Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Islam

Der Abschluß des babylonischen Talmud stellte die geistigen Führer und die Akademien vor eine seltsame, beängstigende 300 Situation: ihr Arbeitsgebiet war erschöpft. Noch gab es hier und da zu feilen, Ergänzungen zu vermerken, Stilkorrekturen anzubringen. Aber eines Tages stand das Werk fertig da. In dem gleichen Augenblick begann es, von dem konzentrierten Leben, das darin eingefangen war, Kräfte abzugeben, so wie ein radiumhaltiger Körper – scheinbar ohne Substanzverlust – unaufhörlich Energie ausstrahlt. Der Talmud wurde eigenlebig. Er formte die Menschen, im Guten wie im Bösen.

Zwar konnte er, da man neue Gesetzesableitungen nicht für zulässig hielt, nicht wieder neues Gesetz aus sich entlassen; aber er konnte etwas weit Wichtigeres tun: er konnte seinem Bestand an wirklichen und möglichen Gesetzen zur Realisierung verhelfen; er konnte sie wie ein dicht geknüpftes Netz über alle Juden legen, über ihren Feiertag und über ihren Alltag, über ihren Handel und über ihre Gebete, über ihr ganzes Leben und jeden einzelnen Schritt. Diese Funktion übte er aus, und ihr verschrieben sich auch die Gelehrten und die Akademien. Sie regulierten die Anwendung des Talmud auf das Leben.

Ein seltsames Leben kam da zustande. An der Wolga und am Rhein, an der Donau und an den Küsten des mittelländischen Meeres feierten Juden die gleichen Feste, am gleichen Tage mit gleichen Riten, fertigten sie Eheurkunden nach gleichen Normen an, aßen und tranken sie nach gleicher Vorschrift, nahmen sie in den Bund auf und trugen sie zu Grabe nach gleichem Gesetz und Brauch. Nichts in ihrem äußeren Dasein war mehr der Willkür und der Zufälligkeit anheimgegeben. Der Prozeß, der mit der Zerstörung des Nationalstaates begonnen hatte, wird konsequent fortgesetzt: die Uniformierung im Verhalten der Einzelpersönlichkeit. Der Talmud wurde die übermäßig harte Rinde um einen Kern, der erhalten bleiben wollte. Er überkrustete das Herz des Juden mit einer Geistigkeit, die sehr kalt, aber sehr konservierend war. 301

Überall dort, wo die Juden auf ungünstige Lebensverhältnisse stießen, zogen sie sich ohne Widerstand hinter die Schutzmauern des Talmud zurück und fühlten sich da geborgen. Aber überall da, wo das äußere Leben leichter und reibungsloser ablief, konnten sie die Frage nach der Notwendigkeit und Berechtigung dieser straffen Fesselung stellen. Das ergab eine stille Haltung der Opposition; aber sie betraf – und das ist charakteristisch – meist nicht das Gesetz als solches, sondern die Befugnis, den Geist auch außerhalb des Gesetzes schöpferisch werden zu lassen. Aus solcher Haltung sind zwei wichtige Bewegungen im Judentum entstanden: die Abspaltung der Karäer im 9. Jahrhundert und der große Kulturkampf des 13. und 14. Jahrhunderts; jene als Kampf um das Gesetz, dieser als Kampf um die geistige Freiheit; jene als in sich vergeblicher Versuch, da das Gesetz Lebenselement war, dieser mit mächtigen Erfolgen, da ebenso die schöpferische geistige Freiheit integrierender Bestandteil des Judentums war; jene in Babylonien, dieser in Spanien mit der Angriffsrichtung auf die ganze übrige jüdische Welt; beide aber in der Reichweite einer neuen geistigen Einheit: des Islam.

Der Islam als eine zugleich nationale und religiöse Einheitsbewegung nimmt seinen Ausgang von semitischen Volksstämmen, die bis zum Beginn des 7. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung von der Geschichte gleichsam vergessen schienen. Sie lagen nicht an der großen Straße, auf der die Weltkulturen sich trafen und sich auseinandersetzen mußten. Von drei Seiten umgab sie absonderndes Meer. Nur der nördliche Teil Arabiens war von Kulturgebieten flankiert, westlich vom byzantinischen Syrien und Palästina, östlich vom persischen Babylonien. Während die Mitte der großen Halbinsel noch von nomadisierenden Beduinen besetzt war, hatten sich in den Randgebieten schon Städte und Reiche gebildet, am Roten Meer im Norden Hedschas, im Süden Jemen, im südlichen Babylonien Irak, im südlichen Syrien das Reich der Ghassaniden. 302

Durch diese Randgebiete vermochte die Kultur der Umgebungen konzentrisch in das Land einzudringen und die Kräfte, die dort bereit lagen, zu einer vehementen Auslösung zu bringen. Die Qualitäten aller dieser Stämme, Gruppen, Verbände, Stadtschaften und Reiche waren bei aller Verschiedenheit der Betätigung, Lebensweise und Nähe zu anderen Kulturkreisen doch in den Grundlinien einheitlich bestimmt durch zwei Elemente: durch ihr Semitentum und ihr noch intaktes Nomadentum.

Das Semitentum hat bestimmte religionsschöpferische Qualitäten. Sie bestehen in der Möglichkeit, die Summe aller kosmischen Beziehungen zu Ende zu denken und zu erleben, daraus eine übergeordnete, einheitliche Idee abzuleiten, sie zu einer monotheistischen Gottesauffassung zu verdichten und sich den Verpflichtungen, die aus diesem Gottesbegriff erwachsen, mit aller Strenge, bis zum Fanatismus unterzuordnen. Daher bekommt ein Nomadentum, wenn es mit solchen geistigen Möglichkeiten versehen ist, eine besondere pathetische Färbung, die ihr Kolorit aus dem Widerspruchsvollen empfängt. Ein solcher Nomade liebt die Freiheit bis zum Exzeß und kennt den unterwürfigen Gehorsam bis zur sklavischen Haltung; er liebt den Edelmut der Wahrheit über alles und verehrt den Listigen um seiner geistigen Beweglichkeit willen; er ist duldsam und intolerant; er schenkt mit großer Gebärde und sieht in einem Raubzug etwas Heldenhaftes; er dichtet über Freundschaft und treibt die Blutrache bis zur Erschöpfung ganzer Geschlechter; er kann über ein Liebeslied in Erschütterung geraten und kann mit der brutalsten Grausamkeit morden. Er ist ein naturnahes Kind unmittelbar vor seinem Erwachen zur Verantwortlichkeit.

Diese einheitliche Haltung des Arabers war zu der Zeit, die uns hier angeht, schon durch vielfache Einflüsse aufgelockert und labil gemacht. Sie waren zwar noch Polytheisten und hatten sich in Mekka einen Sammelpunkt aller ihrer Gottheiten 303 geschaffen, aber sie kannten daneben – oder darüber – auch schon einen unsichtbaren Gott, der der Vater aller anderen Götter war: Allah. Ihn verehrten sie in einem großen Stein, um den ein Tempel errichtet war. Aber die Araber im Irak schlossen sich schon entweder den babylonischen Juden oder den persischen Feueranbetern an. Die Ghassaniden sympathisierten mit dem Christentum, und auch von Syrien und Äthiopien her betrieb Byzanz im südlichen Arabien mit Missionaren und Soldaten seine Propaganda mit diesem und jenem Erfolg. Daß Juden wie Christen wie Perser bei ihrer absichtlichen oder unabsichtlichen Werbung Erfolge erzielen konnten, beweist, daß die bisherige religiöse Denkform der Araber bereits in der Auflösung begriffen war.

In einem sehr wichtigen Punkte war sie im übrigen schon seit Jahrhunderten nicht mehr eigenes Erzeugnis; in bezug auf ihre historische Tradition. Sowohl die nördlichen wie die südlichen Stämme führten ihre Geschlechter auf Gestalten der jüdischen Überlieferung zurück; der Norden auf Ismael, den Sohn der Hagar, der Süden auf Joktan, den Sohn des Eber. Damit war nicht nur ihre stammesmäßige Verwandtschaft mit den Juden angedeutet, sondern zugleich eine religiöse Affinität, weil im semitischen Nomadentum die stammesmäßige mit der glaubensmäßigen Tradition fast stets identisch ist. Diese Nähe wurde aufrechterhalten und unterstützt durch die Tatsache, daß ganz Arabien von langen Zeiten her mit jüdischen Siedlungen durchsetzt war. Die arabischen Juden unterschieden sich – bis auf ihre Religion – kaum von ihrer Umgebung. Sie lebten in Stämmen, die sich, wie die Araber, auch gegenseitig befehdeten; sie wohnten in befestigten Ortschaften, teils in größeren Verbänden, die sogar im 6. Jahrhundert zur Bildung des himyaritischen Reiches in Südarabien führten; sie trieben Karawanenhandel, Gartenbau, Handwerk; sie sangen und dichteten und kämpften wie die Araber; sie waren in ihrer ganzen Lebenshaltung assimiliert. Ihr einziges Übergewicht bestand in 304 ihrer Religion und in dem Umstande, daß sie erst den Arabern eine Tradition gegeben hatten. Darum waren Übertritte zum Judentum sehr häufig.

Ein solcher Übertritt stellte nicht etwa einen sehr wichtigen Akt der Entscheidung und Umkehr dar; er lag sehr nahe, einmal aus der übernommenen nationalen Tradition her, sodann, weil die Araber doch immerhin den Begriff des einen, übergeordneten Gottes gebildet hatten; und wenn sie Allah auch viele andere Götter in Gefolgschaft gaben, so hatten sie alle diese Götter doch wiederum zu einem Pantheon in Mekka vereinigt und damit zum mindesten eine lokale Konzentration geschaffen. Sie waren Polytheisten an der Grenze des Monotheismus. Nimmt man hinzu, daß es auch unter ihnen Männer gab, die sich um die religiöse Verworrenheit und Nachlässigkeit ihres Volkes ernste Sorgen machten, so wird begreiflich, daß der prinzipielle Übergang des Arabers vom Polytheismus zur Anerkennung des einen Gottes sich in sehr kurzer Zeit und – was Arabien selbst betrifft – ohne wirklich große Aktionen vollziehen konnte. Es fehlte auch hier nur der Mensch, der den auslösenden Akt vornahm. Er bot sich dar in der Person des Mohammed.

Mohammed ist der zwiespältigste aller Religionsauslöser gewesen, den die Geschichte aufzuweisen hat. Er war von einem starken religiösen Impuls beseelt; aber dieser Impuls wird völlig richtungslos, sobald er sich nicht irgendwo anlehnen kann, und er wird schwach, sobald er nicht in der Person des Trägers, in Mohammed selbst, neue Triebkräfte finden kann. Er begreift sich als Träger einer neuen Botschaft, aber er kann sie nur begreifen, indem er sich nach rückwärts fundiert und alle Erzväter der jüdischen Geschichte und zugleich Moses und Jesus als seine Vorgänger betrachtet. Die Idee der Tradition hypertrophiert. Zugleich hypertrophiert bei ihm die Idee der Führerschaft, also die entgegengesetzte Richtung der Tradition; er begreift sich als den letzten und gültigen Verkünder einer 305 Wahrheit, die Anspruch darauf hat, die ganze Welt zu erobern. Das sind die zwei Hauptrichtungen des Religionsgebäudes, das er aufführt. Dazwischen liegt der Versuch, mit alten Begriffen eine neue Glaubenswelt zu errichten.

Das war kein leichtes Beginnen. Die Welt, die ihm und seiner Vorstellung und seiner Zeit erreichbar und begreiflich war, war schon in Religionen aufgeteilt. Ein Bedürfnis nach einer neuen, wie auch immer geformten Religion bestand nicht. Es war auch keine der bestehenden Religionen für eine Umformung mehr aufnahmefähig. Das Judentum, in seinen Grundideen längst vollendet, hatte gerade die umschließende Mauer des Talmud errichtet. Das Christentum hatte schon als Glaube wie als Kirche seine mangelnde Eignung für das Semitentum erwiesen. So mußte sich also das im Orient, was nicht mehr Götzendienst sein wollte und was doch von der Entwicklung des Monotheismus gleichsam vergessen war, jetzt eine eigene Formung schaffen. Diese Formung ist das ausschließliche Werk Mohammeds. Die Elemente dazu entnahm er allem, was ihm erreichbar und begreiflich war: dem Judentum, dem Christentum und der religiösen Überlieferung der arabischen Stämme. Er konnte nicht lesen noch schreiben, aber er war angefüllt mit Berichten und Erzählungen und Legenden aus Bibel und Evangelien, aus talmudischen Legenden und christlichen Apokryphen. Sie nahmen zuweilen in seiner Vorstellung und besonders in seiner Wiedergabe recht krause Gestalt an, aber er abstrahiert von ihnen doch folgerichtig diejenigen Grundideen, mit denen er den Koran versieht: die Idee des einen Gottes; die Pflicht, ihm zu dienen und ihm keine anderen Götter zur Seite zu setzen; die Idee der Gerechtigkeit und der Glaube an ein Jenseits und an eine Wiederauferstehung der Toten. Die Gruppierung dieser Ideen und die Folgerungen, die daraus gezogen werden, bestimmen sich aber ausschließlich nach den Eigenschaften, wie sie in der Persönlichkeit Mohammeds begründet sind, nach seinem Herkommen, seiner geistigen Befähigung, seinem Glauben 306 und seiner Phantasiekraft, seinem Erfolg und Mißlingen, seinem Haß und seiner Liebe und endlich – wie bei Jesus und Paulus – nach seinem persönlichen Wirkungswillen und Geltungsbedürfnis. Damit ist nicht gesagt, daß der Islam, wie er endlich Gestalt annahm, identisch sei mit Mohammed. Wo es gläubige Menschen gibt, kann eine Religion immer größer werden als ihr Führer.

Im Jahre 610, nach einer langen Vorbereitung durch Einsamkeit, Gebet, Nachtwachen und Askese hat Mohammed die erste Vision (die ersten fünf Verse der Sure 96, »Das geronnene Blut«), die ihm der Erzengel Gabriel verkündet. Drei Jahre darauf wird ihm die zweite Vision (Sure 74, »Der Bedeckte«). Die erste Offenbarung enthielt nichts als die Deklaration des einen Gottes, der den Menschen erschaffen hat. Aber in der zweiten erscheint diese Deklaration schon an ihn persönlich gerichtet, erwächst ihm sein Amt als Verkünder dieser Wahrheit, als der Prophet Allahs. Durch alle Wandlungen hält er an dieser Idee fest: er ist nicht ein Messias, er ist nur der Bote, der Gesandte, der Verkünder Allahs. Dieser Allah ist ihm nicht der Nationalgott der Araber, sondern Gott schlechthin, der gleiche Gott, wie ihn die Juden und die Christen haben. Also ist Mohammed zu denken als ein jüdischer oder christlicher Prophet? Keineswegs, sondern als der Nachfolger sowohl von Moses wie von Jesus. Aber diese beiden haben sich doch schon als Vertreter bestehender Glaubensformen erwiesen; was ist da Mohammeds besondere Aufgabe? Seine Aufgabe begründet er genau so, wie Paulus die Aufgabe Jesu begründet hat, als er erklärte: dem Judentum ist das Amt genommen; es ist auf das Christentum übertragen. Mohammed sagt: dem Judentum und dem Christentum ist das Amt genommen; es ist auf den Islam übertragen. »Jede Prophezeiung hat ihre bestimmte Zeit« (6, 66). Paulus erklärte die Aufhebung des Gesetzes und seine Erfüllung in den Evangelien. Mohammed verkündet die Aufhebung aller früheren Offenbarungen und ihre Erfüllung im 307 Koran. ». . . und herab sandte er (Allah) die Thora und das Evangelium zuvor als eine Leitung für die Menschen, und er sandte (nun) die Unterscheidung (den Koran)« (3, 2). »Jedes Zeitalter hat sein Buch« (13, 38). Paulus erklärt die schwerwiegende Frage, warum das so sei, mit der Begründung: es sei Gottes freier Entschluß. Mohammed erklärt: Allah tut, was er will. Die Apostel zu Jerusalem erklären auf Paulus' Vorhalt wegen des Gesetzes den Heiden: wir wollen euch nicht unnötige Erschwerungen auflegen. Mohammed erklärt: »Allah wünscht es euch leicht und nicht schwer zu machen« (Sure 2, 181). Paulus leitet alle wahre Gläubigkeit zurück auf Abraham. Mohammed tut das gleiche. »Abraham war weder Jude noch Christ, vielmehr war er lauteren Glaubens, ein Moslem . . .« (3, 60).

Aber Mohammed kann trotz dieser vielfachen Übereinstimmung nicht darauf verzichten, das Christentum in einen klaren Gegensatz zum Islam zu stellen. Die Lehre von der Dreieinigkeit, ja schon der Gedanke an einen »Sohn Gottes« erscheint ihm als Vielgötterei und als eine Herabminderung der Einheit Allahs. Dagegen polemisiert er wiederholt. »Wahrlich, ungläubig sind, die da sprechen: Siehe, Allah ist ein Dritter von Drei. Aber es gibt keinen Gott denn einen einzigen Gott!« (5, 77). »Der Schöpfer des Himmels und der Erde, woher sollte er ein Kind haben, wo er keine Gefährtin hat?« (6, 101).

Weniger aus solchen prinzipiellen als aus persönlichen Gründen hat er gegen die Juden – nicht gegen das Judentum – heftige Vorwürfe zu erheben. Sie hatten ihn enttäuscht und darüber hinaus verspottet. Die Erfolge seines Anfangs waren gering. Seine eigene Familie erkannte ihn nicht an, so wenig wie Jesum die seinige. Vor den Koreischiten in Mekka, die durch seine Propaganda ihre Einnahmen von den Pilgern bedroht sehen, muß er bis nach Abessinien fliehen. Um nur rückkehren zu dürfen und seine Anerkennung als Prophet zu 308 erreichen, ist er bereit, neben Allah noch drei andere Gottheiten aus dem Pantheon zu Mekka gelten zu lassen. Aber er nimmt dieses Zugeständnis wieder zurück und ändert die schon darüber erlassenen Koranverse (53, 19–22). Günstiger gestalteten sich seine Aussichten erst, als es ihm gelang, einen Teil der Einwohner der Stadt Jathrib für sich zu gewinnen. Jathrib war bis zum Ende des V. Jahrhunderts eine befestigte jüdische Stadt, dann eroberten es die arabischen Stämme der Aus und Chasradsch, ohne aber die Juden zu vertreiben. Mit Pilgern dieser beiden Stämme tritt Mohammed in Unterhandlung. Da die Koreischiten davon Kenntnis bekommen, muß er aus Mekka nach Jathrib flüchten (Juni 622). Von da an datiert der offizielle Islam, und von der Zeit her trägt Jathrib den Namen Medinat en-Nabi, Stadt des Propheten, oder abgekürzt: Medina.

Mit der Beherrschung dieser Stadt bekommt Mohammeds Stellung ein gewisses Gewicht, zugleich aber auch eine veränderte Note. Sein Prophetentum bekommt die Nebenbedeutung des Führers, des wirklichen Anführers mit seinem vollen politischen Sinn und Gehalt. Hier in Medina tritt zuerst das gesetzgeberische Moment in den Suren hervor und wird in ihnen sichtbar, daß er – um der Wirkung und um des Erfolges willen – nicht nur religiöse Propaganda, sondern bewußte Politik auf der Basis von Verhandlungen treibt. Dabei geht vor allem sein Bemühen dahin, sich die Anhängerschaft der Juden Medinas zu erwerben. Er argumentiert von sich, wie Paulus von Jesus argumentiert hat: sein Kommen sei längst in der Schrift, das heißt: in der Thora, vorausgesagt. Folglich müssen die Juden ihn anerkennen. Er ist auch – abgesehen von seiner Fortsetzung der jüdischen Tradition – bereit, ihnen Zugeständnisse zu machen, die sich auf die religiöse Form beziehen. Darum bestimmt er die Kiblah, die Gebetsrichtung, nach Jerusalem hin; darum nimmt er Jerusalem wie die Juden (und die Christen) zur heiligen Stadt an; darum nimmt er den feierlichsten 309 Tag ihrer Feste, den Versöhnungstag, als den Hauptfesttag des Islam an; er übernimmt die Reinheitsvorschriften, die Gebetsordnung, das Verbot, Schweinefleisch zu essen, und manches andere. Aber der Erfolg ist gering. Nur wenige Juden bekennen sich zum neuen Glauben. Viele verspotten ihn einfach, weil ihr übersteigerter Respekt vor dem Wissen diesen halbgebildeten Beduinen nicht genügend achten kann. Er ist auch in seiner privaten Lebensführung zu hemmungslos ein primitiver, pathetischer Araber, um ihnen als Repräsentant eines so hohen Amtes glaubhaft zu sein. Für die meisten Juden aber erledigt sich das Problem aus einer einfachen Erwägung: dort verlangt man von ihnen den Glauben an Jesus, hier den Glauben an Mohammed. Beide erklärten das Judentum als aufgehoben. Beide behaupteten, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein. Der Jude konnte sie also nur beide ablehnen.

Mohammed begann zu drohen, wie Paulus gedroht hatte. Er warf den Juden vor, sie hätten die Thora gefälscht, damit sein – Mohammeds – Erscheinen daraus nicht mehr zu beweisen sei. Dasselbe warfen die Christen den Juden vor. Mohammed nahm auch die wichtigsten Konzessionen: die Kiblah nach Jerusalem und das Fasten am 10. Tischri, wieder zurück. Bald verkündete er im Koran (5, 85): »Wahrlich, du wirst finden, daß unter allen Menschen die Juden und die, welche Allah Götter zur Seite stellen, den Gläubigen am meisten feindlich sind . . .« So werden die Juden von ihm in einem Atem mit den Götzendienern genannt, wie es auch die Apostelbriefe taten; und – wie dort – werden immer wieder Drohungen gegen sie ausgesprochen.

Unter diesen Umständen kann es nicht ausbleiben, daß die religiöse Gestaltung des Islam – aus den Erfordernissen der Zeit und aus den individuellen Auslegungen eines einzelnen Menschen – auch vom alten heidnischen Bestand her Nahrung empfängt. Wie das Christentum die heidnische Götterwelt der Griechen und Römer aufzufangen und aufzulösen hatte, 310 bestimmte Mohammed den Islam dazu, die Reste der semitischen Götterwelt einzufangen in seinen Begriff vom Monotheismus. Beide Religionen konnten daher nicht anders als auf dem Umwege über den religiösen Synkretismus zu ihrem Ziel gelangen. In seiner endgültigen Ausbildung ist aber der Islam wesentlich im Nationalen verhaftet geblieben.

Was die nur religiöse Propaganda Mohammed versagt hatte, wächst ihm jetzt allmählich zu aus der wachsenden Betonung des Führergedankens. Er nimmt die Kämpfe auf, die zwischen Medina und Mekka bestehen, und es ist sein Verdienst, ihnen aus dem Religiösen her einen Sinn, den Sinn heiliger Kämpfe gegeben zu haben. In dem Waffenstillstand, der zwischen ihm und Mekka im Jahre 628 vereinbart wird, ist seine Stellung mindestens so sehr politisch wie religiös betont. So oder so ist es die Idee der Führerschaft, die da wächst. Was der Gesamtheit der Araber unbekannt war: die einheitliche Führung, war umsomehr in jeder einzelnen Provinz, jeder Stadt, jedem Stamm und jeder Sippe ausgeprägt. Überall gab es Führer, die Macht besaßen, Macht ausübten und auf den Kampf gegen andere Macht ausgingen. Solange solche Kräfte im Lande gebunden waren, mußten sie sich in dem Kreislauf von Fehden und kriegerischem Heldentum erschöpfen. Wurden sie aber zusammengefaßt und wurde ihnen ein Weg nach außen in die Welt gewiesen, so mußte sich die Idee der Führerschaft notwendig in die Stoßkraft des Eroberers umwandeln.

Den Beginn dazu machte Mohammed schon in dieser Zeit, wie der Führergedanke in ihm zu wuchern begann und in Manifesten explodierte, in denen er Persien, Byzanz, Abessinien, die ganze ihm erreichbare Welt aufforderte, sich zum Islam zu bekennen und sich ihm – Mohammed – als den Boten Allahs zu unterwerfen. Er erntet Spott, aber er macht in seiner nächsten Umgebung immerhin den Beginn. Einzeln greift er in den Jahren 624–628 die freien jüdischen Stämme in ihren befestigten Ortschaften an und vertreibt sie oder schlachtet sie ab. 311 Ein Jahr nach der Einnahme von Mekka (630) ist seine Gefolgschaft schon so stark, daß er zum heiligen Krieg gegen die Ungläubigen aufrufen kann. Was an religiösen Möglichkeiten, an kriegerischem Geist, an unverbrauchter nomadischer Kraft in den Arabern enthalten lag, wandte sich ihm zu, als dem Einzigen überhaupt, der aus dem Gewirr von Gruppen und Sonderinteressen mit einem einheitlichen Gedanken und einer einheitlichen Zielsetzung herausragte. Diese Zielsetzung hatte einen universalen Zug. Sie bedeutete die Zusammenfassung aller arabischen Stämme und Gruppen zu einem Volke gleicher Führung und gleichen Glaubens, sodann die Ausbreitung dieses Glaubens, dieser nationalen Religion über die ganze Welt. Die Eroberung der Erde für den Islam war das Vermächtnis, das Mohammed hinterließ und dem er durch seine Einfügung in den Koran den Charakter der Heiligkeit gab, als er im Jahre 632 starb. Erst nach seinem Abtreten von der Bildfläche konnte das zur Auswirkung gelangen, was man gleicherweise islamisches Arabertum oder arabischen Islam nennen kann. In jedem Falle war es eine Kultur, deren Schöpfer nicht Mohammed war, sondern eine aufgesparte und vom Leben der Kulturwelt noch unberührte Gestaltungskraft. Es geschah ihr nichts anderes, als was jedem Volke geschieht: daß es einmal im Laufe seiner Entwicklung seine Kräfte an der Welt messen muß.

Dazu ging jetzt der Islam über.

 


 << zurück weiter >>