Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Jeschu von Nazareth

Aus dem Chaos eines Volkslebens, das in schmerzlichen Zuckungen gegen eine dem Tode geweihte heidnische Welt selber dem Tode seiner äußeren Form zustrebt, um dafür das ewige Leben zu gewinnen; aus der Anarchie der Kräfte, die in einer an intensives Leben seit Generationen gewöhnten Gemeinschaft den letzten Grund seelischer Möglichkeiten bloßlegt; aus dem Heroismus der Faust und des Geistes und des Herzens erwächst ein doppelschichtiges historisches Faktum, das ein Gewicht von Welten und Jahrtausenden trägt: die Lebensgeschichte eines Jeschu von Nazareth und die Entstehung eines neuen Glaubensbekenntnisses, des Christentums. Diese beiden Fakten verhalten sich zueinander wie das Typische zum Einmaligen. Das will sagen: die Gestalt eines Jeschu verkörpert in Möglichkeit, Wirken und Schicksal den besten jüdischen Menschen der Zeit, wenn nicht an Wissen und Kenntnissen, nicht an Patriotismus und Freiheitswillen und Unbedingtheit der Arterhaltung, so doch an dem, was die übersteigerten Schmerzen der Zeit lindern konnte: am Erbarmen für die Kreatur, an der wehmütigen Überwindung des Leidens durch Liebe, Stille und durch das . . . Ausweichen vor dem Leben, das der Alltag ist. Die Entstehung des Christentums hingegen ist 203 ein einmaliger Vorgang, eingeschlossen in die historischen Notwendigkeiten, die sich aus der Situation des Judentums und des Heidentums in jener Zeit ergaben.

Wir werden daher von Jesus als einer Gestalt der jüdischen Geschichte sprechen, ganz ohne Rücksicht auf irgendwelche theologischen oder glaubensmäßigen Vorstellungen, und vom Christentum nur, soweit und solange es noch eine jüdische Angelegenheit war und soweit später – und bis in die Gegenwart – der Jude als Objekt des Christentums, als Haß- und Kampfobjekt dieser Religion es notwendig macht.

Der Hintergrund, vor dem die Tragödie des Menschen Jesus gespielt wird, ist ungemein bewegt und farbig. Es war eine freudlose Zeit der Leidenschaften: eine Zeit, in der das Schicksal des Einzelnen und des Staates und des Glaubens in der Härte der Prüfungen Maßloses ertragen mußte. Die Juden haben nie aufhören können, in Beziehungen zu leben; in dieser Zeit führte jede Betrachtung ihrer Beziehungen zu vernichtenden Resultaten. Sie waren ganz bewußt noch in dieser Epoche, nach Ablauf eines halben Jahrtausends, die Heimkehrer aus dem babylonischen Exil. Dort haben die Propheten sie gelehrt, ihre Aufgabe zu begreifen. Fünf Jahrhunderte hatten sie nun an die Verwirklichung gewendet. Zweihundert Jahre nach ihrer Rückkehr, als sie gerade die Restaurationen eines Esra und eines Nehemia auslebten, wurden sie vom Griechentum überfallen. Der Kampf um die Selbsterhaltung begann. Sie blieben Sieger. Sie träumten sich mit den ersten Errungenschaften der Hasmonäerkämpfe in den Erfüllungsgedanken hinein. Aber mitten in diese Linie eines trügerischen Aufstieges bricht Herodes, bricht Rom, bricht der Koloß Heidentum hinein und will mit seiner Hypertrophie, die schon Zerfall ist, den letzten widerstrebenden Kern von Menschen vernichten. Ihre gesamte materielle und geistige Existenz ist in Frage gestellt. Ihre Vernichtung ist in dem Augenblick beschlossen, als sie ihre Erfüllung vor sich sehen. 204

In dieser Diskrepanz zwischen Hoffnung und Wirklichkeit, zwischen Bemühen und Ergebnis, zwischen Idee und Gewalt explodiert das jüdische Zentrum, das nie sehr ruhig war, das aber schon zu einer festen Form strebte. Jede Möglichkeit, die damals im Judentum beschlossen lag, findet jetzt in Einzelnen, in Gemeinschaften, Gruppen, Parteien und Sekten ihren Ausdruck, und zwar gleich einen extremen Ausdruck. Jetzt, wo alles in Frage gestellt ist, ist zugleich alles möglich. Aber noch in dieser Explosion, in dieser Aufteilung in Splitter, bewährt sich die erstaunliche Vitalität des Judentums. Alles, was jetzt geschieht, ist der Ausdruck eines ungeheuren Lebenswillens. Selbst in dieser Sekunde des großen Zusammenbruches ist nicht die Spur von Resignation nachweisbar. Selbst die Essäer, die sich von allen Dingen des Tages, seiner Organisation und seiner Ordnung zurückziehen, sind nur der Technik des Daseins müde, nicht aber des Daseins selber. Sie weichen dem Staat aus, weil sie wissen, daß sie damit dem Kampfe und der Gewalt ausweichen. Und sie tun es nicht aus Feigheit, sondern weil sie von einem staatlichen Leben nichts mehr erwarten. Sie wollen für ihre Seele sorgen. Aber darum wollen sie nicht etwa das Leben auflösen. Nur wie die Not wuchs und der letzte Rest an Freiheit und Menschenwürde unter den Schwertern der Herodianer und der Römer zerstört wurde, begriffen sie das Ende der jüdischen Gemeinschaft sehr weitgehend zugleich als das »Ende der Tage« überhaupt, das Herannahen einer Zeit, in der andere Kräfte als die, die bis dahin versagt hatten, wirksam würden. Sie ließen das irdische Reich fallen und bereiteten sich auf das »himmlische Reich« vor. Aber auch das realisiert sich für sie hier auf der Erde, nicht in einem vagen Himmel, wie denn überhaupt in jener Zeit der Begriff Himmelreich nichts mit einem Reiche im Himmel zu tun hat, sondern nur eine Benennung für Gott ist, für den, in dem sich eben das Himmelreich verkörpert und von dem sie erwarten, daß er es endlich einmal der Erde geben werde. Sie sind nichts anderes als konsequente Pharisäer 205 mit rückwärts gerichteter, auf die Nasiräer rückweisender Tendenz.

Auch derjenige Teil des Volkes, den man passive oder gemäßigte Pharisäer nennen kann, verliert nur den Glauben an die Technik des Widerstandes, an das gewaltsame Widerstreben. An das Leben, an ihre Zukunft, an die Dauer und Unsterblichkeit des Volkes glauben sie mit unendlich gesteigerter Kraft. Aber sie wollen, wie es in der Intention der Propheten lag, vom Geiste her Widerstand leisten. Sie wollen die Nation retten durch die religiöse Zucht, durch geistige Absperrungsmaßnahmen, wenn es der Kampf verlangt; und sogar unter Preisgabe der staatlichen Existenz, wenn es nicht anders gelingen will. Mitten im Toben des Befreiungskampfes gründet Jochanan ben Sakkai, der aus der Schule des Hillel kommt, das Lehrhaus in Jabne bei Jerusalem und proklamiert damit die Fortsetzung des Widerstandes gegen die heidnische Welt auf einer anderen Ebene als der, deren Zusammenbruch unter den Angriffen des Vespasian er voraussieht. Über das positive Verhalten der Zeloten und Sicarier braucht nichts Besonderes mehr gesagt zu werden. Sie waren Optimisten bis zur Verzweiflung. Sie resignierten nur, wenn man sie erschlug.

Dieser Wille zum Dasein in allen Schichten und Parteien des jüdischen Volkes und in allen seinen mannigfachen Stufungen und Variationen traf sich zudem in einer gleichen und gemeinsamen und sehr positiven Idee: im Glauben an das Herannahen einer messianischen Zeit. Der Messianismus war Bestandteil des gesamten Volkes. Es gab keine Schicht, die nicht daran glaubte. Selbst der Sicarier, der den Römer und den Römerfreund meuchelte, wußte, daß er für das kommende Reich, für das Reich Gottes mordete! Ob politischer Mord oder geistige Versenkung: es war dieselbe Idee, nur in anderer Formung.

Der Messianismus ist das Zentralproblem der Epoche. Er entsteht nicht etwa erst jetzt, sondern er zerbirst unter dem Druck der Zeiten in Varianten. Ganz klar ist die messianische 206 Idee schon herausgearbeitet im Buche »Daniel«. Hier wird – wie so oft in der Geschichte der Juden – aus den Ereignissen der Welt der Sinn abstrahiert. In seinen Visionen sieht er nach dem Scheitern der vier großen Weltreiche ein fünftes aufsteigen: das Reich des Messias. Dieser Messias ist das jüdische Volk. Es gibt hier noch keinen persönlichen Messias. Aber schon ist der Messianismus universal. Er gilt für die ganze Menschheit.

Der Gedanke wächst und verknüpft sich tief mit den Ideen der Auserwähltheit des Volkes, der Unsterblichkeit der Seele, dem Fortleben nach dem Tode und der Wiederauferstehung der Toten. Es sind umkämpfte Gedanken. Sie bilden, insbesondere was die Unsterblichkeitslehre angeht, Kampfmeinungen im Gegensatz der Pharisäer und Sadduzäer. Aber das intensive religiöse Leben gibt endlich den Ausschlag nach der Seite der unbedingten Gläubigkeit hin. Religiöses Leben bedeutet ja im Gefüge des jüdischen Volkstums und besonders in diesem halben Jahrtausend nach dem babylonischen Exil viel mehr als nur die Befolgung von Ritualgesetzen und kultischen Vorschriften und auch viel mehr als eine Theologie und eine Dogmenlehre. Es gab kein Dogma. Es gab keinen Zwang, etwas zu glauben; nur, etwas zu tun. Das, was die Umzäunung genannt wird und was in seiner Auswirkung die »jüdische Religion« darstellte, war ein völlig in das reale Leben einbezogener Komplex, eine nationale Weltanschauung, eine Kultur mit Philosophie, Rechtswissenschaft, sozialen Problemen, Naturwissenschaft, Technik und praktischer Ethik. Wenn aus solchem Bezirk her ein religiöser Gedanke entstand, so war er nichts Abstraktes, sondern mußte notwendig in der Realität des Lebens, aus der er erwachsen war, begründet sein und wirksam werden. Und andererseits konnte aus dem schöpferischen Leben des Volkes selbst kein religiöser Gedanke entstehen, von dessen Verwirklichungsmöglichkeit das Volk nicht überzeugt war. Das ist eben der entscheidende Grund, warum das jüdische Volk in seiner überwiegenden Gesamtheit die Lehre Jesu, oder besser: die 207 seiner späteren Verkünder, als lebensuntauglich verworfen und verneint hat.

So mußte folglich auch der messianische Gedanke, der das ganze Volk durchzog, als realisierbar gefaßt werden, um den Menschen etwas bedeuten zu können. Die einen sahen in dem Messias den Gesandten Gottes, der sie vom römischen Joch befreien und ihnen die Theokratie wiedergeben sollte. Anderen erschien das nur als ein Nebenergebnis, während ihnen als entscheidend vorschwebte, Gott werde endlich einmal der Gerechtigkeit auf Erden zum Siege verhelfen, er werde ein großes Gericht, das Weltgericht, abhalten und dann das große Reich des Friedens und der Brüderlichkeit für alle Menschen auf Erden begründen. Dieser Messianismus ist noch irdisch und wartet noch darauf, daß die Katastrophe der Zeit mit einem ausgleichenden Akt der Gerechtigkeit, der nationalen Vergeltung ihren Abschluß finde. Und auch da gibt es Varianten. Alle wissen, daß sie es mit eigenen Kräften nicht mehr schaffen können und daß schon Gottes Hilfe eingreifen muß. Aber die einen glauben, man könne das Ende der Zeiten durch Aktivität beschleunigen. Sie bedrängen die Zeit und das Ende. Die anderen glauben, man müsse den Geist widerstandsfähig machen und auf die Erfüllung warten.

Doch bricht aus dem Übermaß des Erlebens in dieser Zeit ein seelisches Element hervor, das eine entscheidende Abbiegung der messianischen Idee zur Folge hat: der Individualismus.

Wir haben schon anläßlich der Vorgänge im babylonischen Exil darauf hingewiesen, welche Möglichkeiten die Prophetie durch die Betonung eines individuellen Verhaltens zur Religion in die Entwicklung des Judentums hineingetragen hat. Das freie und befreite religiöse Leben des Individuums bedeutet immer einen ungewöhnlichen Fortschritt im religiösen Leben. Aber entscheidend ist für eine Religion, die keine private, sondern eine Gemeinschaftsreligion ist, doch letztlich, wie sich das 208 Individuum zur Gemeinschaft und ihrer Art des Glaubens verhält, zum offiziellen, kollektiven Glauben. Je mehr das Einzelschicksal beansprucht wird und je tiefer das religiöse Bewußtsein den Menschen durchsetzt, desto größer wird die Möglichkeit, aus dem kollektiven Erlebnis ganz und gar auszubrechen. Die Essäer sind die ersten, die diesen Schritt zum Individuum machen. Aber es ist charakteristisch, daß sie sich für die Lebensform des Individuums zugleich die nächste und intimste Gemeinschaftsform auswählen, die der kommunistischen Gemeinde. Mit individualistischen Impulsen geladen ist auch in steigendem Maße diejenige Schicht des Volkes, die sich in Zeiten normaler Entwicklung aus den Einzelbauern, Arbeitern, Taglöhnern, Handwerkern und Kleingewerbetreibenden zusammensetzt. Für sie war die Unzahl der Kriege, Verfolgungen, Verwüstungen, Steuererpressungen und Requisitionen der wirtschaftliche Tod. Sie verarmten und verkamen vollständig. Sie haben am Kollektivum, am Staat, keine Zukunft, keine Stütze und keine Rettung mehr. Es kann ihnen nur noch der andere Mensch, der Nebenmensch helfen, sofern er noch etwas besitzt und guten Willens ist. An Stelle einer sozialen Ordnung, in der sie ihre Existenz finden können, und an Stelle einer Fürsorge, für die eine Gemeinschaft von den Verpflichtungen des Thoragesetzes her verantwortlich zeichnet, tritt der mitfühlende, der mitleidende Einzelmensch; und der ideale Typ, der ihnen helfen kann, wird so der sie erlösende Mensch, der – über jede Gemeinschaftsbindung hinaus – ihnen von Gott selbst zu diesem Zwecke gesandt wird. Gott ist verpflichtet, ihnen einen Erlöser zu schicken. Ihr Glaube an den Messias berührt vor allem ihr persönliches Problem, aber er ist zugleich eine direkte und notwendige Folge ihres unerschütterten Glaubens an Gott. Sie werden sozialreligiöse Revolutionäre aus dem Glauben her.

Neben ihnen steht ein anderer Kreis von Menschen, der weniger aus der Not des Alltags als vielmehr aus der Not der 209 Seele allem Treiben in der Welt die Gefolgschaft versagt. Es sind die Stillen, Müden, Friedfertigen im Lande, die zur Ruhe kommen wollen. Sie sind ganz auf sich und ihr persönliches Erlösungsbedürfnis gestellt.

Überall, wo das Bekenntnis zum Kollektivum verlassen wird, zu jener Existenzform, die man das Gemeinschafts-Individuum nennen kann, und wo von da aus der Weg zum Einzelnen, losgelösten Individuum gegangen wird, fehlen die Hintergrundskräfte, die Verankerungen im Schicksal der Ahnen, und damit die Stoßkraft der Idee in eine gestaltende Fortsetzung und Zukunft hinein. Was da an Kraft mangelt, muß durch Mystik ersetzt werden und durch Vertrauen auf eine Zukunft, die niemand mehr kontrollieren kann. Folgerichtig zerbricht die messianische Idee, und es entsteht eine Konzeption, nach der die Erfüllung aller Hoffnungen auf Ausgleich, Gerechtigkeit und Frieden sich von der Erde wegbegibt und in einen Himmel hinaufgetragen wird, der sich hinter Mystik und Schwärmerei der Kontrolle dessen entzieht, dem er dienen soll: des lebendigen Menschen.

Zu allen diesen Dingen, die die geistige Situation der Zeit umreißen, ist hinzuzurechnen, was von der politischen Katastrophe der Zeit bereits berichtet worden ist. Damit stehen die Grundfarben und Grundkräfte des Hintergrundes fest, vor dem die Geschichte Jesu sich abspielt.

Welche Möglichkeiten hat nun ein Mensch, ein beliebig ausgedachter Mensch, vor solchem Hintergrunde? Unter allen Umständen nur die, die ihm die Zeit bietet. Er kann andere weder erfinden noch neu schaffen. Jesus beweist es durch sein Leben und seine Taten. Bei der Darlegung, die wir jetzt versuchen wollen, verbieten Raum und Zweck des Werkes eine Darlegung, welche Berichte und Mitteilungen wir für historisch halten und welche nicht und warum das geschieht.

Jesus wurde als Sohn des Zimmermannes Joseph und seiner Frau Maria in der Zeit des Kaisers Augustus, einige Jahre vor 210 unserer Zeitrechnung, in Nazareth geboren. (Man verlegte später seinen Geburtsort nach Bethlehem, um nachweisen zu können, daß er ein Nachkomme Dawids sei. Doch stand diese Idee, der Messias müsse aus dem Hause Dawid kommen, damals keineswegs fest.) Er hatte vier Brüder und zwei Schwestern und lebte mit ihnen das schlichte und arbeitsreiche Dasein galiläischer Menschen. Galiläa und Nazareth insbesondere lagen abseits von der großen Straße des Lebens und weitab von der lebendigen und gestaltenden Atmosphäre der Hauptstadt Jerusalem. Die Gelehrsamkeit in dieser Provinz war nicht sehr groß, aber dafür waren die Menschen einfacher, ungebrochener, weniger mit Gedanken überlastet und in allen ihren Reaktionen sehr stark und primitiv. An Tiefe des religiösen Erlebens gaben sie alle Jerusalem und seinen Gebildeten nichts nach; nur lösten sie manche Frage, die in Jerusalem eine – wenn auch leidenschaftliche – Diskussion entfesselte, mit der Revolte und dem mannhaften Dreinschlagen. So war Galiläa immer der Herd der Unruhen und Revolutionen. Diese Menschen reagierten ungewöhnlich fein und zugleich sehr stürmisch auf die mindeste Bedrückung ihrer inneren und äußeren Freiheit. Aber sie setzten nicht nur die Fäuste in Bewegung. Da sie schlicht und unverbildet waren, trug auch ihr religiöses Gefühl, vom Buchstabenglauben und von der Verehrung des Wortes sehr entfernt, eine sinnende, naturhafte Aufmerksamkeit, mit einem Rhythmus des Herzens, dem die ausgeglichene Schönheit und Vielfältigkeit ihres Landes den Stempel aufgedrückt hatten. Darum waren unter ihnen viele stille und versonnene Gottsucher. Es waren auch sehr viele unter ihnen, die mit ihren psychischen Kräften dem dauernden Ansturm der Kriege und Revolten, der Tagesfron und der Verarmung, der Belastung ihres schlichten Glaubens und der ewig schwankenden Hoffnung auf Wandel und Ende dieser bösen Zeiten nicht gewachsen waren und die seelisch und geistig, mit ihren Nerven und mit ihrer Widerstandskraft 211 zusammenbrachen. Man nannte sie im Volke, da andere Erkenntnisquellen nicht zur Verfügung standen, die von den Dämonen Besessenen, und ihre Heilung gehörte zum schlichten Tageswerk dessen, der ihnen helfen wollte. So waren sie es von den Essäern gewöhnt, und so erwarteten sie es von jedem, den sie als Helfer annahmen.

Es kamen oftmals Menschen, die sich ihnen als Helfer anboten, und sie lieferten sich willig jedem aus, der so zu ihnen kam. Sie trugen in jeden, den sie verstanden und der sie verstand, ihre Hoffnung hinein und waren bereit, ihn als Erlöser, als Messias aufzunehmen. Es war der Messias in der gleichen Form, in der ihr seelisches, ihr religiöses Leben ihn ausgebildet hatte: der König-Messias, derjenige, der Gott, oder – was das gleiche ist – das Himmelreich auf die Erde bringen sollte, damit der Sinn ihres Daseins als Menschen und Juden sich erfülle. Aber es blieb immer beim Glauben und beim Versuch. Die Römer und die Herodianer waren scharfe, mißtrauische Wächter. Sie begriffen völlig richtig, daß auch die religiöseste messianische Erwartung der Zeit, sofern sie sich nicht – wie bei den Essäern – am äußeren Geschehen völlig uninteressiert erklärte, eine reale, gestaltende, irdische und somit eine politische Kraft in sich trage. Darum wurden die Führer und die Erlöser und die Messiasse immer schon im Anfang ihres Beginnens von der Macht ausgelöscht, und es ist für die Entwicklung der Dinge verhängnisvoll, daß immer die Führer, also die Besten, die geistige Elite davon getroffen wurde. So werden sie ständig enttäuscht, und so kommen aus ihren Reihen immer wieder die Fanatiker. Darum ist gerade Galiläa das Land der Freischärler, der Insurgenten, der Freiheitskämpfer, der Räuberbanden, der Mystiker und der Besessenen oder Hysterischen. Darum wird gerade in Galiläa am stärksten neben dem Schwert als Waffe das Wunder als Instrument der Bekundung und der Erlösung verehrt. Das Schicksal der Zeit und des Volkes sandte seine Ströme durch dieses Land mit allen seinen 212 Möglichkeiten von hüben und drüben. In diesem Lande mit offenen Augen und offenem Herzen leben, bedeutete, diese Schicksalsströme mitten durch sich hindurchgehen fühlen.

Was also kann ein Mensch in dieser Zeit, in dieser Umgebung tun, wenn er sich von allen Seiten her berührt und beteiligt fühlt und wenn er die Wehen der Dinge, die da entstehen wollen, nicht ohne Spur und Antwort an sich vorübergehen lassen kann? Er muß bekennen, daß die Dinge ihn als Einzelnen angehen und daß er als Einzelner, als Persönlichkeit mit dafür verantwortlich ist, wie sie verlaufen. Daraus folgt weiter, daß er sich selber in den Zusammenhang stellen muß und daß er zu dem Gefühl reift, von seiner Mitwirkung hänge entscheidend das Geschick seiner Gemeinschaft ab. Nach solcher innerer Entscheidung bleibt für den, der sich angerufen fühlt, nur die Aufgabe, Grad und Umfang und Kraft seiner Berufung zu prüfen. Bejaht er sie, so ist er aus der Verpflichtung des Herzens her zum Handeln gezwungen.

Das und nichts anderes hat Jesus getan. Jesus ist so hundertfach im Judentum seiner Zeit begründet, daß man nichts zu tun brauchte, als die Geschichte der Zeit und der Menschen und des Landes zu schreiben, um alle Elemente seines Wesens und sogar seines Schicksals beisammen zu haben. Was die besondere und tragische Note seines Schicksals bestimmte, war derjenige Teil seiner Persönlichkeit, der sich nicht mit den Menschen, denen er dienen und die er erlösen wollte, treffen konnte, die er vielmehr aus der Überbetonung seiner Persönlichkeit und aus dem Versagen vor den Erwartungen, die er selber erweckt hatte, hoffnungslos und tragisch verfehlte und verfehlen mußte. Wenn der Messias aufhört, Führer, Erfüller und Verkünder zu sein und aus dem übersteigerten Ichgefühl Vorbild und Reformator sein will, zerbricht ihm das Amt in den Händen. Das ist Jesu Tragik und der Wendepunkt in seiner Lebensgeschichte. Das ist zugleich – um es vorwegzunehmen – der Kern unserer Darstellung. 213

Für Jesu Anfänge kann nur aus seinem späteren Tun geschlossen werden, daß er in der Literatur seines Volkes ziemlich bewandert war. Er kannte die Thora, und zwar so genau wie mancher Pharisäer. Er kannte auch die Propheten, die Psalmen, das Buch Daniel und vielleicht auch das Buch Henoch. Sein geistiger Bezirk war der des Juden seiner Zeit. Aber auch sein seelischer Bezirk lag da. Das wird offenkundig, wie das erste große, auslösende und gestaltende Erlebnis in sein Dasein tritt: die Begegnung mit Johannes dem Täufer.

Johannes taucht um das Jahr 28 der heutigen Zeitrechnung im südlichen Transjordanien, am Jordan, in Galiläa und in Peräa auf. Er ist Einsiedler, Asket nasiräischer Richtung und Lebensform, der viele essäische Elemente in sich aufgenommen hat, eine typische Figur der Zeit, der in ihrem Sinne den Ablauf und das Ende der Dinge begreift und verkündet: »Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe!« Das heißt in der Sprache der Zeit: Streift alle eure Halbheiten und Unvollkommenheiten von euch ab, denn es naht die Zeit, wo Gott auf Erden die Herrschaft des Vollkommenen aufrichten wird. Darum verweist Johannes die Menschen darauf, bei ihrem Tagewerk zu bleiben, dem Nebenmenschen Gutes zu erweisen und – indem er die Auswüchse des Pharisäertums geißelt – über der Pflicht gegenüber dem Gesetz nicht die Pflicht gegenüber dem Menschen zu vernachlässigen.

Johannes betrachtet sich keineswegs als Messias, sondern bewußt als seinen Vorläufer, als den, den das Volk in dieser Eigenschaft erwartet: als die Verkörperung des Propheten Elijahu. Und dieses Wissen um die Vorläuferschaft, das das Wissen um die baldige Ankunft des wahren Messias einschließt, gibt seiner religiösen Leidenschaft und seinen Predigten eine besonders drängende Kraft. Viel Volk strömt ihm zu und vollzieht vor ihm die symbolische Handlung des Tauchbades, wie es die Essäer übten und wie es auch die Pharisäer von den Proselyten verlangten. Es unterscheidet ihn von den 214 weltabgewandten Essäern, daß er sich nicht in die mystische Stille zurückzieht, sondern bewußt und werbend nach Anhängerschaft in die Öffentlichkeit tritt, in den Betrieb des Tages, in die Polemik und in die Politik. Die wird ihm dann auch zum Verhängnis. Seine öffentliche Kritik an Herodes-Antipas wegen seiner Heirat mit Herodias, die gegen Johannes' strenge Auffassung der jüdischen Gesetze verstieß, gibt den Ausschlag, ihn zu verhaften und wegen der Gefahr, die sein Wirken im politischen Sinne bedeutet, hinzurichten.

Zu ihm hin in der Masse des Volkes und als einer aus der Masse, von Johannes unerkannt und unbeachtet, kommt auch Jesus, um das Taufbad zu vollziehen. Aber während alle anderen sich gläubig zu Objekten dieses Vorganges machen, macht Jesus sich aus der Erschütterung, die dieses Symbol in ihm auslöst, zum Subjekt, zum mitwirkenden Faktor dieses Vorganges. Das kann nicht ein plötzlicher Vorgang gewesen sein. Das kann nur der auslösende Choc in einer Entwicklung und einer Betätigung gewesen sein, die schon seit langem eingesetzt hatte. Alle folgenden Ereignisse lassen den Rückschluß zu, was vorgegangen war: Jesus war schon mit allen Kräften, und von allen Kräften aus Volk und Zeit aufgerufen, in ein Amt, in die Verantwortlichkeit eingegangen. Gleich den Predigern, die von den Essäern ausgesandt wurden oder die sich aus eigenem Recht dazu gedrängt fühlten, predigte auch er; ein Rabbi, wie er sich selbst unzählige Male nennt; einer, der im Volke die seelische Grundstimmung vertiefen will, aus der heraus es die kommende Zeit empfangen kann; einer, der sich dafür verantwortlich fühlt, das Volk darauf vorzubereiten. Aber mit keiner Idee denkt er daran, Neuschöpfer zu sein oder gar Auflöser einer alten und Begründer einer neuen Religion. Das lag völlig abseits aller Möglichkeiten, und er hat nichts anderes als das Mögliche in der Zeit angestrebt. Er war ein werbender Mensch; nichts weiter. Was er lehrte, lag ausschließlich im Judentum begründet, und selbst das, was er gegen die Pharisäer im Lande 215 predigte, war das gleiche, was die Pharisäer selbst gegen die überhandnehmende Versachlichung und Veräußerlichung ihrer Auswüchse predigten, gegen die theoretische Ausbuchtung einer Religion, in der das strenge, starre Zeremonial sich dem Kontakt mit dem lebendigen Dasein mehr und mehr entzog, bis aller Dienst in Kult und Ritus, in der sklavischen Befolgung von Normen und Gesetzen hochmütig die lebendige Seele, das Geschöpf, zu Boden trat. In dieser Zeit der Katastrophen, wo das Gesetz nur haltende Form, der Mensch in allen seinen Nöten aber der allein wahre Inhalt sein durfte, war jede andere Haltung ein Verbrechen an der Seele des Menschen und durfte mit Recht bekämpft werden. Das tat Jesus. Das taten auch die Pharisäer, die ihre eigenen Entarteten als die »Plage der Pharisäer«, als die Zewuim, als die Gefärbten, das heißt: als die mit der Tünche der Form Bedeckten, schmähten.

So geht, mehr unbewußt als bewußt, völlig aus der Natur des galiläischen Juden her, wie er eingangs umrissen wurde, sein Bemühen dahin, das Gesetz, unter dem die Menschen lebten und weiterhin leben sollten, aus dem Herzen her aufzulockern. Er trat damit in die Fußspuren des Hillel. Er lehrte Geist von seinem Geiste. Nur tat er es nicht im Rahmen eines Gesetzeslehrers und Forschers, sondern als einzelner und freier Mensch, als einer, der sich aufgerufen fühlt. Wenn man von der Reinheit und von dem menschlichen Adel seiner Intentionen ausgeht, kann man sagen, er sei im besten Sinne des Wortes ein Funktionär der Theokratie gewesen, wie es die Richter, die Propheten und, ihrer Bestimmung nach – wenn auch nicht immer dem Wesen nach – die Könige waren. Und gleich den Besten von ihnen blieb ihm nicht der Augenblick der Prüfung erspart, zu was und zu welchem Grade er berufen sei.

In der Begegnung mit Johannes lag der ganze Ernst der Situation der Zeit für Jesus beschlossen. In aller Leibhaftigkeit stand der Vorläufer des Messias da. Das war der erste und vielleicht schon der letzte Schritt zur Erfüllung. Das Erscheinen 216 des Messias war eine Frage von Tagen oder kurzen Jahren. Die Entscheidung stand an der Schwelle; und vor dieser Nähe der Verwirklichung war jeder, den es anging, zur Selbstprüfung verpflichtet, ob es mit seinem Tun bis dahin genug sei, oder ob anderes, ob mehr in ihm beschlossen liege; jeder mußte in sich forschen, ob er Rabbi, Lehrer sei oder Erfüller, Messias. Das tat Jesus. Zu dieser Prüfung ging er in die Abgeschiedenheit der Wüste, dahin, wo die Essäer und Menschen von der Art des Elijahu und des Johannes sich zur letzten Schau sammelten.

Drei Anforderungen stellte das Bewußtsein der Menschen in jener Zeit an den Begriff des Messias. Er sollte der König-Messias sein, der Vernichter der heidnischen Welt, als deren nahester Repräsentant Rom sich darbot. Die schweren Schicksale der Freiheitskämpfer in seiner Umgebung können Jesus nicht ermutigen, diesen Weg zu gehen. Vielleicht kann er ihn auch nicht bejahen, weil er mit den gemäßigten Pharisäern an den geistigen und nicht an den materiellen Widerstand glaubt. Die zweite Anforderung an den Messias war, daß er ein großer Weiser der Thora sein müsse, und zwar ein Weiser im Sinne des Jesaja, vom Herzen her und nicht vom Gehirn her. Wenn es nicht die Bescheidenheit in Jesus war, die sich diese Eigenschaft absprach, so war es doch zum mindesten seine Erkenntnis, daß in dieser Zeit das Verstehen notwendiger sei als das Wissen und daß die Entwicklung der Dinge das Wissen arg in Mißkredit gebracht hatte. Die dritte Anforderung war, daß der Messias dem Menschen das irdische Glück, die irdische Sorglosigkeit verschaffen müsse. Darin lag die tiefe Erkenntnis eingeschlossen, daß eine dauernde tägliche Not eine schlechte Grundlage für die freie seelische Entfaltung sei. Aber dem sinnenden Galiläer, der selber in der Bedürfnislosigkeit aufgewachsen war, dem das Beispiel eines in Armut und Askese lebenden Johannes vorschwebte, konnte solcher Gedanke keine Aufgabe und Verlockung sein. Über das Materielle des Lebens 217 ist er auch später leicht hinweggegangen, als Reiche, insbesondere Frauen, ihn und seine Jünger unterstützten.

Diese drei Ideen sind es, die in der Sprache der Evangelien und in ihrer symbolischen Bildhaftigkeit vorgeführt werden. Alle drei muß Jesus verneinen. Das heißt: er fühlt die Möglichkeit, sie alle drei zu erfüllen, nicht in sich. Das Ergebnis dieser Selbstprüfung erscheint als Resignation. Jesus schweigt, und die Berichte schweigen über ihn in der nächsten Zeit.

Dann geht nach einer Weile die Kunde durch das Land, daß Johannes vom Schauplatz seiner Wirksamkeit durch die Gewalt hinweggenommen worden sei und daß das Amt, zu dem er sich bekannte, sein Schicksal an ihm erfüllt habe. Und plötzlich ist Jesus wieder da und predigt. Was ist inzwischen geschehen? Nichts sei geschehen, antworten vorsichtige Historiker. Alles ist geschehen, meinen wir. Denn das, was ihm in der Wüste widerfahren ist, hat untergründig so nachgewirkt, wie alles wahrhafte Erleben nicht wirkungslos bleiben kann. Er hat für den Augenblick und für den Anschein resigniert, und doch sind seine Kämpfe in der Wüste nichts anderes als die Geburtswehen einer Berufung, wie die religiöse Gewalt des Judentums sie unzählige Male hervorgebracht hat. Wohl keinem der Propheten ist dieser Entscheidungskampf der Seele erspart geblieben. Insgeheim hatten sie alle Furcht vor dem großen Amt. Schon Moses vor dem brennenden Dornbusch wehrte sich mit fast weinender Verzweiflung gegen seine Berufung. Auch ein Amos geht nicht freiwillig als Verkünder in die Welt. Aber es stößt ihn so lange, bis er nachgibt: »Der Löwe brüllt, wer sollte sich nicht fürchten? Jahve hat geredet, wer sollte nicht Prophet werden?«

Aus dem ursprünglichen Sich-Verweigern ist jetzt das Nachgeben geworden. Er geht nach Galiläa zurück, aber nicht, um wieder seinen alltäglichen Beruf aufzunehmen, sondern als ein Prediger, der um einer bestimmten, wenn auch noch um einer verheimlichten Wirkung willen predigt. Wie Johannes es tat, 218 wirbt er jetzt um Gefolgschaft. Zwei Brüderpaare gehen mit ihm, Simon und Andreas, und die Söhne des Zebedäus, Jakobus und Johannes. Er zieht durch die Orte und predigt in den Synagogen, und das Volk hört ihm zu, wie es jedem Rabbi zuhört, der ihm etwas zu sagen hat. Aber es ist in dem, was er predigt, schon eine besondere Note, die für das erste Aufhorchen nichts enthält, was mit der Anschauung der Zeit, mit der Idee des Messianismus und mit der verpflichtenden Kraft und Geltung der Thoragesetze irgend in Widerspruch stände. Es ist scheinbar nur eine formale und eine sprachliche Eigenart; die formale derart, daß er die Gleichnisse liebt, die sinnfällige Einkleidung sittlicher Ideen in Vorgänge des Alltags, eine plastische Form, die weit tiefer als die gelehrte Sachlichkeit der Pharisäer in die Herzen eindringen kann. Und die sprachliche Eigenart: daß ungezählte Male die Antithese zu einer These mit den Worten beginnt: »Ich aber sage euch . . .« und daß er von sich selber immer wieder als »der Menschensohn« spricht.

Das ist nicht mehr sprachliche Eigenart. Das ist schon Bekenntnis; ein verhülltes zwar, aber doch ein Bekenntnis als Messias, weil sonst nicht zu begreifen ist, daß er überhaupt wieder zu predigen beginnt. »Menschensohn«, Ben Adam, heißt zwar seinem Ursprung nach nichts anderes als Mensch schlechthin, besonders im Gegensatz zum Tier und zum Engel. Aber daneben hat sich allmählich ein anderer Sinn herausgebildet, insbesondere seit dem Buch Henoch; und dann bedeutet es eine Umschreibung für »Messias«. Indem Jesus dieses Wort benützt, bald in diesem, bald in jenem Sinn, aber mit betonter Häufigkeit, vermischt er den Begriff »Ich« und den Begriff »Messias«, läßt er die Möglichkeit der Identifizierung zu, verhüllt er und bekennt er zugleich.

Aber es stellt sich sehr bald heraus, daß es sich hier um das Bekenntnis zu seinem Amt als Messias in einem ganz besonderen Sinne handelt, eines Messias nämlich, der nicht mehr die Sehnsucht eines Volkes zu erfüllen gedenkt, sondern der mit 219 einem persönlichen Anspruch auftritt. Zwar hat Jesus in der Wüste resigniert und hat dann doch die Berufung auf sich genommen, aber in jener Resignation hat er sich auch verweigert, hat versagt, verneint. Daß er in dieser Situation der inneren Prüfung verneint hat, ist aus seinem Leben nicht mehr zu streichen. Er erkennt es nicht, aber es wirkt sich aus. Diese Selbstprüfungen in der Wüste nennen die Evangelien »Versuchungen«. Es sind nach allen Gesetzen des seelischen Ablaufs aber doch Prüfungen. Sie mußten nach der Tendenz seiner Nachfolger umgedeutet werden, um den seelischen Bruch in Jesu Leben zu überdecken und zugleich für die Nachkommenden eine gegensätzliche Haltung zu rechtfertigen. Die drei Widerstände Jesu gegen die drei Versuchungen, oder die dreifache Verneinung einer dreifachen Aufgabe bedeuten sein Schicksalsproblem als Mensch. Was der Gestaltung seines Schicksals die besondere Note gibt, ist eben, daß er ständig sein Persönliches, sein privates Ich in seine Tätigkeit, in seinen Vorstellungskreis und in seine Willensbildung einbezieht. Das muß er jetzt tun. Er hatte mit der dreifachen Verneinung aufgehört, Funktionär der Idee zu sein. Er konnte den Menschen schon von diesem Augenblick an nicht mehr aus ungebrochener Kraft geben, was von ihm zu fordern sie ein Recht hatten, wenn er sich als Rabbi, als Lehrer und heimlicher Messias vor sie hinbegab. So wuchs die Konzeption seiner messianischen Idee letztlich aus der Flucht vor den Menschen, mit deren Gedanken, Hoffnungen und Gefühlen er sich zu treffen nicht mehr in der Lage war. Er verfehlte das Erlebnis »Gesamtheit« und landete beim Erlebnis »Ich«. Und so, wie er in seiner Beziehung zur Gemeinschaft zerbrach, mußte er auch mit ihrem großen tragenden Untergrund, der Welt, zerbrechen. Er mußte sie letztlich verneinen. Alles, was die Welt ihm zuschickte an Widerstand, Prüfungen, Kränkungen, bezieht er auf sich und weicht zurück, isoliert sich, und isoliert damit seine Lehre gegen die Welt. So isoliert im Wesen und in der Idee und so 220 von seinem Ursprung abgetrennt, ging er zwar seinem Volke verloren; aber dafür konnte ihn eine Zeit, die am religiösen Erleben des »Ich« je und je gescheitert war, für sich in Anspruch nehmen und ihn zum Ziel ihrer gläubigen Unterordnung machen. Aber eine Erlösung konnte ihr nicht zuteil werden, weil sie in der Welt leben bleiben mußte.

Er war sich, wie gesagt, dieses Bruches nicht bewußt. Er wollte noch für das Volk und in seinem Volke wirken. Wie er seine Apostel ausschickt, gibt er ihnen ausdrücklich die Anweisung: »Geht nicht auf der Heiden Straßen und zieht nicht in der Samaritaner Städte, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.« Und wie er den Verfolgungen seiner Gegner ausweicht und selber heidnisches Gebiet betritt, stößt er eine Kanaaniterin, die ihm ihr krankes Kind zur Heilung bringt, rauh von sich und sagt ihr, man dürfe nicht den Kindern das Brot nehmen und es vor die Hunde werfen. Zwar heilt er das Kind auf Flehen der Mutter dann doch, aber er hat sich da in einem eklatanten jüdischen Chauvinismus verraten. Sein Wirken gilt bewußt den Juden. Aber es ist etwas Seltsames um dieses Wirken. Es hat etwas Verschleiertes und doch etwas Drängendes, Werbendes. Es ist an sich, in den Tatsachen selbst, nichts Ungewöhnliches und nichts, was in der Zeit besonders auffällt. Es war methodisch in Übereinstimmung mit den Essäern. Auch sie schickten Prediger aus, weil sie glaubten, man könne das Ende der Zeiten bedrängen durch Buße. Es war ferner in den geistigen Mitteln in Übereinstimmung mit den Pharisäern und ihrer Gesetzestreue. Wie sie legt er Schrift aus, mit ihren Argumenten diskutiert er, er zitiert, was auch sie zitieren. In seinen Taten endlich war er beiden, Essäern und Pharisäern, gleich. Für das Volk waren die Essäer und die gelehrten Pharisäer Heilige und folglich auch Wundertäter.

Über diese Wunder braucht nichts in ihren Einzelheiten gesagt zu werden. Nur das ist wichtig: wie er auf seinen Reisen in seine Vaterstadt Nazareth kommt, dorthin, wo man ihn 221 kennt, wo man den Zimmermann, der mit ihnen den Alltag geteilt hat, nicht recht ernst nehmen will und wo man ihn, besonders von seiten seiner Familie, mehr als Narren denn als Heiligen betrachtet, geschieht etwas Seltsames: er kann keine Wunder tun. Die Menschen glauben nicht an ihn. Das enthüllt blitzartig den Kern der Wunder: Wunder ist alles das, wem der gläubige Mensch sich aus der Tiefe seines Herzens ausliefern will. Darum stehen alle Wunder jenseits der Diskussion. Darum sagen sie auch nichts Entscheidendes aus über die Tatsache Wunder, sondern darüber, daß er sehr viel Glauben fand.

Und er will Glauben finden. Er will unter allen Umständen wirken und Erfolg haben. Darum sendet er Apostel aus, die ihn unterstützen sollen. Darum verflucht er die Städte, in denen man ihm nicht glaubt, und droht ihnen Unheil an. Und um den Erfolg nicht zu gefährden, weist er seine Jünger an, die Städte, in denen sie nicht freundlich empfangen würden, sofort wieder zu verlassen, überhaupt sehr vorsichtig zu sein. »Seid klug wie die Schlangen.« Zugleich aber hat er eine panische Angst vor seinen Erfolgen. Er will nicht, daß man über seine Wunderheilungen spricht. Von seinem ersten Wirkungsort, Kapernaum, der Heimat des Simon, geht er fluchtartig fort, damit keine neuen Wunder von ihm verlangt würden. Daß die Erfolge seiner Jünger die Aufmerksamkeit auf ihn lenken, beunruhigt ihn und treibt ihn nach Bethsaida, wo er sich ohne Anhang aufhält. Und wie seine Gegnerschaft im Lande wächst, stellt er sich ihr nicht gegenüber und bekennt: »Ich bin der Messias«, sondern er wechselt unaufhörlich den Ort und geht sogar für einige Zeit in das Ostjordanland, wo überwiegend Heiden wohnen; und tut es noch ein zweites Mal, indem er nach Cäsarea-Philippi geht. Da nun vollzieht sich etwas Entscheidendes. Der gewohnten Umgebung, dem gewohnten Anhang entrissen, ohne die Resonanz, ohne die er nicht mehr leben kann, fragt er die Jünger: »Was sagen die Menschen von mir? Für wen halten sie 222 mich?« Er weiß es gut, für was die Menschen ihn halten: für einen Rabbi oder für einen Wundertäter oder einen Propheten. Aber er will hier jetzt die Antwort hören, der er bislang mit allen Mitteln ausgewichen war: daß er der Messias sei. Simon gibt sie ihm und wird dafür mit einem Geschenk von unsterblichem Wert belohnt: mit dem Namen Petrus. Und doch verbietet er seinen Jüngern noch, darüber zu reden.

Was bedeutet dies alles: dieser Wirkungswille, dieses Ausweichen vor dem Erfolg, dieses Verheimlichen seiner Berufung und dieses Herausfragen der Bestätigung aus dem Munde seiner Jünger? Das bedeutet, daß immer noch und in ständig wachsendem Maße der Bruch mitschwingt, der aus dem Verneinen und Versagen kam. Aus diesem Bruch kommt die heimliche Angst vor dem offenen Bekenntnis, aus diesem Bruch der gesteigerte, ausgleichende, überkompensierende Wirkungswille, das Bedrängen der Dinge und Vorgänge, aus diesem Bruch der Wunsch, nicht Messias gerufen zu werden, und doch die heimliche Sehnsucht, daß endlich einmal ein Mensch ihn Messias rufen möge und nicht nur Prophet. Dieser Bruch hat die klare Fassung des Menschen als Messias eines Volkes gespalten und hat der Person, der Persönlichkeit, dem Individuum Eingang verschafft. Durch diesen Spaltungsvorgang kann die Tragik in sein Leben eintreten. Von daher züchtet er sich Feindschaften, die nur zum Teil aus sachlichen Gegensätzen kommen und zu einem größeren Teil aus dem Hineinspielen seines privaten Daseins. Wenn der Mensch Jesus enttäuscht wird, zieht sich der Lehrer Jesus aus den Synagogen zurück. Wenn Kritik an dem Rabbi Jesus geübt wird, geht der Mensch Jesus sofort zum Angriff und oft zur Beschimpfung über. Wieviel an Zorn und Feindschaft hat er mit sich herumgetragen und in seinem Tun wirksam werden lassen. Selbst einen Feigenbaum verflucht er, weil er ihm die Nahrung verweigert, und das zu einer Zeit, wo eben nach allen Naturgesetzen noch keine Feigen auf den Bäumen wachsen. Das ist alles menschlich und verständlich, sind 223 Manifestationen eines vom Ichgefühl her zerrissenen Menschen, aber es ist privat und geht in den Bezirk des höchst persönlichen Schicksals ein, das weder Verallgemeinerung noch Nachfolgeschaft verträgt. Das Volk in seiner überwiegenden Masse konnte in einem so durchaus persönlich gestimmten und betonten Schicksal keinen Zwang zur Nachahmung und vor allem kein allgemeingültiges Vorbild erblicken.

Er selbst war es, der ihnen die Vorbildlichkeit seines Wandels zweifelhaft machte. Zwar war er ein treuer Hüter der Volksgesetze, zwar zahlte er den Schekel für den Tempel und hält noch im Absinken seiner letzten Tage das vorgeschriebene Passahmahl, zwar sagt er: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen«, aber doch liegt in der Art, wie er es handhabt und auslegt, wie er es begreift und gelten lassen will, der tiefe Keim einer Verneinung. Und in dieser Zeit das Gesetz verneinen, heißt die Lebensgrundlagen dieser Menschen verneinen. Diese Gesetze sind eben keineswegs kalte, paragraphierte Normen. Sie sind nur Ausdruck, Kristallisationsformen einer Lebenswelt und einer Weltanschauung. Sie sind im Wandel aller Lebensbedingungen Wege der Persönlichkeit zum Nebenmenschen und zum Göttlichen. Sie sind insbesondere in dieser Zeit Mittel zum Zweck: zur Herbeiführung der Erlösung, der Herrschaft Gottes. Sie haben als Unterweisungen (Thora heißt Weisung) bei aller nationalen Besonderheit die große universalistische Zielrichtung: zu allen Menschen, zur ganzen Welt. Bei Jesus sind die Verneinungen oft nur Bejahungen von einem tieferen Verständnis für die Psyche her, und immer dann ist er tausendfach im Recht gegenüber denen, die das Gesetz um des Gesetzes willen lieben, und tausendfach in Übereinstimmung mit denen, die gleich ihm den lebendigen Menschen über das Gesetz stellen. Wenn er mit Zöllnern und Sündern verkehrt und wenn seine Gegner ihm daraus einen Vorwurf machen, darf er ihnen zu Recht antworten: »Die Gesunden bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken«, und er 224 muß feststellen, daß seine Gegner sich mit diesem Argument zufriedengeben. Aber das ist ein fast einmaliger Vorgang, der überdeckt wird von allen denjenigen Vorgängen, in denen er, wenn vielleicht nicht immer der Sache nach, so doch der Form und vor allem seiner Reaktion nach im Unrecht ist. Immer, wenn an seinem Verhalten Kritik geübt wird, sei es wegen der Verletzung der Sabbatruhe oder der Speisegesetze, sei es, weil er, während andere dem Aufruf zur Buße folgen, zu Trinkgelagen geht, immer dann geht er zum Angriff über. Er ist jeder anderen Auffassung gegenüber von einer erstaunlichen, undemütigen Unduldsamkeit, von einem fanatischen Hochmut. Was er tut, verlangt er bedingungslos anerkannt. Während er Milde und Liebe predigt, schimpft er seine Gegner Heuchler, Otterngezücht, Schlangen und seinen Jünger Simon einen Satan, und die Heiden Hunde, verflucht den Feigenbaum und verflucht Städte, verneint, verachtet, verwirft hemmungslos alles, was ihm nicht huldigt, und wenn es seine eigene Familie ist. Und jeder Widerstand treibt ihn rückwärts, in die Auflösung, in die tiefere Verneinung.

So steht hier die Verneinung dessen, was die Menschen auf Grund seines Wirkens von ihm erwarten dürfen, in einer dreifachen Schichtung: in dem Unvermögen, die Gesetze und die Gesetzmäßigkeiten des Kollektivums Volk zu erkennen, in der Flucht vor dem Anfordern der Wirklichkeit und dem Zurückweichen in ein Reich, das nicht von dieser Welt ist, und endlich in der Übersteigerung seiner persönlichen Reaktionen, die letztlich eine Identifizierung seines Berufungsamtes mit seinem privaten Dasein sind. Aber was dem Menschen erlaubt ist, kann dem Messias durchaus untersagt sein. Unter diesen Umständen kann es nicht ausbleiben, daß das Volk, gewiß unter dem Einfluß seiner Gegner, ihm die anfängliche Gefolgschaft versagt und sich enttäuscht von ihm abwendet. Er muß auf der Höhe seines Wirkens einen überschnellen Abstieg erleben. Er hat sich nicht bewährt. Er mag für das Volk noch ein Prophet sein, 225 aber er ist nicht der Mann, der es wagen durfte, sich ihm als der in der Zeit berufene Messias zu präsentieren.

Das ist der innere Sinn der Vorgänge in Cäsarea Philippi, und das ist der eigentliche Grund, warum er beschließt, nach Jerusalem zu gehen, um in das Zentrum der jüdischen Welt verzweiflungsvoll hineinzustoßen und um die Erfüllung seiner Mission zu berennen und zu erzwingen. Das ist ein Vorgang von beklemmender menschlicher Tragik, ein Entschluß, der ohne Freudigkeit und Hoffnung gefaßt wird, der schon überlagert ist von dunklen Ahnungen, es möchte ihm auch dort verweigert werden, was ihm hier nicht zur Erfüllung gediehen ist. Und es ist noch weit tragischer, daß das Volk selbst an diesem Entscheidungskampfe seines Rabbi und seines Propheten keinen Anteil mehr nimmt. Es hat ihn schon fast vergessen, nimmt keine Notiz mehr von ihm. Alles geht seinen Gang aus ihrem eigenen Geschick weiter. Die lebendigen Probleme des Volkes bleiben unvermindert und ungelöst bestehen. Ihr Streben und ihre Erwartungen verdichten sich zum Freiheitskriege gegen Rom und für das Reich der Theokratie, als habe Jesus nie gelebt, als sei nicht die Spur einer Zielsetzung von ihm ausgegangen. Der Historiker notiert nur, daß die ersten Anhänger der neuen Glaubensform am Vorabend dieser großen Entscheidungsschlacht, eine Sekunde vor dem Fallen des Vorhanges, aus Jerusalem flohen und sich vom Schicksal ihrer Brüder lossagten.

Während so der Messias seine Rolle schon ausgespielt hat und es doch nicht wahr haben will, beginnt in aller Wirklichkeit und Schwere der Leidensweg des Menschen. Da er dieses Leiden ahnt, spricht er seinen Jüngern davon, und es ist nur folgerichtig, daß er den Ausdruck der Zeit »Cheble moschiach jabo le'olam«, Geburtswehen der Welt, die den Messias erwartet, nicht, wie es allein möglich ist, auf die Leiden des ganzen messianischen Zeitalters bezieht, sondern nur auf sich persönlich. Auch nur aus dem Leidgefühl, aus der Beklemmung, er möchte 226 in Jerusalem ganz verlassen dastehen, ist zu erklären, daß er seinen Jüngern, wenn sie ihm nur folgen wollen, große Ehren in dem Reiche verheißt, das er jetzt herbeiführen will. In solcher Verheißung erscheint sein messianisches Ideal noch einmal in all seiner Mischung von geistigen, materiellen und politisch-weltlichen Elementen, also rein jüdisch-messianisch. Er stellt sich auch noch einmal bewußt in die jüdische Tradition hinein. Auf den Einwand, es müsse vor dem Messias ein Vorläufer, Elijahu erscheinen, erklärt er, daß Elijahu bereits in der Gestalt des Johannes erschienen sei. Er wählt auch für seine Reise bewußt die Zeit des Passah, des Befreiungsfestes der Juden und nicht der Heiden etwa.

Er schlägt sein Quartier in Beth Phage, der äußersten Vorstadt Jerusalems, auf. Sein Wille zur Wirkung verlangt jetzt symbolische Demonstrationen. Da nach der Prophetie des Secharja der Messias der Juden demütig und auf einem Esel reitend erscheinen wird, hält er in dieser Weise seinen Einzug in Jerusalem. Die Legende hat den Vorgang verklärt. In Wirklichkeit wurde er kaum wahrgenommen. Hier und da gab es unter den zusammengeströmten Wallfahrern Menschen, die ihn als den Propheten aus Nazareth kannten. Er kann sich zum Tempel begeben – wie es übrigens seine Pflicht als Jude war – und kann ihn wieder verlassen, ohne daß irgend etwas geschieht. Abends zieht er sich wieder nach Beth Phage außerhalb der Stadtmauern zurück. Er erscheint am zweiten Tage wieder, um sich in einer neuen symbolischen Handlung auszuwirken. Im Vorhofe des Tempels wurden möglicherweise – es ist historisch durchaus nicht belegt – Tauben für Opfer verkauft und Münzen eingewechselt, weil die Münzen mit dem römischen Kaiserbildnis im Tempel wegen des Bilderverbotes unmöglich verwendet werden durften. Es wird an dieser praktischen Vorrichtung niemand Anstoß genommen haben, so wenig wie heute, wo an zahllosen heiligen Stätten des christlichen Kults Handlungen mit Devotionalien aufgeschlagen sind. Aber Jesus geht 227 mit seinen Jüngern zum Angriff über und verjagt Händler und Wechsler mit Gewalt von ihren Plätzen. Es ist eine Symbolhandlung von recht zweifelhaftem Wert. Aber dennoch gefällt sie dem Volke. Solche Prediger und Führer und Anwärter auf das Amt eines Messias, die mit fester Hand Dinge geschehen lassen, kennt es und begrüßt es immer von neuem, denn jede Tat ist gut, die Energie verspricht und Aktivität gegen den Unterdrücker Rom. So hat Jesus viel Sympathie gesammelt, wie er abends wieder nach Beth Phage ausweicht.

Es ist ein Ausweichen, denn er kann nicht darüber im Unklaren sein, daß solche Handlungen Widerspruch hervorrufen müssen. Er bekommt sie am anderen Tage zu spüren, wie er wieder in den Tempel geht. Die Priester fragen ihn nach der Autorisation seines gestrigen Tuns. Er weicht aus. Er stellt, ganz ein Pharisäer, eine Gegenfrage und verweigert, da sie ihm nicht antworten können, selber die Antwort und das Bekenntnis. Sie diskutieren mit ihm, offenbar in der Absicht, etwas Verfängliches von ihm zu hören. Beide, Jesus vor allem, bedienen sich dabei der üblichen, pharisäischen Methode. Jesus bekennt sich in Gleichnissen als der Messias, aber er vermeidet jede Präzision. Er weicht allen Schlingen sorgfältig aus. Aber gerade in diesem Ausweichen fängt er sich. Sie fragen ihn, ob man dem Kaiser Tribut zahlen dürfe. Das Volk erwartet die Antwort des Revolutionärs: Nein! Jesus sagt: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« Das sagen auch die gemäßigten Pharisäer, und sie handeln sogar danach. Aber das Volk begreift nur: der da ist doch nicht der Messias, der uns von der Welt der Heiden erlöst. Damit hört auch in Jerusalem das Interesse für ihn bei der Volksmenge auf. Niemand liebt ihn. Das Volk ist gleichgültig. Die Priester und die extremen Pharisäer sind seine Gegner. Gegner sind auch die Sadduzäer, die die eigentliche Macht in der Stadt haben und von den ewigen Revolten und Unruhen, die ihnen immer neue Repressalien der Römer eintragen, nervös und gereizt geworden 228 sind. Und jetzt kommt noch ein persönlicher Gegner hinzu, Judas Isch Kerijoth, Judas Js'charioth in abgekürzter Aussprache. Er ist der einzige Jünger, der von Judäa her zu ihm nach Galiläa gekommen ist. Er glaubte leidenschaftlich an diesen Messias. Jetzt sieht er, daß es ein Irrtum war. Vor ihm steht keine leuchtende Bereitschaft, kein glühender Erfüllungswille, sondern ein Wirkungswille, ein Mensch in Not mit Unklarheiten und Ausweichen und stolzer Anmaßung und ohne klare Zielsetzung für das Volk, aus dem er hervorgegangen ist. Er ging aus, einen Messias zu suchen. Er fand einen Menschen. Aber Menschen, auch leidende, von Tragik umwitterte Menschen gibt es in dieser Zeit genug. Dafür braucht er nicht Jesus; und in seinem Herzen bricht er mit ihm.

Es kommt der nächste Tag und mit ihm der Abend, an dem das Passahmahl einzunehmen ist. Jesus nimmt es mit seinen Jüngern in Jerusalem ein, streng nach allen Gebräuchen der Gesetze. Er fügt sich auch dem Brauch, daß diese Nacht, die auf das Mahl folgt, in Jerusalem selbst verbracht werden muß. So darf er nicht wieder nach Beth Phage zurückkehren. Er geht auf den Ölberg und nächtigt dort mit seinen Jüngern in einem Garten. Dicht neben ihm ist die Stadt, von der er weiß, daß er keinen Freund und fast nur Feinde darin hat, daß er ihr ausgeliefert ist, weil er sie mit Worten und Taten dazu aufgerufen hat, für ihn oder gegen ihn Stellung zu nehmen. Er mußte es tun, weil es der Zweck seines Kommens war, der abschließende Zweck. Aber daß er gescheitert ist, dringt in ihn mit brennender, tödlicher Angst ein. Sein Glaube, zur Erfüllung gesandt zu sein, sinkt unter Todesfurcht zusammen. Und in dieser Furcht bricht der Trieb des Menschen zur Selbsterhaltung elementar aus. Der Galiläer in ihm ringt sich durch. Er will, daß seine Jünger sich Schwerter kaufen und daß sie kämpfen, wenn seine Gegner kommen, um ihn zu fangen. Es ist die Ekstase dessen, den sein Amt nicht mehr trägt und dem es folglich keinen Frieden mehr geben kann. In dieser reinsten menschlichen 229 Stunde seines Daseins bricht der Notschrei der gequälten, unvollendeten Kreatur in die Nacht hinein: »Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch von mir.« Aber da er ringsum keine Spur und kein Anzeichen von Hilfe sieht, da selbst die Jünger neben ihm eingeschlafen sind, beugt er sich zum erstenmal mit wahrer Demut unter das Geschick: »Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.«

Inzwischen haben die Sadduzäer, die damals im Synhedrion die Majorität hatten, sich mit den Priestern beraten. Sie beschließen, den Mann aus Galiläa vor das Gericht zu stellen, nicht nur wegen der bisherigen Handlungen, sondern auch wegen Erklärungen, aus denen sie keinen Sinn und damit jeden bedenklichen Sinn entnehmen können, etwa derart, er werde den Tempel niederreißen und einen anderen aufbauen. Also wird er verhaftet. Zeugen sagen gegen ihn aus, ohne etwas Entscheidendes zu bekunden. Jesus bleibt stumm. Nur als der Hohepriester Joseph ben Kaiapha ihn fragt, ob er der Messias sei, antwortet er: ja, er sei der Menschensohn, der »zur Rechten der Kraft« sitzen werde. Da zerreißt der Hohepriester sein Kleid, das Symbol, mit dem einer auf das Anhören einer Gotteslästerung antwortet. Er ist dazu im Recht; Jesus hatte nichts bisher gesagt, getan oder bewirkt, was zu seiner Anerkennung hätte zwingen können. Sein stärkstes Argument war immer gewesen: »Ich aber sage euch . . .« Dieses Argument hatte für die, an die es gerichtet war, keine überzeugende und verpflichtende Kraft. So blieb nur die Anmaßung, oder – in der religiösen Sprache gefaßt – die Gotteslästerung.

Das Synhedrion hat sich auf diese Voruntersuchung beschränkt. Sie war nicht gerade gründlich. Das ist verständlich in Zeiten der latenten Revolutionen. Sie ging auch weder vom Volke noch von den Pharisäern aus, sondern von den Oligarchen, den Sadduzäern, die gerade in diesen Tagen den Aufstandsversuch eines Barnabas erlebt hatten. Sie zogen aus den politischen Vorgängen der Zeit die Konsequenz, enthoben sich 230 der peinlichen Notwendigkeit, so oder so ein Urteil zu fällen, und lieferten Jesus dem römischen Landpfleger Pontius Pilatus aus. Das jüdische Volk hatte von da an mit Jesus nichts mehr zu tun. Daß die christlichen Berichte hier den Tatbestand ändern und auch den Rest der Verantwortung den Juden auferlegen, ist aus ihrer Furcht heraus, Rom die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, verständlich, wenn auch nicht verzeihlich.

Vor Pilatus spielt sich das letzte Verfehlen und Mißverstehen ab. Es ergeht die berühmte Frage: »Bist du der König der Juden?« Für den jüdischen Begriff der Zeit, für den Begriff König-Messias liegt hier ein ganz anderer Sinn beschlossen als für den Römer. Für ihn ist die Benennung so oder so die Anmaßung eines Amtes und einer Befugnis, die gegen die römische Autorität gerichtet und folglich Hochverrat ist. Wenn Jesus antwortet: »Du sagst es«, so ist das ein Bekenntnis und ein Ausweichen zugleich, jedenfalls etwas, womit er sein Schicksal beschloß und sich ihm auslieferte.

Und so erschlug ihn das Geschick, das ein Geschick des Juden war, das Geschick einer Zeit und das Geschick eines Menschen aus der Zeit, der seinem Volke nach seinen besten Kräften hat dienen wollen. Es ist nicht sein Verdienst, sondern seine Tragik, daß das Persönliche, das Subjektive, das Individuelle und Private in seinem Wesen die Begegnung mit seinem Volke, die er aus der Tiefe seines Herzens ersehnte, verfehlt haben. Aber über seinen Tod hinaus ist das Geschick ihm gnädig gewesen und hat ihm im Geiste derer, die sich seine Nachfolger nannten, in anderen Welten und anderen Bezirken die Unsterblichkeit verliehen.

Das Volk aber mußte sich ihm verweigern. Nach dem Schicksalsgesetz seines Volkes mußte er eine unvollendete Laufbahn unter Qualen abschließen. Sie haben ihn fallenlassen als einen Menschen der unzureichenden Erfüllung und haben ihn Rom und seiner Art der Strafe überlassen. Er wurde gekreuzigt. Er schrie in seiner letzten Not zu Gott den Vorwurf hinauf, warum 231 er ihn verlassen habe. Er schrie es in den Mutterlauten seiner galiläischen Heimat, der aramäischen Sprache. Aber er schrie nicht allein. Hunderttausende schrien in dieser Zeit, und viele Tausende der Besten auch am Kreuze. Er litt ein schweres Schicksal. Andere litten es auch. Der Schrei des Einen, der Schrei der Hunderttausende – die Martern des Einen, die Martern der Hunderttausende: nach welchem Recht wiegen der Schrei und das Schicksal des Einen mehr als die der Hunderttausende? Wo liegt das menschliche oder das himmlische Recht, nach dem für den Tod des Einen seine Nachfolger millionenfachen nackten Mord auf sich geladen haben? Vor Gott und vor dem Sinn jedes Daseins, vor der Gerechtigkeit im All und im Sinn der Welt ist Schmerz gleich Schmerz und die Not der Seele das erhabene Schicksal jeder Kreatur. Für die Juden ist das Schicksal Jesu in die Tragik ihres eigenen Lebens und Erlebens einbezogen. Nostra res agitur. Es geht hier um unsere Dinge.

 


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