in den Grenzgebieten Kanaans, ein Teil bleibt auf der großen Heerstraße der orientalischen Völker und in den angrenzenden Steppen und Wüsten als Nomaden, ein geringer Teil endlich gelangt, von Hungersnot getrieben, nach Ägypten und wird dort von den Pharaonen unter ihren Schutz genommen.

Für diese Auswanderer nach Ägypten waren alle Voraussetzungen gegeben, sich dort aufzulösen oder sich in anderen semitischen Stämmen zu verlieren. Denn sie siedelten dort nicht allein. Die Landschaft Gosen, in die sie eindrangen, das Deltagebiet zwischen dem östlichen Nilarm und der Wüste, war ein begehrtes und ersehntes Einfallgebiet aller benachbarten semitischen Nomaden und war mit seinen großen Weidestrecken vielfach das Ziel Langsamer Infiltration oder stürmischer Einbrüche. Aber es kam weder zu einer Vermischung noch zu einer Auflösung, sondern im Gegenteil zu der ersten prägnanten Herausbildung ihrer Eigenart.

Als Ägypten seine Expansion bis nach Babylonien hin ausführen wollte, mußte es zunächst in seinem beweglichen Randgebiet Gosen stabile Verhältnisse schaffen. Es machte folglich die Insassen zu Untertanen. Ägyptische Untertanen waren aber nach der sozialen Verfassung dieses Landes Unfreie, Sklaven. Den Bne Jisrael geschah also nichts anderes als den übrigen Ägyptern. Aber sie reagierten anders darauf. Sie waren als ein freier Stammesteil nach Gosen gekommen. Ihr Anspruch auf Freiheit und Freizügigkeit war nicht verjährt. Eine Situation, die der ägyptischen Bevölkerung erträglich schien, war für sie, die sich schon durch den fortgesetzten Prozeß der Absonderungen als Individualisten auswiesen, schlechthin 16 unerträglich. Es kam zu einem Aufstand und zu der Erhebung des Anspruches, aus der Untertänigkeit in die Freiheit und in ein anderes Land entlassen zu werden.

Schon in dieser Situation der jüdischen Geschichte sind deutlich drei Elemente sichtbar, die von dauernder und entscheidender Wirkung sind und die schon hier, unter Vorwegnahme späteren Geschehens, geklärt werden sollen. Das jüdische Volk entsteht erst aus einem Jahrhunderte währenden, immer fortschreitenden Isolierungsprozeß. Dieses Isolierungsbestreben geht durch die Jahrtausende bis in die Gegenwart. Es ist ein inneres Merkmal der Rasse, ein metaphysisches Element. Das Schicksal hat über die jüdische Geschichte ferner das Prinzip der Auslese gestellt. An jedem großen Wendepunkt der Geschichte steht eine Verminderung des Bestandes, ein Herausschälen des Kernes. Wenn diese zwangsweise Auslese zugleich bedeutet, daß sie die widerstandsfähigen Bestandteile am Leben erhält, dann wird begreiflich, daß diesem Volke eine Art vitaler Überlegenheit über jede Umgebung eigen wird. Und endlich: sobald in der Umgebung des jüdischen Volkes Feindseligkeiten auftreten, wird dadurch ein Widerstand ausgelöst, je nach Zeit und Ort ein aktiver oder ein passiver, immer aber ein solcher, der fruchtbar ist, indem er stets erneut Selbstbestimmung und Selbstbeschränkung zur Folge hat und dem Willen zum Dasein unaufhörlich Nahrung gibt.

Isolierung, Auslese und Konzentration sind aber für sich allein betrachtet nichts als Worte für Vorgänge. Die Frage, warum das so sei, ist damit noch nicht geklärt, und doch stellt sie sich schon jetzt, am Ende der ägyptischen Periode, notwendig zur Beantwortung: diese Menschen vegetierten in der Reichweite einer religiösen Idee. Keine historische Entwicklung ist in ihrem Anfang ohne das überwiegende Mitwirken religiöser Kräfte zu begreifen. Jeder historische Ablauf wird genau um so viel für das wahrhaft menschliche Geschehen unwesentlicher, als in ihm das religiöse Moment an Kraft 17 verliert. Das jüdische Altertum lebte viel tiefer und sichtbarer aus religiösem Fundus als spätere Zeiten. Wer das vergißt, wird die Triebkräfte immer falsch einschätzen. Wer in den Begriffen Gott, Glaube, Religion keine Wirklichkeit erkennt, sieht an der entscheidenden Gestaltung dieses Volkskörpers hoffnungslos vorbei.

 


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