Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Dritter Teil

Von der Vertreibung aus Palästina bis zur Besiedlung des Abendlandes

 

Das bewegliche Zentrum

Unmittelbar vor dem Augenblick, in dem die größte Nation der damaligen Welt sich gegen die kleinste zum entscheidenden Sturm rüstete, verließen zwei Gruppen von Menschen Jerusalem. Die eine, die nach ihrer Aussage auf göttlichen Befehl handelte, bestand aus Anhängern des Jeschu von Nazareth. Sie überließ ihr Volk seinem Schicksal. Die andere, einige Menschen aus der Gruppe der »Friedfertigen«, Lehrer, Gelehrte und Erzieher, begab sich nach Jabne. Sie nahmen das Schicksal ihres Volkes auf sich, um es in die Jahrhunderte hinein zu verantworten. Während in Rom dem Titus ein Triumphbogen gebaut wurde, der die Inschrift trug: »Der Senat und das römische Volk dem Imperator Titus . . . zum Dank dafür, daß er . . . das jüdische Volk unterwarf und die Stadt Jerusalem zerstört hat, die alle Feldherren, Könige und Völker früherer Zeiten vergeblich angegriffen haben« – zur selben Zeit errichtete Jochanan ben Sakkai unter Mitwirkung seiner Anhänger in Jabne die zentrale Körperschaft für die Verwaltung und Leitung des jüdischen Volkes.

Wenn sonst Völker in einem solchen Umfange besiegt werden, wie das hier geschehen war, gehen sie unter. Das jüdische Volk ist nicht untergegangen. Es hatte schon 500 Jahre zuvor die Energie kennengelernt, die eine Erhaltung möglich macht: den Geist. Dieser Geist band sich wohl an die Wirklichkeit, aber nicht an Tatsachen. Den Umtausch der Funktionen hatten sie schon im babylonischen Exil kennengelernt. Sie nahmen ihn auch jetzt vor.

Zwar die Christen triumphierten laut und sahen in dem Fall Jerusalems einen Beweis dafür, daß die Rolle des jüdischen Volkes ausgespielt sei. Die Juden-Christen setzten sofort mit verstärkter Propaganda ein, weil ihnen doch mindestens das schlichte Volk jetzt zufallen mußte. Aber sie verstanden nicht, was hier vorging. Sie verwechselten das Ende des 266 Nationalstaates mit dem Ende eines Volkes, dem der Staat zwar eine wesentliche Form, aber kein unentbehrlicher Inhalt war. Und so wie der Staat preisgegeben werden konnte, konnte auch der Tempel preisgegeben werden. Seine Existenz war für die religiöse Erlösung des Volkes nicht nötig. Das babylonische Exil hatte es bewiesen; die Propheten hatten es bewiesen; und jetzt beweisen es Jochanan ben Sakkai und sein Kreis zum dritten Male.

Als Erstes wird in Jabne ein Beth-din geschaffen, eine Institution, der die Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung untersteht und die in dieser neuen Fassung nichts anderes ist als das bisherige Synhedrion. Daneben – und in engem Zusammenhang – entsteht das Beth-ha-midrasch, die Akademie, als Ersatz und Zusammenfassung der bisherigen Schulen. Diese beiden Institute gehören auch begrifflich zusammen. Die Juden haben noch auf nichts verzichtet, und da sie nach wie vor aus dem Geiste der Thora leben wollen, müssen sie auch von daher die Ordnung ihres Tages, ihres Zusammenlebens und ihrer Beziehung zur Umwelt regulieren. Ihr Staat ist zerstört, aber sie rücken sofort diejenige Kraft in den Vordergrund, welche als Idee jedem Staat zugrunde liegt: die auf Übereinkunft beruhende, verpflichtende Kraft des Gesetzes. Solche Gesetze gewinnen ungewöhnlich an Lebenskraft, wenn sie ohne jedes Machtmittel dennoch als verpflichtend anerkannt werden. Die überwiegende Mehrheit des jüdischen Volkes hat durch viele Jahrhunderte und bis in die Gegenwart hinein einem Gesetz gehorcht, nicht, weil es ihm gehorchen mußte, sondern weil es ihm gehorchen wollte.

Gesetze binden nicht nur, sie uniformieren auch. Das war unvermeidlich. Das jüdische Volk mußte den Tod des Kollektivums Staat mit der Uniformierung im Verhalten der Einzelpersönlichkeit beantworten, mit dem Generalangriff auf das Individuum, den Träger der christlichen Jenseitslehre. So wurden die Juden zu einem Volke, in dem der Begriff Disziplin 267 seine höchste Auswirkung erlangte. Diese Disziplin war starr bis zur Tödlichkeit, was den Einzelnen anlangt, und zugleich, was das Gesamt angeht, von einer erstaunlichen Flexibilität. Das Gesetz schuf nach außen eine unbesiegbare Mauer. Jenseits dieser Mauer konnte neben dem sublimen Glauben selbst der Aberglaube gedeihen.

Die erste Aufgabe dieser neuen Selbstverwaltung bestand darin, den Bestand an Menschen zusammenzuhalten und ihn gegen jede Gefährdung abzuschließen. In diesem Bestreben ging man dazu über, sich nach Möglichkeit Proselyten fernzuhalten. Man wollte weder mit ihrer Assimilierung Energie verschwenden, noch sich der Gefahr aussetzen, daß die Übergetretenen mit ihren Resten heidnischer Anschauung Verwirrung schufen. Verwirrung war auch von den Juden-Christen zu befürchten, und darum wurde der Trennungsstrich zwischen ihnen und dem Judentum schärfer und schärfer gezogen; bis es dem Juden verboten war, von ihnen Fleisch, Wein oder Brot zu kaufen, mit ihnen Geschäfte zu tätigen oder ihnen auch nur den geringsten Dienst zu leisten.

Dieses der Absonderung zugeführte Dasein enthält nun aus der Autorität von Jabne für jeden einzelnen Tag und für das gesamte Jahr zwei Zäsuren von einschneidender Bedeutung: die Gebetsordnung für den Tag und die Festzeiten für das Jahr. Für den Tempelritus, der dahin war, wurde die Formel des Gebetes gesetzt. Es war dreimal täglich in den gleichen Stunden zu sagen, in denen einst der Tempelgottesdienst stattgefunden hatte. Das Jahr hingegen bekam seine Gliederung durch die Feste, und da sie je nach ihrem Charakter gemäß dem Stand der Sonne oder des Mondes, nach Sonnenjahren oder nach Mondjahren bestimmt und angesetzt wurden, übernimmt fortan zur einheitlichen Regelung für die Judenschaft der ganzen Welt das Beth-din zu Jabne diese Aufgabe.

So wie der Bestand des Volkes gesammelt und gebunden wurde, mußte auch die Norm gesammelt und gebunden 268 werden, nach der sein Dasein fortan zu regeln war. Es gab – außer der Thora – kein geschriebenes Gesetz. Was das Leben, der Alltag, besondere Umstände und Einzelfälle an gesetzgeberischer Materie, an Verordnungen, Bestimmungen und Anweisungen auf jeglichem Lebensgebiet erzeugt hatten, lebte im Gedächtnis und wurde von der Theorie auf die Praxis und vom Lehrer auf den Schüler übertragen. Respekt vor der Heiligkeit des geschriebenen Thorawortes hinderte die schriftliche Fixierung der nur aus ihnen abgeleiteten Gesetze. Schon jetzt war dieser Stoff beträchtlich und kaum noch zu übersehen. Manches war auch überlebt oder nicht mehr anwendbar. Aber da der alte Streit der Lehrmeinungen zwischen den Richtungen eines Hillel und eines Schammai auch im Lehrhaus von Jabne weiterlebte – als sei nie inzwischen ein mörderisches Geschick über das Volk hereingebrochen – herrschte darüber keine Einstimmigkeit. Einstimmigkeit mußte aber unter allen Umständen erreicht werden, wenn nicht ein über die ganze damalige Kulturwelt zerstreutes Volk hoffnungslos der Willkür und dem Separatismus verfallen sollte. Also wurde zur Abstimmung geschritten. Erhielt ein Gesetz die Majorität, so galt es. Opponenten drohte der Bann (Nidduj), die Ausstoßung aus der Gemeinschaft für bestimmte Zeit.

Man sollte meinen, daß mit solcher Maßnahme ein starrer und unabänderlicher Kodex geschaffen wäre, der fortan jede gesetzgeberische Arbeit entbehrlich machte. Das Gegenteil war der Fall. Auch die Summe der Gesetze stellte eine Weisung, eine »Thora« dar, und scheute man sich gleich, sie aufzuzeichnen, so trug sie doch um ihrer Ableitung willen nicht minder heiligen Charakter und stand neben der schriftlichen als die »mündliche Thora«. In dem Augenblick, in dem dieser Begriff zu einer festen Bildung gelangt war, begann die Eigenlebigkeit des mündlichen Gesetzes. Wie einst die Thora Quelle der Ableitungen geworden war, wurde jetzt die mündliche Lehre, die Mischna, Quelle neuer Ableitungen. Damit bahnt sich eine 269 Eigenart an, die dem Geistesleben des Juden für mehr als ein Jahrtausend eine unvertilgbare Prägung gab. Die Thora, als sittliche Grundnorm, konnte Gesetze aus sich entlassen. Das Gesetz, das schon einen realen Tatbestand brauchte, um existieren zu können, mußte sich notwendig mit einem möglichen, gedachten, hypothetischen Tatbestand behelfen, wenn man aus ihm weiterhin etwas ableiten wollte. So entstanden Gesetze als Selbstzweck; so entstand das ernsthafte Spiel mit der Möglichkeit; so entstand die talmudische Methodik, noch ehe der Talmud selbst sich geformt hatte.

Nach dieser Bindung und Umschließung von Volk und Gesetz blieb noch ein Letztes und Entscheidendes zu tun übrig: der rückwärtigsten Quelle eine eherne Fassung zu geben; zu bestimmen, was Heilige Schrift sei und was nicht; den Kanon für alle Zeiten festzulegen. Nach zwei Seiten war abzugrenzen: gegen das eigene jüdische Schrifttum und gegen das neu entstehende christliche Schrifttum. Auf beiden Gebieten hatte die religiöse Erregtheit der Zeit Schriften über Schriften zutage gebracht. Besonders im christlichen Bezirk wuchs die Literatur in einem ungewöhnlichen Maße. Der Heide hatte vom Judentum neben vielem anderen noch eine wichtige Erbschaft übernommen: das Buch. Zum erstenmal bekommt er jetzt Schriften in die Hand über das, was seinen seelischen Bezirk angeht. Sein Drang zur Werbung und Mitteilung, von Paulus zum erstenmal in ein System gebracht, überschlägt sich in der Produktion zahlloser Briefe, Schriften, Offenbarungen und Evangelien. Es wird in Hebräisch, Griechisch und Syrisch geschrieben. Es entstehen mehr als 40 Evangelien, ein besonderes für jede Sekte; es wird im Namen Adams geschrieben, im Namen des Enoch, des Mosche, der Erzväter, des Jesaja. Die Psalmen Dawids werden nachgeahmt, und es werden die undenkbarsten Namen erfunden, um mit diesen ein Schriftwerk zu decken und ihm Autorität zu verleihen. Selbst die Thora in ihrer griechischen Übersetzung, die Septuaginta, wurde in dem Bestreben, möglichst 270 viele Beweise für das Erscheinen und das Amt Jesu zu erbringen, ohne Bedenken in einer ganzen Reihe von Stellen gefälscht. Alle diese Schriften, unter welchem Deckmantel sie auch erschienen und welchen Grad der Altehrwürdigkeit sie sich auch beilegten, mußten ein für allemal aus der Nähe des jüdischen Schrifttums entfernt werden.

Mit gleicher Strenge wurde gegen jedes jüdische Schrifterzeugnis verfahren, das in der Ideenführung nur im geringsten vom klaren Monotheismus abwich und nur die geringsten Spuren jenes Synkretismus aufwies, der für das christliche Schrifttum charakteristisch war. Es schützte eine Schrift nicht, daß sie mit tiefstem Ernst und aus der tiefsten Gläubigkeit nachspürte, aus welchem Grundgedanken des Judentums, aus welcher Verheißung oder welcher Verfehlung sich das Schicksal des jüdischen Volkes bestimmen lasse und was demnach am »Ende der Zeiten« stehen müsse. Solche Werke, ausgesprochene Apokalypsen, entstehen zahlreich. Aber auch die besten von ihnen, »Das vierte Buch Esra« und die »Apokalypse des Baruch«, beide weit grandioser als die »Offenbarung des Johannes«, hatten außerhalb zu bleiben. Das gleiche Schicksal erfuhren weit ältere Werke, wie die »Psalmen Salomos«, die »Weisheit des Ben Sira«, das »Erste Makkabäer-Buch« und andere. Der Kanon wurde – anfangs des II. Jahrhunderts – so festgelegt, wie er noch heute seine Gültigkeit hat.

Damit war der Mittelpunkt eines Kreises unverrückbar festgelegt und der Kreis selbst als Gesetz, als Umzäunung, geschlossen. Der Jude nahm die Uniformierung durch das Gesetz auf sich; aber dort, wo es nicht seine Existenz betraf, sondern sein Gemüt berührte, schuf er sich ein Ventil: den mystischen Messianismus als Denkweise und die Haggada als Sagweise. Es ist, als wollte die Volksseele, ehe sie sich von neuem einem schweren Dasein auslieferte, noch einmal Umschau halten und sich Gewißheit darüber verschaffen, wo dieser Weg des Leidens endete, wann und in welcher Form die Erlösung komme, und, 271 wenn die Erlösung nicht mehr zu ihren Lebzeiten kommen sollte – was den Einzelnen nach seinem Tode erwartete.

Die empfindsame und dichtende Volksseele war da völlig sich selbst überlassen. Das offizielle Judentum weigerte sich – im Gegensatz zum Christentum – entschieden, diese Dinge aus dem Umkreis des messianischen Zeitalters, der kommenden Welt, der Wiederauferstehung der Toten, der Vergeltung im Jenseits zu einem Dogma erstarren zu lassen. Das widersprach dem Gedanken der Theokratie, denn Theokratie ist in erster Linie Erfüllung, und erst auf diesem Wege Erlösung. So durfte das Volk jenseits von gelehrtem Wissen und Glaubenszwang forschen und dichten. Darum hielt es auch keine Ordnung in der Aufeinanderfolge von messianischer Zeit und jenseitiger Welt. Aber an Schwermut und Untergangsstimmung der Zeit und ihres Schicksals nahmen sie auf, was ihnen gerade erreichbar war. Aus der ständigen Nachbarschaft einer Unzahl werbender und predigender christlicher Sekten sickerten Vorstellungen von Hölle, Jüngstem Gericht und Fegefeuer in ihre Gedankenwelt. Ihre eigenen Leiden übertrugen sie auf die »Leiden der letzten Zeiten«. Resignation breitet sich über das Weltbild. »Denn die Schöpfung wird schon alt und ist über die Jugendkraft schon hinaus.« Aus gleicher Stimmung der Resignation tun sie auch das, was das paulinische Christentum hat tun müssen, als Jesu Voraussage von der Nähe der Erlösung sich nicht erfüllte: sie schalten Verzögerungen ein, um an ihrem eigenen Glauben nicht ungläubig werden zu müssen. So entsteht der Messias aus dem Hause Joseph, der dem Messias ben Dawid vorangehen muß, der gegen Gog und Magog, die Feinde des jüdischen Volkes, kämpft, der in diesem Kampfe fällt, aber eben dadurch dem Dawidischen Messias den Weg zur Wirksamkeit öffnet. Doch dichten sie in alle Verzögerung noch ein Stück Wirklichkeitsnähe hinein: der Messias ist schon da. Unter Bettlern und Aussätzigen hockt er vor den Toren Roms und wartet auf seine Stunde. Oder sie verweisen ihn – 272 überzeitlich – in den Himmel, wo er alle Leiden seines Volkes mitleidet und wartet, bis das Maß voll ist.

So kommt neben der Unerbittlichkeit der Gesetzeswelt auch der mystische Bezirk zu seinem Recht. Neben das Gesetz, die Halacha, stellt sich die Meinung, das Fühlen und Glauben, das Visionäre und das Legendäre, das Erdichtete und das Abergläubische: die Haggada. Aber alle mystische Ausweitung der messianischen Idee war noch nicht in der Lage, den starken politischen Kern zu zerstören, der darin lag. Immer wieder geht es um die Idee, daß in der kommenden Zeit die Herrschaft Roms durch die Herrschaft Judäas abgelöst werde, das Regiment der Gewalt durch die Herrschaft des Rechts. Rom war ihnen der Inbegriff dessen, was aus der Welt verschwinden müsse. Gegen Rom und seine Devise: arma et leges, richteten sie einen unmenschlichen Haß. Rom hatte leges, Gesetze, wie sie selbst. Aber in diesem Gleichen lag das Trennende; denn diese leges waren nur die Nutzanwendung der arma, der Waffen; sie komplettierten nur eine Formel, die jeder Servilität so imponierend erschien. Aber auch losgelöst von den Waffen waren diese leges leere Formeln, die mit Gerechtigkeit statt mit juristischem Recht zu füllen kein Mensch aufstand.

Dieser Widerstand, diese Selbstbehauptung gegen Rom fand eine letzte, wenn auch schwache Stütze in der politischen Selbstverwaltung, die sie in wenigen Jahren mit zäher Arbeit aufbauten. Judäa war eine unterworfene Provinz, aber die Juden blieben als Nation bestehen und anerkannt. So schufen sie sich in der Person des Patriarchen die offizielle Vertretung gegenüber der Außenwelt, insbesondere gegenüber Rom. Es war die Fiktion einer staatlichen Repräsentanz, eine Fiktion, die so weit ging, daß sogar noch die Gesetze über die Heiligkeit des Bodens beibehalten wurden, als gehöre ihnen das Staatsgebiet noch wie früher. Aber so viel Lebenskraft ruhte doch in dieser Institution, daß sie die Energie für noch eine, für die letzte und verzweifelte Revolte gegen Rom, für den letzten Versuch der 273 Rückeroberung nationaler Freiheit erzeugen und zusammenraffen konnte.

In der Gestalt des Rabbi Akiba erwuchs der Nation der zugleich geistige und politische Sammler. Er war Gelehrter großen Formats, der erste Ordner der mündlichen Lehre; er war aber auch ein großer Hoffender, der den nationalen Impuls seines Volkes für noch nicht beendet hielt und neben den Gelehrten insgeheim die Empörer um sich versammelte und an sich band. Empörer aber war jeder, der die römische Bedrückung unerträglich fand; und das war jetzt das ganze Volk, und zwar nicht nur in Palästina, sondern auch in der Diaspora. Für Palästina genügte zu einem unaufhörlichen Widerstand die Tatsache, daß die bisherige Tempelsteuer unter der neuen Bezeichnung Fiscus Judaicus jetzt für den Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom eingezogen wurde; und für die Diaspora war Rom das Volk, das den Tempel zerstört und den Verstreuten die Wallfahrt nach Jerusalem genommen hatte. Nimmt man hinzu, was über den allgemeinen geistigen Gegensatz zwischen Rom und Judäa gesagt worden ist, so wird begreiflich, daß die gesamte jüdische Welt in einen Paroxismus des Widerstandes ausbrach, als Rom seine Hand nach demjenigen Teil der Diaspora ausstreckte, der bislang von ihm verschont geblieben war.

Das geschah unter Trajan, der ein anderer Alexander sein wollte, dem aber dafür sowohl die Persönlichkeit wie die Idee fehlte. Im Jahre 114 begann er seinen Angriff auf Asien und besetzte im folgenden Jahre das nördliche Mesopotamien und das dicht mit Juden besiedelte Reich Adiabene. Schon hier stieß er auf den Widerstand der Juden. Er griff weiter nach Babylonien über, um hier erneut, insbesondere in den Provinzen Nisibis und Nehardea, auf Juden zu stoßen, für die der Widerstand gegen Rom den Charakter eines heiligen Kampfes trug. Sie riefen zum allgemeinen Aufstand auf. Im Rücken der römischen Truppen revoltiert Adiabene und zwingt Trajan, seine Eroberung von neuem zu beginnen. Er hat sie noch nicht 274 beendet, da ist von Mesopotamien aus der Aufruhr schon übergesprungen nach Palästina, nach Ägypten, nach Libyen, nach der Cyrenaika und bis auf die Insel Cypern. Das geschieht mit einer unheimlichen Schnelligkeit und Präzision, so daß an einer einheitlichen Führung nicht zu zweifeln ist, mindestens nicht an einer völlig einheitlichen Grundstimmung. Aber im Rasen dieses Aufruhrs verliert sich plötzlich die Idee eines Freiheitskampfes gegen Rom, und es explodiert eine Welt von Haß und Rache und Abwehr und Verzweiflung gegen das ihnen Feindliche überhaupt, gegen das Heidentum schlechthin. Der ganze jüdische Orient tobt wie in letzten Todeszuckungen gegen Römer, Griechen und Hellenisierte. Eine unmenschliche und barbarische Schlächterei setzt ein, ein Morden von Stadtvierteln, Städten und Landschaften gegeneinander. Noch einmal besiegen die Juden ein römisches Heer unter dem Feldherrn Lupus. Sie machen die Stadt Salamis zu einem Trümmerhaufen. Sie sollen in der Cyrenaika und auf Cypern je über 100 000 Römer und Griechen erschlagen und Libyen so dezimiert haben, daß es von neuem besiedelt werden mußte.

In diesem sinnlosen und hoffnungslosen Aufstand wurde zum letztenmal sichtbar, wie tief sich die unaufhörlichen Angriffe einer Welt, die Angriffe von Ägyptern, Assyrern, Babyloniern, Persern, Griechen und Römern in die jüdische Volksseele mit dem fanatischen Willen zur Selbsterhaltung eingenistet hatten. Aber sie lieferten sich nur einen neuen Beweis, daß sie das Mittel der anderen: die Gewalt, nicht benützen durften. Trajan antwortete ihnen durch die Entsendung römischer Armeen nach Afrika und Asien. Die ägyptische Diaspora empfing ihren Todesstreich. Sie verkümmerte, nachdem die Soldaten des Martius Turbo ihre Arbeit dort verrichtet hatten. Auf Cypern blieb kein Jude am Leben. Lucius Quietus schlug den Aufstand in Asien mit zahllosen Opfern nieder (117).

Quietus ist im Begriff, auch Palästina zu unterdrücken. Da stirbt Trajan. Sofort versucht eine Reihe von Provinzen sich 275 frei zu machen. Hadrian, der Nachfolger, sucht auf dem Wege der Verständigung und des scheinbaren Nachgebens zum Ziele zu kommen. Auch mit den Juden wird verhandelt. Er stellt ihnen den Wiederaufbau Jerusalems, die Wiederherstellung eines Tempels in Aussicht. Da strecken sie die Waffen. Aber Hadrian ist Römer. Er läßt den Bau der Stadt beginnen; doch ist bald ersichtlich, daß diese neue Stadt eine rein heidnische und keine jüdische werden soll. Es gährt im Volke. Die Erbitterung wächst. Im Jahre 131 kommt Hadrian selbst nach Palästina, und nun enthüllt er seine Absicht: das neue Jerusalem soll ein Zentrum römischer Kultur im Orient werden, zwar mit einem Tempel, aber mit einem Jupitertempel. Wie er das Land verlassen hat, tauchen sogleich im ganzen judäischen Gebiet bewaffnete Scharen auf. Sie greifen die römische Besatzung einzeln und in schwierigem Gelände an. Sie sind nicht zu fassen, weichen jeder Truppenverstärkung elastisch aus und reiben sie im Kleinkrieg auf.

Rabbi Akiba wird der geistige Leiter dieser Erhebung. Er organisiert überall, ist überall auf Reisen, bis nach Parthien hin. Jede Stadt mit Mauern, jeder Schlupfwinkel im Gebirge verwandelt sich in eine Festung. Es sind plötzlich in dem besiegten und entwaffneten Lande Waffen, Nahrungsmittel, Verbindungswege vorhanden. Von weit her aus der Diaspora strömen kriegstaugliche Männer zum letzten Kampfe gegen Rom. Und neben dem geistigen Organisator steht plötzlich der militärische, durch die Autorität des Rabbi Akiba erwählt und vom Volke aufgenommen: Bar Kosiba, den das Volk den Sternensohn, Bar Kochba nennt. Seine Armee betrug nach jüdischen Quellen 400 000 Mann, nach Angabe des Dio Cassius sogar 580 000 Mann.

Bar Kochba schlägt los, ehe Rom noch den Umfang der Erhebung begriffen hatte. Der Feldherr Tinnius Rufus, ein Menschenschlächter, wird überrannt. Neue Verstärkungen können nichts aufhalten. Auch die Hilfe des syrischen Statthalters ist 276 unwirksam. Binnen Jahresfrist hat Bar Kochba in Samaria und Judäa über 50 feste Plätze und 985 Ortschaften und Städte erobert, darunter Jerusalem.

Da muß Hadrian sich dazu entschließen, seinen größten Feldherrn, den Bezwinger Britanniens: Julius Severus, mit einer großen Armee nach Judäa zu entsenden. Severus wagt keine offene Schlacht. Er reibt unter unendlichen römischen Opfern nach und nach die einzelnen Abteilungen auf. Er braucht für dieses winzige Land drei und ein halbes Jahr Krieg und mehr als 50 Schlachten, um endlich den Führer Bar Kochba mit dem Rest seiner Mannschaft in Bethar einzuschließen. Ein volles Jahr belagert er die Festung. Sie fällt endlich durch den Verrat von Samaritanern im Jahre 135. Das Gemetzel, das der Sieger veranstaltet, ist selbst nach römischen Begriffen grauenhaft. Dio Cassius gibt die Zahl der Gefallenen auf über eine halbe Million an.

Ihre eigenen Verluste haben die Römer verschwiegen. Wie Hadrian dem Senat von der Beendigung dieses Krieges Nachricht gibt, wagt er nicht, die in solchem Falle traditionelle Formel zu gebrauchen: »Ich und das Heer befinden uns wohl.« Aber er wird zu Ehren dieses Sieges zum zweiten Mal zum Imperator ernannt.

Ein gewaltiger Auswanderungsstrom setzt ein. Das Land verödet zusehends. Der Rest versprengter Krieger wird in mählicher Arbeit aufgerieben. Aber auch gegen die, die nicht mehr Waffen tragen, führt Hadrian Krieg; Krieg im Sinne des Antiochus Epiphanes. Er erkennt sehr richtig, daß diese ewige Kampfbereitschaft der Juden nicht Ergebnis eines imperialistischen Machtwillens ist, sondern die Reaktion einer Idee auf feindliche Angriffe. Darum setzt er sich das Ziel, die Idee abzutöten. Er vollendet die heidnische Stadt Aelia Capitolina, mit einem Jupitertempel, mit Götterbildern, Theater und Zirkus, und besiedelt sie mit Römern, Griechen und Syrern. Den Juden wird die Ausübung ihres Kultes, insbesondere die 277 Beschneidung, das Halten der Sabbatruhe und die Beschäftigung mit dem jüdischen Gesetz bei Todesstrafe verboten. Tinnius Rufus, ein unfähiger Feldherr, aber ein fähiger Menschenschinder, wird zur Aufsicht bestellt. Seine Spitzel durchsetzen das ganze Land und führen zahllose Menschen zum Martertod, darunter Rabbi Akiba. In dieser Zeit fassen die jüdischen Gelehrten in geheimer Versammlung zu Lydda folgenden Beschluß: ein Jude darf – wenn auch nur zum Scheine – sein Judentum verleugnen, wenn es unter Bedrohung mit dem Tode von ihm verlangt wird. Aber in drei Fällen ist er verpflichtet, den Märtyrertod auf sich zu nehmen: wenn man Götzendienst, Unzucht oder Mord von ihm verlangt. Diesem Gesetz hat späterhin das Christentum durch Jahrhunderte zu einer schauerlichen Aktualität je und je verholfen.

Mit der Aufhebung der Hadrianischen Edikte durch seinen Nachfolger Antonius Pius setzt das jüdische Leben sofort mit dem gleichen Rhythmus wieder ein, den der Befreiungsversuch unterbrochen hatte. Sie waren zwar bereit, die Arbeit der geistigen Verankerung sofort zu unterbrechen, wie sich auch nur ein Schatten der Möglichkeit bot, die staatliche Wirklichkeit durch einen Aufstand wiederherzustellen; aber nach dem gescheiterten Versuch sind sofort wieder die verantwortlichen Führer da und nehmen das Geschick ihres Volkes in die Hände.

Der Süden des Landes, das ehemalige Judäa, war von den Juden verlassen. Soweit sie nicht ausgewandert waren, hatten sie sich im Norden, in Galiläa konzentriert. Dort finden sich auch die geflüchteten oder vertriebenen Lehrer und Gelehrten ein. In der galiläischen Stadt Uscha bilden sie ein neues Synhedrion und stellen das Patriarchat wieder her. So überragend ist die Autorität, die man dieser Institution freiwillig zuerkennt, daß die babylonischen Juden ihr eigenes Patriarchat, das sie sich während des Bar-Kochba-Krieges geschaffen hatten, auf Verlangen von Uscha ohne Widerspruch auflösen. Die Judenschaft Palästinas war zwar die geringste, aber sie wohnte 278 in der historischen Heimat, und aus ihnen war die Regierung hervorgegangen. Sie respektierten diese Regierung fast noch mehr als früher ihre Könige. Die vergaßen sie überschnell. Nicht einmal in ihren Sagen verschwendeten sie einen Gedanken daran. Sie bewahren sich überhaupt mit einer leidenschaftlichen Unbedingtheit ihre selbständige Auffassung von dem, was sie unter Geschichte verstehen: den Versuch, ihre eigene Idee zu realisieren. Nur aus diesem Gesichtspunkt kann verstanden werden, daß sie nach dem Scheitern aller politischen und militärischen Aktionen sich nicht nur völlig auf ihr inneres geistiges Leben beschränken, sondern von den äußeren Vorgängen keine Notiz nehmen. Es ist sehr bedeutsam, daß von dieser Zeit an, vom II. Jahrhundert bis in das XI. Jahrhundert hinein, fast nichts an jüdisch-historischen Quellen vorhanden ist und selbst die Chronologie kümmerlich und unzuverlässig ist. Das beruht nicht darauf – wie manche Historiker meinen – daß sie nun plötzlich nicht mehr imstande gewesen wären, Geschichte zu schreiben, oder daß sie nichts mehr an äußerer Geschichte erlebt hätten. Sie hatten weit mehr als jedes andere Volk zu erleben. Aber sie entziehen sich geflissentlich der Kenntnisnahme der äußeren Vorgänge. Sie erledigen sie, ohne sie der Aufzeichnung für wert zu halten, einfach durch die praktische Unterordnung unter die jeweils gegebenen Verhältnisse. Ein Volk weigert sich hier, Geschichte zu notieren, die nicht seine eigene ist und die ihm von außen her diktiert und aufgezwungen wird.

Diese Idee läßt sich bis in jede Einzelheit verfolgen und leitet zu einer Gesetzmäßigkeit über: die jüdische Geschichte wird nach der endgültigen Vernichtung der Staatlichkeit von der jeweiligen Umgebung abhängig; aber die Gestaltung nach innen hin bleibt selbständig. Folglich treten in der jüdischen Geschichte fortan doppelte Zäsuren ein: materiell-geschichtliche und geistes-geschichtliche; äußere und innere. Sie fallen zuweilen zusammen, meistens aber nicht. 279

So setzt also die palästinensische Judenschaft ihre Linie der inneren Entwicklung gleichmäßig fort. Die äußeren Umstände lassen ihnen dafür 200 Jahre Ruhe. Sie benützen sie zur erneuten Ordnung und Prüfung der mündlichen Lehre. Die Tradition, nichts davon aufzuzeichnen, mußte aber der Unmöglichkeit weichen, diese Unsumme von Stoff dem Gedächtnis anzuvertrauen. Zu Beginn des III. Jahrhunderts faßt Jehuda ha Nassi, zugleich Patriarch, Vorsitzender der Synhedrions und Leiter der Akademie, alles Material zu einer großen Enzyklopädie zusammen, der bis auf uns gelangten Mischna. Sie war kein Gesetzbuch, sondern ein Sammelwerk, nicht Kodex, sondern Studienmaterial, das auch nicht mehr gültige Gesetze enthielt. Erst viel spätere Zeiten haben in dem Bestreben, sich immer mehr nach rückwärts zu verankern, diesem Werk kanonische Heiligkeit beigelegt.

In dem Maße, in dem das Gesetz den Juden Halt nach innen gab, wurden sie frei, die Vorgänge in der Welt zu betrachten und zu beurteilen. Dort herrschten chaotische Zustände. Schon jetzt standen drei Glaubensformen deutlich nebeneinander: Judentum, Heidentum und Christentum. Während das Judentum sich abgrenzte und immer restriktiver wurde, zerflatterten Heidentum und Christentum in eine Unzahl von Richtungen, Kulten, Sekten. In Rom begann schon mit Commodus der Verfall der kaiserlichen Autorität, und immer erneut bringen die Legionen ihre Männer zur Herrschaft. Damit wird allen heidnischen Kulten des Orients ein Weg nach Rom geöffnet. Alle Mischformen des Heidentums gelangen da zur Entfaltung, so wie auf dem Boden des jungen Christentums zahlreiche Sekten entstanden. In der Zwischenschicht aller drei Glaubensformen standen die Gnostiker, Menschen stärkster religiöser Unruhe aus allen drei Religionswelten, die das Wesen Gottes und seiner Beziehung zu Welt und Dasein ergründen wollten und denen es – so nahe den heidnischen Kulten – nicht anders gelingen wollte als durch das Zerbrechen des einheitlichen 280 Gottesbegriffes in einen Dualismus. Aber Christentum und Heidentum hatten auf dieser Stufe der Entwicklung eines gemeinsam, was ihre spätere Annäherung und Verschmelzung begünstigte: den religiösen Synkretismus. Einstweilen befeindeten sie sich noch, bis durch den Übertritt eines einzelnen Menschen, des Kaisers Constantin, dem jungen Christentum ein Danaergeschenk von schicksalhaftem Ausmaß zufiel: die staatliche Gewalt.

Für die Juden standen die heiden-christlichen Sekten von allem Anfang an außerhalb ihrer Interessen und ihrer Gesetzgebung. Nur die Juden-Christen, die Minäer (Ketzer) konnten sie aus ihren Reihen ausschließen und sie mit einer Gebetsformel verwünschen, da sie sich nach Art der Renegaten gern als Angeber für die Spione des Hadrian hergaben. Aber auch ohne eigenes Dazutun riß die Kluft zwischen Judentum und Christentum immer weiter auf. Die synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus, Lukas) hatten die Erbschaft des Paulus angetreten, und in dem »Brief an die Hebräer«, der zu Beginn des 2. Jahrhunderts in Italien entstand, kam die neue Note in die Auseinandersetzung hinein: die Polemik.

Das junge Christentum brauchte Bestätigung, folglich die Polemik; und da es sich in einer Welt des Aberglaubens durchsetzen wollte, erhob es auch gegen das theophorische Volk den Anwurf, sein Glaube sei ein Aberglaube. (Hier zieht die Kulturgeschichte eine Grimasse.) Es waren gerade die Juden, die dem Christentum die Vermenschlichung der Gottheit als Gotteslästerung und als Vernichtung des reinen Monotheismus vorwerfen konnten. Aber die polemische Tendenz des Christentums war schon deswegen natürlich, weil nicht nur die starke Anziehungskraft des Judentums für den unverbildeten, gefühlsmäßig-religiös eingestellten Menschen immer wieder in Übertritten zum Judentum ersichtlich wurde, sondern auch deswegen, weil das Christentum zur Ausbildung seines Kultes gar keine andere Möglichkeit hatte, als auf das Judentum 281 zurückzugreifen. Wie Taufe und Abendmahl in ihrem Ursprung jüdisch sind, so werden auch die Gebete und Feste, die Gemeindeeinrichtungen und die Erziehungsmethoden des Christentums vom jüdischen Brauch abgeleitet und teils einfach – bis zur wörtlichen und sachlichen Nachahmung – übernommen. Dennoch predigten sie: »Wir sollen keinerlei Verkehr mit diesen Leuten pflegen, damit wir uns ihnen nicht angleichen . . .« Aber die apostolischen Väter predigen ein schwach variiertes Judentum, und ihre Moral ist die des Alten Testamentes.

Aus der Polemik erwuchs die Diskussion. Aber dabei geriet das Christentum in eine gefährliche Situation; und noch Jahrhunderte hindurch, fast ein Jahrtausend lang, als an Stelle der christlichen Religion längst die christliche Kirche regierte, hat ihre Gesetzgebung sich immer wieder diesen Punkt herausgegriffen, um durch das Verbot jeder Diskussion zwischen Juden und christlichen Laien ihre immer gefährdete Position zu verteidigen. Denn die Diskussion ging um das Dogma, und das Dogma war überaus verletzlich, besonders deswegen, weil das Christentum für seine Dogmen unter allen Umständen einen Beweis haben wollte, ob es nun für das Amt Jesu war oder die heilige Dreieinigkeit. Diesen Beweis konnten sie nur aus den jüdischen Schriften führen, und das war ohne eine Reihe gewaltsamer und falscher Auslegungen nicht möglich. Gerade das machte die Diskussionen mit Juden schwer und wenig erfreulich.

Übrigens hatte das halachische Judentum, das wir das offizielle nennen können, mit solchen Diskussionen nichts zu schaffen. Das war Sache des haggadischen, des inoffiziellen Judentums. Sein typischer Vertreter war der Darschan, der Wanderprediger, dessen Wirken das religiöse Bewußtsein des Volkes ordnete und lebendig erhielt.

Es kam dann der Augenblick, in dem solche Diskussionen zwar nicht ihre Bedeutung verloren, in dem aber das Christentum ein wirksames Mittel in die Hand bekam, sie jeweils zu ihren Gunsten zu entscheiden: die Staatsgewalt, das Gesetz, das 282 Schwert. Um das »Reich nicht von dieser Welt« herbeizuführen, verschmähte das Christentum keine Mittel dieser Welt. Es gelang ihm auch, den Juden die historische Heimat zu rauben und die schöpferische Bedeutung dieser Heimat für das Gesamtjudentum auf Jahrhunderte hinaus zu vernichten.

 


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