Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Sonderung

Drei Könige haben über die Gesamtheit der jisraelitischen Stämme geherrscht. Ihre Bedeutung liegt nicht eigentlich in ihren Persönlichkeiten. Sie sind, soweit ihr Wirken in ihrer historischen Zeit in Frage kommt, kaum mehr als Namensträger der einzelnen Zeitabschnitte. Aber jeder von ihnen hat in seiner posthumen Gestaltung sein besonderes Gesicht und 57 seine besondere Bedeutung bekommen, und in diesem Sinne sind sie historische Figuren von großem Format und darüber hinaus fortwirkende historische Energien geworden. An Schaul dem Helden, an Dawid dem Psalmensänger und an Schelomo dem Weisen haben Generationen ihren Lebenswillen erneuert.

Aber die Zeit selbst hat aus dem Königtum keine Energien bezogen. Es hatte nicht einmal so viel Energie, seinen eigenen Bestand zu sichern. Wohl trat nach Schelomos Tod sein Sohn Rehabeam mit aller Selbstverständlichkeit das königliche Amt an, aber er wurde sofort belehrt, daß die erbliche Monarchie für das Gesamt der Stämme keine Selbstverständlichkeit war. Zwar nahmen die Stämme Jehuda und Binjamin ihn als König an, doch mehr aus Treue gegenüber der Dawidischen Dynastie als aus Neigung zu seinen recht mittelmäßigen Qualitäten. Dagegen blieben die Mitte und der Norden des Landes abwartend. Ihre Ältesten versammelten sich in Sichem zur Beratung. Jerobeam, der bei der Nachricht von Schelomos Tod sofort in die Heimat geeilt war, beriet sie dabei.

Es blieb Rehabeam nichts übrig, als auch nach Sichem zu kommen, um die Huldigung der Stämme in Empfang zu nehmen. Sie wurde ihm nicht schlechthin versagt, sondern von Bedingungen abhängig gemacht, die gerecht und billig waren. Sie verlangten Verwaltungsreformen. Es entspinnt sich ein Dialog von unendlicher Aktualität. »Dein Vater hat unser Joch hart gemacht. So erleichtere du deines Vaters harte Arbeit und das schwere Joch, das er uns auferlegt hat. So wollen wir dir dienen.« Nach drei Tagen Bedenkzeit erfolgt die Antwort, vom Größenwahn des Absolutismus diktiert: »Mein Vater hat euer Joch schwer gemacht, aber ich will euer Joch noch schwerer machen. Mein Vater hat euch mit Geißeln gezüchtigt, aber ich will euch mit Skorpionen züchtigen.«

Das Volk tobt. Rehabeam muß fliehen. Die Partie des Absolutisten ist verspielt. Die Ältesten wählen für die Mitte und den Norden des Landes ihren eigenen König: den ehemaligen 58 Sklavenaufseher Jerobeam. Damit zerreißt die Einheit des Reiches. Für zwei Jahrhunderte bestehen fortan zwei Staaten: im Norden das Reich Israel, auch Ephraim oder Samaria genannt, im Süden das Reich Juda.

Rehabeams Versuch, sich die Anerkennung zu erkämpfen, mißlingt. Das Gegeneinander, das Anderssein, das Getrenntsein der beiden Reiche wird in diesen Kämpfen vertieft und bewußter. In kurzer Zeit stehen sich zwei Staaten gegenüber, die in Feindschaft und Freundschaft nicht mehr miteinander zu tun haben als zwei beliebige Staaten, die zufällig aneinander grenzen. Gelegentlich bekämpfen sie einander, gelegentlich schließen sie Bündnisse miteinander, aber sie stehen auf sich und für sich, haben eigene Interessen, treiben eigene Politik und schaffen sich ihr eigenes Schicksal. Diese Schicksale verlaufen in der denkbar größten Gegensätzlichkeit: das Reich Samaria geht unter, verschwindet fast ohne Hinterlassen einer Spur von der Oberfläche der Erde; das Reich Juda wird die Keimzelle einer bis heute unsterblichen Nation.

Um das Schicksal des Reiches Samaria zu erklären, genügt es nicht, darauf hinzuweisen, daß es sich in die damalige internationale Politik eingelassen und folglich das Schicksal der daran beteiligten Völker habe teilen müssen. Der Grund liegt tiefer:

Das besondere religiöse Bewußtsein der Jisraeliten war durchaus intakt geblieben. Alle Angleichung an Sitten, Bräuche, Feste, Kulte und Denkweisen der Umgebung hat den Kern nicht zerstören können, der ihnen einen eigenen Weg der Entwicklung vorschrieb. Im Gegenteil: mit ungewöhnlicher Stoßkraft und Hartnäckigkeit erhebt sich der unbewußte religiöse Trieb zu einer bewußten geistigen Haltung. Sie begreifen immer mehr, daß ihr ganzes religiöses Gefüge, ihre Anschauung von Gott, von der Weltschöpfung, von der Entstehung des Menschen, von seiner sittlichen Verpflichtung im Dasein etwas Besonderes sei, daß es vor allem nach Form und Inhalt eine Existenz verlange, die von der jeder Umgebung grundlegend 59 verschieden sei. Solche Verschiedenheit verträgt auf die Dauer keine Angleichung. Sie verlangt Sonderung, reinliche Scheidung. Die Tendenz zu dieser Sonderung überstieg gerade in diesen Zeiten die Schwelle des Unterbewußtseins. Sie fing gerade an, eine schöpferische Kraft zu werden. Aber gerade zu dieser Zeit geschahen im Reiche Samaria fortgesetzt Dinge, die diesem Drang entgegengerichtet waren, die darauf abzielten, sich vom Reiche Juda bewußter und sichtbarer abzusondern und sich zugleich den übrigen benachbarten Völkern wachsend anzugleichen. Wohl entstand eine Reaktion, die sich bemühte, die alte Entwicklungslinie fortzusetzen. Aber sie konnte gegenüber der offiziellen Leitung der jisraelitischen Geschicke nichts ausrichten. So verschwanden allmählich die schöpferischen Besonderheiten, die das Volk im Norden von der Umgebung unterschieden. Sie begriffen ihr Schicksal nicht mehr isoliert. Folglich gab es kein Eigenbewußtsein mehr für sie. Die freiwillige, zeugende Sonderung hatte aufgehört und damit auch die besondere Existenzkraft. Die Geschichte des Reiches Samaria besteht für uns nur in den Vorgängen, an denen dieser Gedankengang erkennbar wird.

Gleich im Beginn seiner Regierung fügte Jerobeam zur politischen die religiöse Trennung hinzu. Gegen das Schwergewicht des Tempels in Jerusalem verlieh er zwei Tempeln in Bethel und Dan den Charakter offizieller nationaler Kultstätten. Der Apiskult, den er in Ägypten kennengelernt hatte, fand dort in Stierbildern symbolische Darstellung. Den Unzufriedenen, die sich weder mit der Zentralisation des Gottesdienstes in dem weitab gelegenen Jerusalem noch mit der geläuterten, abstrakten Form des Kultes hatten befreunden können, gab er den privaten Gottesdienst auf Anhöhen, in Hainen oder im Hause frei.

Dieses Zurückführen des Volkes zu seinen halbheidnischen Kulten unterbricht die Entwicklung zum reinen Jahve-Kult. Religiöser Synkretismus ist an sich zwar eine häufige und 60 durchaus nicht auffallende Erscheinung in frühen Stadien religiöser Entwicklung. Aber überwinden kann ihn nur der Wille zur Entscheidung und Ausschließlichkeit. Dieser Wille wurde hier unterbunden, weil der religiösen Haltung das Verpflichtende genommen wurde. Diese Sonderung hat eine andere im Gefolge: ein großer Teil der Lewiten, die den Dienst an den halbheidnischen Kultstätten ablehnen, und viele Laien, die Gegner solcher religiöser Demagogie und Halbheit sind, verlassen das Land und wandern nach dem Reiche Juda aus.

Das Bedürfnis, sich als selbständiger Staat zu behaupten, zwingt zu Auseinandersetzungen mit der Nachbarschaft. So werden Krieg und Politik identische Begriffe. Bedeutung für das Schicksal des Landes hat dabei nicht so sehr der König als vielmehr der Befehlshaber der Truppen. Er ist der eigentliche Träger der Macht. Ihm steht kein geheiligtes Königtum gegenüber, dem er seine Macht ehrfürchtig und gläubig unterordnet. Der König ist durch Revolte zum Regiment gekommen. So steht ihm die gleiche Möglichkeit offen.

Der erste, der aus solchen Erwägungen die Konsequenz zieht und die Reihe der Königsmörder und militärischen Usurpatoren eröffnet, ist Baasa (Baescha). Er tötet den Sohn Jerobeams und rottet das ganze junge Königshaus aus. Zwanzig Jahre später geschieht seinem Sohne dasselbe Schicksal durch Simri. Gegen ihn ruft das Heer den Feldherrn Omri aus, der zum Begründer einer unheilvollen Dynastie wird (932). Diese Dynastie zieht aus der neuen Entwicklung die Konsequenz. Sie zwingt das Volk zur Assimilisation. Das seit langem befreundete Phönizien wird Vorbild. Der zweite Omride, Ahab, nimmt die phönizische Prinzessin Isebel zur Frau. Nun wird die Nivellierung systematisch betrieben. Der Kult des Baal und der Astarte wird offiziell eingeführt. In den Tempeln wird phönizischer Gottesdienst abgehalten. Eine Schar phönizischer Priester und Propheten schwärmt über das Land. Phönizier siedeln sich an, vor allem in den Städten. Jeder Widerstand gegen 61 die religiöse Neuordnung wird grausam erstickt. Eine breite Schicht fremden Kultus und fremder Kultur lagert sich über das Land. Neue Sitten bürgern sich ein; neue Lebensformen entstehen aus der Belebung von Handel und Gewerbe; Reichtum, Üppigkeit und Luxus täuschen ein neues Phönizien vor.

In der damaligen Zeit hatten Lebensform und Glaubensform noch ihren tiefen inneren Zusammenhang. Darum ist es gerechtfertigt, Götzendienst und wüstes, zügelloses Leben zu identifizieren. Das taten auch diejenigen, die dieser Entwicklung der Dinge Widerstand entgegensetzten, aktiven und passiven. Der passive Widerstand ist verknüpft mit dem Namen des Jonadab ben Rechab und der nach ihm benannten Richtung der Rechabiten. Sie waren sozialethische Reaktionäre. Gegenüber der gefährlichen Entwicklung, die das Reich Samaria nahm, propagierten sie Schlichtheit der Lebenshaltung, Wohnen in Zeltdörfern, Ablehnung jedes Weingenusses, Verwerfung des Ackerbaus und Rückkehr zur patriarchalischen Haltung des Viehzüchters. Es war mehr ein Kampf gegen die Erscheinung als gegen ihre Gründe. Der dagegen gerichtete Widerstand sammelt sich in einer Persönlichkeit von geheimnisvollem Reiz: dem Propheten Elijahu (Elias). Er erkennt, daß es unter diesen neuen Lebensformen keine Entwicklung gibt, daß dieser religiöse Synkretismus keine Lebensmöglichkeit hat, daß dieser gesteigerte Luxus der Städte ein Verfallselement ist. Mit aller Leidenschaft erstrebt er die Vernichtung dieser Übelstände. Wie ein Sturm rast er durch das Land, predigt, rüttelt auf, droht, warnt, und ist wieder wie ein Sturm verschwunden, der Wüste zu, um von dort unversehens wieder zu neuem stoßweisen Wirken hervorzubrechen. Seine Losung umreißt zugleich seinen Charakter wie seine Idee: »Gott mit ganzer Kraft wie ein Sklave seinem Herrn dienen.« Er hat Anhänger, die sein asketisches, bedürfnisloses Dasein zum Muster nehmen und die Sekte der Nasiräer bilden. Er erwählt sich, ehe er vom Schauplatz abtritt und spurlos verschwindet, in 62 einem schlichten, großen Symbol seinen Nachfolger Elisa (Elischa). Er hinterläßt in ihm und den Nasiräern eine unfaßbare, unterirdische, sehr wirksame Organisation, die an dem Sturz der Dynastie Omri entscheidenden Anteil hat.

Unter dem letzten Omriden Jehoram ist die von Elijahu und Elischa gestreute Saat so weit gereift, daß ein neuer Feldherr und Usurpator sich als Anwärter auf den Thron präsentieren kann: Jehu. Wie seine Vorgänger rottet er die Mitglieder der Dynastie Omri aus. Er will sich der Prophetenpartei, die seine Ausrufung vorbereitet hatte, und insbesondere ihrem Führer Elischa erkenntlich zeigen.

Darum hebt er den Baalkult auf und veranstaltet unter den Baalspriestern ein grauenhaftes Morden. Damit verschwindet zugleich Phönizien von der Bildfläche des Reiches Samaria. Aber dieser an sich höchst wichtige Umstand vermag keine Wirkung mehr zu erzielen. Aus einem durch zahllose Kriege und ständige innere Wirren ausgeplünderten Volke sind geistige Erneuerungen nicht mehr durch Reformen von außen zu erwarten. Die einzige Blüte, die dieses in seiner Entwicklung gehemmte Volk noch aufbringen kann, ist das Nasiräertum, dieser passive, durch die Lebensführung bekundete Protest gegen das, was tief im Inneren als fremd, feindselig und abträglich empfunden wird. Auch daß einer der Jehuiden, Jerobeam II., das Land noch einmal zu einer Großmacht erhob, die ihr Herrschaftsgebiet vom Euphrat bis zum Toten Meer ausdehnte, blieb ohne Belang und Folge. Um so krasser trat im Inneren nur in Erscheinung, daß dieses Reich sich in nichts mehr von anderen orientalischen oder vorderasiatischen Reichen unterschied, weder in der Kultform noch in der Kultur, weder in seiner Politik noch in seinem sittlichen Denken. Das Korrelat dieser letzten politischen Blüte war das hemmungslose Aufbrechen einer fieberhaften, übersteigerten Genußsucht, die Aufdeckung tief eingerissener sozialer Ungerechtigkeiten und die endgültige Lähmung jeder Widerstandskraft. 63 Geld- und Getreidewucher, Schuldknechtschaft, Bestechlichkeit der Richter und Sittenlosigkeit der Priester sind an der Tagesordnung. Es gibt keine klare Orientierung mehr, weder zu Gott noch zur Welt hin. Es gibt nur noch den letzten grandiosen Protest gegen diese, dem Untergang geweihte Existenzform in den Erscheinungen der beiden Propheten Amos und Hosea. Über sie wird später zu sprechen sein. Ihre Wirkung in der Zeit konnte nur darin bestehen, den Rest derer, die nicht untergehen wollten, auf eine Rettungsmöglichkeit hinzuweisen.

Im übrigen vollzog sich das politische Schicksal unaufhaltsam. Während schon der Nachfolger Jerobeams II. seinen Königsmörder findet, und dieser wieder den seinigen, Menahem, tritt die Macht auf, deren Wachstum die Einsichtigen und die Propheten längst mit Sorge beobachtet hatten: Assyrien. Es war eine seelenlose Macht, eine Macht der Masse, der Eroberungen, deren wesentliche Hinterlassenschaft Inschriften mit prahlerischer Aufzählung zerstörter Städte, geraubter Werte und erschlagener und gefangener Menschen sind. Ihr Expansionsdrang entlädt sich nach Süden mit dem Ziel auf die andere Großmacht, Ägypten, und auf die Mittelmeerküste. Babylonien, Mesopotamien und der größte Teil Syriens werden unterworfen. Der Usurpator Menahem bietet freiwillig Geld und Untertanenschaft an, wenn der assyrische König Tiglat-Pileser ihn nur verschonen und ihn in seinem angemaßten Amt bestätigen will. Es ist der Beginn der Auflösung.

Während in Samaria ein Königsmörder den anderen ablöst, glauben sie noch hohe Politik spielen zu dürfen. Pekach beteiligt sich an einem Bündnis Damaskus-Tyrus-Sidon gegen die Großmacht Ninive. Jetzt schlägt Tiglat-Pileser zu. Die aramäischen Fürstentümer werden überrannt. Galiläa und ganz Gilead werden zu Damaskus geschlagen. Samaria verliert damit die Hälfte seines Gebietes und zugleich die Hälfte seiner Bevölkerung. Sie wird in die Gefangenschaft geführt und irgendwo angesiedelt, verstreut, der Auflösung und dem 64 Untergang preisgegeben. Ein kleiner Vasallenstaat bleibt zurück, angefüllt mit Untergangsstimmung, wild aufgerissen von Morden, Lastern, Verzweiflungen. Sie versuchen einen letzten Widerstand, knüpfen heimliche Beziehungen zu Ägypten an, kündigen den Tribut. Von ihrem erhofften Bundesgenossen im Stich gelassen, trifft Salmanassars V. Angriff sie tödlich. Nur die Hauptstadt Samaria kann sich noch drei Jahre gegen eine Belagerung halten (721–719). Dann wird sie von Sargon eingenommen. Von neuem werden Tausende in die Gefangenschaft gebracht. In den entvölkerten Städten werden Assyrer, Babylonier und Aramäer angesiedelt. Ein geringer Teil Bauern bleibt unter einem Statthalter zurück. Nach einem Jahre, nach einem neuen Aufstandsversuch, werden auch sie verschleppt. Der Rest flüchtet in das Reich Juda.

Sie hatten seit Jahrhunderten in einer Situation gelebt, die Entscheidung verlangte. Dieser Entscheidung waren sie ausgewichen. Damit hörte ihre innere Existenzberechtigung als Sondervolk auf. Das Schicksal sandte ihnen einen Vollstrecker, der sie wieder zu ihrem Ausgangsland zurückführte. Als Kern von dort herausgegangen, kehrten sie zurück als Einsprengsel, als Staub, der nicht mehr nachweisbar ist; so wie im Wirken der Natur der élan vital den mißlungenen Versuch sich selbst und dem Untergang überläßt. So fremd waren diese Menschen einer abgesonderten Entwicklung ihren Stammesbrüdern im Süden schon geworden, daß die Chronik von ihrem Untergang nur kurze, sachliche Notiz nimmt, ohne Klagelied, ohne Heldenepos und ohne Teilnahme.

 


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