Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Der Talmud

Zum zweiten und entscheidenden Mal in der Geschichte des Judentums entfaltet die babylonische Judenschaft nach der Zerstörung des Nationalstaates durch Rom und der 291 Vernichtung des palästinischen Zentrums durch die christliche Kirche ihre Funktion als Erhalterin des Volkskörpers und der Volkskultur. Daß in der Zerstreuung die erhaltenden Energien aufgespeichert liegen, mag man mit politischen und wirtschaftlichen Argumenten verständlich machen; es bleibt dennoch Schicksal.

Babylonien war von den großen Entscheidungskämpfen des Orients im wesentlichen unberührt geblieben. Die jüdische Kolonie blieb intakt, obgleich sie – von der Rückkehr der Deportierten nach Jerusalem bis zur Zerstörung des Staates – keine eigentliche Entwicklung aufzuweisen hatte. Es genügte schon, daß sie von der sie umgebenden Mischkultur unbeeinflußt blieb und daß sie die politischen Auseinandersetzungen mit der Umgebung durch ihre kompakte Masse, gestärkt durch ihre wirtschaftliche Unentbehrlichkeit, ohne Schaden überstand. Sie war in ihrer politischen Ausgestaltung weitgehend autonom und hatte sich in dem Exilarchen, dem Exilsfürsten aus Dawidischem Geschlecht, die Repräsentation ihrer Selbständigkeit erhalten.

Zu zwei Malen, nach der Zerstörung Jerusalems und nach dem unglücklichen Ausgang des Barkochba-Aufstandes, empfing die babylonische Kolonie durch die Flüchtlinge aus Palästina eine sehr wichtige Vermehrung sowohl an Zahl als auch an geistiger Energie. Sie hatte immer schon – wie alle andern Länder der Diaspora – Palästina durch allen Wechsel der politischen und staatlichen Zustände als Heimat und als das richtunggebende Zentrum betrachtet. Der Austausch von Gelehrten war an der Tagesordnung. Das war selbstverständlich, denn es gab kein Land der Diaspora, in welchem die Juden nicht für die Befriedigung ihrer geistigen Bedürfnisse Hochschulen oder sonstige, den gleichen Zwecken dienende Lehranstalten gehabt hätten. (Dieser Zustand hat angedauert, bis die westeuropäische Gesetzgebung den Juden die bürgerliche Freiheit brachte.)

Schon zu Beginn des 3. Jahrhunderts hatte Babylonien 292 bedeutende Hochschulen. Die zu Sura war eine getreue Fortsetzung der palästinischen Lehrtradition. An ihr wirkte Abba Aricha, der in Palästina ausgebildet war und von dorther den Text der Mischna, die Grundlage des babylonischen Talmuds, mitgebracht hatte. Auch Nahardea war ein bedeutendes Lehrzentrum. Als letzte und wichtigste entstand die Hochschule in Pumbadita, der die Hegemonie und die entscheidenden schöpferischen Leistungen zufielen.

Unter diesen Umständen konnte Babylonien vornehmlich der Ort werden, an welchem zu erweisen war, ob das Judentum in seinen nationalen und religiösen Eigenschaften trotz Vernichtung seiner staatlichen Existenz weiterhin bestehen könne. Diese Aufgabe wurde gelöst, und zwar in einem doppelten Sinne: sowohl für die babylonische Kolonie als solche als auch für die Weltjudenheit; für die babylonische Kolonie durch das Bestehen der Kämpfe mit dem Parsismus und dem Islam, und für die Weltjudenheit durch die Abfassung – oder richtiger: durch die Zusammenstellung des babylonischen Talmud.

In Babylonien war der Parsismus Staatsreligion. Seine Repräsentanten waren die Magier. Nach der Ablösung der Asarcidenherrschaft durch das altpersische Geschlecht der Sassaniden versuchten auch sie, gleich den Klerikern des römischen Reiches, zugunsten ihrer Machtposition und aus den Mitteln ihrer Machtposition die einzelnen Nationen ihres Staates das glauben zu machen, was sie bisher nicht glaubten. Das führte in der zweiten Hälfte des V. Jahrhunderts zu Reibungen, Aufständen und blutigen Verfolgungen, vor denen viele Juden nach Indien und Arabien auswichen. Aber auf die Länge erwies sich die materielle und geistige Energie der babylonischen Juden als stärker als der Parsismus. Sie konnten sich behaupten, bis der Islam das Land eroberte und die geistige und politische Atmosphäre beeinflußte. Die Begegnung mit dem Islam konnte – aus Gründen, die später zu erörtern sind – für das Judentum sogar produktiv werden, ein Vorgang, der sich in keiner 293 Begegnung zwischen Judentum und Christentum nachweisen läßt.

Daß hier in Babylonien – über die Selbsterhaltung hinaus – die Abfassung des Talmud möglich wurde, liegt nicht etwa in einer besonderen geistigen Verfassung der babylonischen Juden begründet, sondern ausschließlich in dem Umstand, daß sie seit einem Jahrtausend nach jeder Richtung hin Traditionsträger sein konnten. Sie hatten ihre nationale und geistige Absonderung nie aufgegeben. Sie hatten nach außen hin nur diejenigen Konzessionen gemacht, die für ihre wirtschaftliche Betätigung und für den reibungslosen Ablauf ihrer Existenz unbedingt notwendig waren. Darunter war allerdings ein Zugeständnis von weittragender Bedeutung: die von Samuel Jarchinai im 3. Jahrhundert aufgestellte Grundregel: Dina de' malchuta dina, das Gesetz des (jeweiligen) Landes ist (gültiges) Gesetz. Dieser Grundsatz bezog sich auf alles, was nicht die Religion anging, und schaffte für die über die ganze Welt zerstreute Judenheit eine klare und einheitliche Einstellung zur Obrigkeit.

Nach innen hin – wie gesagt – blieben sie Traditionsträger, und zwar auf der gleichen Stufe, die ihnen durch die Umlagerung aller Funktionen als Folge der babylonischen Deportation vorgezeichnet war. Das bedeutete praktisch, daß sie sich sehr betont als nationale Einheit fühlten und sich auch als nationale Einheit organisierten. Der religiöse Bestand wird zwar nicht geringer und durchsetzt nach wie vor das ganze Leben des babylonischen Juden und jede seiner Lebensfunktionen; aber er muß den größten Teil seiner schöpferischen Kraft an die Arterhaltung abgeben, an die Regelung des Alltags. Das Gesetz, das in der jüdischen Theokratie seinem Ursprung nach Mittel zur Verwirklichung eben dieser Theokratie war, wird allmählich Mittel zur Regulierung eines Volkslebens. Die Gesetze bleiben dem Wesen nach religiöse Gesetze; aber sie werden der Wirkung nach staatliche Gesetze. Aus dieser Doppelschichtigkeit von 294 Ursprung und Nutzanwendung erwächst ein seltsames Zwischenreich, wie es die Kulturgeschichte keines Volkes aufzuweisen hat: das Studium des Gesetzes als Selbstzweck; das Forschen in der Religion mit dem Ergebnis, daß theoretische Gesetze für das Alltagsleben eines Volkskörpers daraus erwachsen; die Einordnung bestimmter Lebensfunktionen unter das Gesetz, und zwar nicht nach gesetzlichen, sondern nach religiösen Gesichtspunkten. Und da schließlich alles, was die tausendfältigen Lebensbeziehungen dieses Volkes mit seiner ausgedehnten wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeit regulierte, im letzten Ursprung auf das Wort oder den Sinn der Thora zurückgeführt wurde, gab es weder profane noch triviale Gesetze. Noch das Einfachste und Alltäglichste, noch das Nüchternste und Skurrilste trug den Schimmer der verpflichtenden Heiligkeit.

Eine solche geistige Situation ergab zwangsläufig den ständigen Machtzuwachs, den die Vorsteher der Akademien, die Rosche metibta, erfuhren. Sie bestimmten schließlich, was Gesetz sei, und damit brachten sie den Exilsfürsten, den Rosch gola, in Abhängigkeit von sich. Hieraus erwächst ein Kampf zwischen der geistlichen und der weltlichen Macht, der in gewisser Weise seine Parallele im Kampfe des Papsttums gegen das Kaisertum des Mittelalters findet. Der Kampf endet damit, daß der Exilarch ein pompöses, prunkhaftes Dekorationsstück wird, während die Leiter der Akademie dem Volke und darüber hinaus der gesamten Judenschaft Anweisungen für ihre Lebensführung gaben.

Denn mit einer Selbstverständlichkeit, die nur eine jüdische Auffassung von Tradition und Disziplin zuwege bringen kann, erkannten die Juden der ganzen Welt die Akademien in Babylonien als das autoritative Zentrum der jüdischen Welt an. Was dort als Gesetz erlassen wurde, war für sie verpflichtend. Dorthin richteten sie ihre Anfragen, wenn irgendeine Vorschrift ihnen unverständlich war oder wenn neue Lebensverhältnisse sich ihrer Auffassung nach nicht zweifelsfrei unter ein Gesetz 295 subsumieren ließen. Die Antworten der Akademien, gaonäische Responsen genannt, bekamen Weltbedeutung.

Die Tätigkeit der babylonischen Akademien muß als eine ungewöhnlich intensive gedacht werden, denn sie hatten Lebensbeziehungen zu regeln, die keineswegs primitiv waren, sondern schon so entwickelt, daß zwischen damals und heute nur ein gradueller, aber kein prinzipieller Unterschied besteht. Die wirtschaftliche Gliederung war schon vollendet und reichte vom Geldgeber, der nur noch sein Kapital arbeiten ließ, bis zum Bettler, der durch die Stadt zog und Almosen einforderte. Der Ackerbau war so hoch entwickelt, daß er die Grundlage für den Handel abgeben konnte. Handwerke waren weitgehend ausgebildet, und es galt als ehrenvoll für einen Gelehrten, ein Handwerk neben seiner Gelehrsamkeit und als ihre materielle Grundlage zu betreiben. Aber durch alle Schichten des Volkes zog sich gleichmäßig und einheitlich der Drang nach geistiger Betätigung. Die Aristokratie bestimmte sich nach der Gelehrtentradition der Familien, nicht nach dem Besitz oder nach dem Stamm. Lernen, lernen dürfen war die noblesse oblige eines jeden, dem der Existenzkampf dafür nur die geringste Zeit ließ. Daß für die Kinder schon vom 5. oder 6. Lebensjahre an Schulzwang bestand, war selbstverständlich. Das Kind war schon immer ein Gegenstand der Liebe im jüdischen Empfinden, nicht zuletzt deswegen, weil es die Fortsetzung der Nation und damit die Erfüllung der Verheißung garantierte. Nun die Verheißung durch den Untergang des Staates wesentlich in die geistige Zone gerückt war, wurden die Kinder zum Inbegriff der geistigen Zukunft. Es geht ein tiefer Spruch aus jener Zeit: »Tagtäglich sendet Gott seine Engel aus, um die Welt zu zerstören. Doch ein einziger Blick Gottes auf die Schulkinder und die Gelehrten genügt, um seinen Zorn in Erbarmen zu verwandeln.«

Ein solcher Kult des Lernens und der Gelehrsamkeit mußte natürlich mehr Ergebnisse zeitigen, als das Leben für seine 296 Regulierung verbrauchen konnte. Es ergab sich ein Überschuß, der nirgends verankert war als allein in den Gehirnen, der mit dem Leben keinen Zusammenhang hatte, der auch nicht mehr religiöses Denken war, sondern Wissensstoff, hinter dessen Herausbildung keine Notwendigkeit mehr stand, sondern die nackte Kasuistik. Sonst immer lassen Gemeinschaften jeden Überschuß an geistiger Energie abströmen in die Gebiete des allgemeinen Wissens, der freien Forschung, der Dichtung, der Naturwissenschaft, der Technik. Die babylonischen Juden – zu dieser Zeit die Weltjudenheit überhaupt – hatten sich diesen Weg versperrt. An wirklichem Wissen und wirklicher Bildung hatte die Epoche nichts anderes aufzuweisen als das, was aus dem griechischen Kulturkreis kam; und dagegen richtete sich der instinktive Widerstand aus den Erfahrungen der Jahrhunderte. Von der Zeit des Antiochus Epiphanes an war ihnen das wirklich, das heißt: aus dem Geiste her, Feindliche immer in irgendeiner Form im griechischen Gewande entgegengetreten, als Alexandrinismus so gut wie als Christentum in seinen Schriften griechischer Sprache und seinem religiösen Synkretismus. Der Begriff »griechische Weisheit« bekam für die Welt des jüdischen Wissens eine verächtliche Bedeutung. Das »profane« Wissen blieb aus den Schulen und Lehrhäusern verbannt.

Dennoch kam es nicht zu einer geistigen Erstarrung. Im Volke selbst lebten die Energien, die den jüdischen Geist aus der gefährlichen Einengung in eine universale Weite ausbrechen ließen. Um sie wirksam werden zu lassen, mußte allerdings zuvor ein Kreis von gewaltigen Ausmaßen und von gewaltiger Spannkraft um sie gezogen werden: der Talmud.

Wie in Palästina 200 Jahre zuvor die Mächtigkeit des Stoffes zur Sichtung und Fixierung gezwungen hatte, geschah das gleiche, um die Mitte des IV. Jahrhunderts, auch in Babylonien. Hier war aus den Deutungen und Auslegungen der palästinischen Mischna die Gemara erwachsen. Auch sie drohte unübersehbar zu werden. Man mußte sie nicht nur als Stoff ordnen, 297 sondern auch – da sie doch nur Ausdeutung der Mischna war – in ihrem organischen Zusammenhang mit der Mischna. Die Vereinigung dieser beiden Werkgruppen zu einem System ergibt den babylonischen Talmud. Diese gigantische Arbeit wurde in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts begonnen und etwa um das Jahr 500 abgeschlossen, stellt mithin das Kollektivergebnis von mehr als einem Jahrhundert geistiger Anspannung dar.

Selbst wenn der Jude unserer Gegenwart den Talmud völlig vergäße – was nicht erstaunlich wäre, da die Mehrzahl ihn in Wirklichkeit gar nicht kennt – so würde die Welt um ihn her ihm immer wieder die Erinnerung auffrischen. Denn dieses Buch hat seit einem Jahrtausend in der Vorstellungswelt des Nichtjuden eine erhebliche Rolle gespielt. Es wurde das große Reservoir der Angriffe gegen das Judentum. Es wurde in den Händen derer, die die Existenz des Judentums nicht gleichmütig als Tatsache hinnehmen konnten, ein böses, gefährliches, unheimliches, verbrecherisches und gotteslästerliches Buch. Es galt in seinem gesamten Inhalt als das geheime und unverbrüchliche Gesetz für alle Juden bis in unsere Tage. Ihm wurde der Prozeß in aller Form durch die Inquisition gemacht; es wurde zur Todesstrafe verurteilt und öffentlich verbrannt; es wurde sinnlos zerpflückt und gedeutet; es wird noch heute mit einer Unkenntnis der Zusammenhänge zitiert und ausgewertet, daß man jeden Kampf gegen diese Methode als aussichtslos betrachten muß. Aber zu begreifen ist diese Einstellung. Alle ungewöhnlichen Leistungen, die ihre Lebenskraft geheimnisvoll vermehren, je wilder sie bekämpft werden, stehen eines Tages mit dem Nimbus des Erhabenen und des Unheimlichen da. So wurde der Talmud in der Entwicklung von Jahrhunderten für die Juden ein fast heiliges und für die Nichtjuden ein fast verwerfliches Buch.

Was aber ist der Talmud in Wirklichkeit? Er ist – seiner äußeren Gestalt nach – ein zwölfbändiges Werk, in sechs 298 Hauptteilen, die in 63 Traktate zerfallen. Er ist – seinem Inhalt nach –das fixierte Leben eines über die ganze Erde zerstreuten Volkes aus einem Zeitraum von rund einem Jahrtausend, das heißt: vom Abschluß des Pentateuch bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts der heutigen Zeitrechnung. Was in diesem Zeitraum je an Gesetzen erlassen wurde und aus der Erinnerung noch reproduziert werden konnte, ist darin vermerkt. Strafrecht, Schuldrecht, Sachenrecht, Familien- und Erbrecht, alles ist aufgezeichnet, ob es noch gültig war oder nicht, ob es überhaupt Gesetz wurde oder nur gesetzgeberischer Vorschlag, de lege ferenda, war. Aber auch wenn etwas nur irgendwo Brauch oder Sitte war, sogar wenn über ein Gesetz oder einen Brauch eine wichtige theoretische Erörterung in irgendeiner Schule oder von einem bedeutenden Gelehrten angestellt war, fand es seine Aufzeichnung. Was je in den Akademien im Zusammenhang der Gesetzesforschung an Dingen aus dem Gebiete der Medizin, der Hygiene, der Landwirtschaft, der Naturwissenschaft, der Sitte und Sittlichkeit diskutiert worden ist, fand seinen Vermerk, knapp, schlagwortartig, als konzentriertes Protokoll. Das religiöse Gebot steht neben der sittlichen Ermahnung; das dürre Gesetz neben der haggadischen Legende; der sublime Gottesbegriff neben dem wüsten Aberglauben, den das Volk den Magiern abgelauscht hatte; die weltumspannende Bedeutung einer Meinung oder Lehre neben einer trivialen Kleinigkeit. Der Talmud ist genau so groß und genau so klein, wie es ein Volksleben in seiner Höhe und Tiefe ist; genau so still und genau so laut; genau so friedlich und genau so aggressiv. Er ist die Enzyklopädie einer Zeit und eines Daseins, der keiner gerecht wird, der nicht den guten Willen aufbringt, sie aus den Bedingungen ihrer Art und Entstehung zu begreifen.

Niemand hat bei der Entstehung des Talmud daran gedacht, ihn zu einem verpflichtenden oder auch nur repräsentativen Gesetzeskodex zu machen. Er war ausschließlich Stoffsammlung, für den Gebrauch der Schulen und Akademien bestimmt. 299 Erst viel später wurde er aus einem doppelten Grunde repräsentativ nicht nur für die geistige Leistungsfähigkeit des nachbiblischen Judentums, sondern für das Geistesleben des Judentums überhaupt. Der eine Grund lag darin, daß die Gesetze des Talmud sich als ein überaus wirksames Mittel erwiesen, das jüdische Volk in der zunehmenden Zerstreuung und Bedrückung zu erhalten. Der andere Grund lag darin, daß nach dieser Sammelleistung eine Erschöpfungspause eintrat, die erst überwunden wurde, als der Talmud schon seinen Zug durch die Welt angetreten hatte. Der wirklich entscheidende Grund aber, warum das Judentum sich so stark und leidenschaftlich an den Talmud geklammert hat, liegt in einer innern Gesetzmäßigkeit dieses Volkes, die schon in dieser Zeit erkennbar und wirksam wird: in dem Maße, in dem sich die zentrifugalen Kräfte der Judenheit unter dem Druck des Schicksals notgedrungen ausbilden, wachsen die zentripetalen Kräfte des Judentums und verlangen nach einem Mittelpunkt, zu dem sie sich in Abhängigkeit begeben können. Je stärker Not und Verfolgungen sie an die Peripherie des Daseins schleudern, desto panischer wird die Furcht, eines Tages kein Zentrum mehr zu haben, um das der Sinn oder die Sinnwidrigkeit ihres Geschickes als Einzelne und als Glieder einer Gesamtheit schwingen könnte. Jedes Stückchen wirklicher Heimat, das ihnen auf ihren Wanderzügen entrissen wurde, ersetzten sie durch ein Stückchen fiktiver Heimat aus der Welt des Talmud, bis die Grenzen flüssig wurden, bis die Funktionen sich vertauschten und der Ort, in dem sie sich aufhielten, Wohnort, der Talmud aber, den sie überallhin mit sich trugen, Heimat geworden war.

 


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