Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Martyrium und Mystik

Im 13. Jahrhundert wird dem Judentum in Frankreich, England, Deutschland und Spanien die Möglichkeit gegeben, zwei Eigenschaften seines Wesens besonders intensiv zu entwickeln: die passive Resistenz und die Fähigkeit, geschichtliche Vorgänge zu ignorieren. Während der Druck von außen beständig wächst und immer mehr barbarische Formen annimmt, während sie gepreßt, geschunden, gefoltert, verbrannt und verjagt werden, fechten sie unter sich einen leidenschaftlichen geistigen Kampf, einen regulären Kulturkampf aus. Während man sie zu Leibeigenen macht und mit krankhafter Wut auf ihnen herumtritt, entziehen sie sich still und unaufhaltsam einer ungarantierten Wirklichkeit und entgleiten in eine tiefe Welt der Mystik, in eine andere Wirklichkeit, wo das Martyrium ein freiwilliges und somit kein zerstörendes, sondern ein erhaltendes, schöpferisches wird. Es ist ein Versuch vom Geistigen her, die subjektive Geschichtsgewalt wiederzuerlangen.

Was jetzt in der Außenwelt geschieht, ist verhältnismäßig 369 gleichgültig, weil die Entladungen dieses Geschehens auf den Juden die gleichen bleiben wie die, von denen schon berichtet worden ist. Nur die Methoden der Verfolgung sind zugleich vergröbert und verfeinert. Man mordet und plündert auf der einen Seite hemmungsloser, während man auf der anderen Seite sehr diffizile Diskussionen führt und mit allem Raffinement der Gelehrsamkeit Prozesse gegen jüdische Bücher führt. Wenn eine Unterscheidung für die einzelnen Länder gemacht werden soll, läßt sie sich etwa so formulieren: in Frankreich und England kommt der Druck von oben, in Deutschland und Spanien von unten. Immerhin sind in diesem rohen Knäuel der Willkür Gesetzmäßigkeiten aufzuspüren. Der innere Kreuzzug, den die Kirche nach dem Versagen der äußeren Kreuzzüge eröffnen mußte, traf nicht nur diejenigen Christen, die in eine religiöse Freiheit ausbrechen wollten, sondern auch die Juden, die schon durch die Tatsache ihrer Existenz eine Widerlegung der kirchlichen Allmacht waren. Die andere Gesetzmäßigkeit wirkt sich darin aus, daß man die Juden kurzerhand aus dem Lande treibt, wenn aus ihnen nichts mehr herauszupressen ist. Endlich wirkt sich an ihnen der wirtschaftliche Fortschritt, beziehungsweise die wirtschaftliche Verfassung der Umgebung aus.

Ihre Stellung nach außen hin (man kann nicht sagen: ihre staatsbürgerliche Stellung, denn sie waren keine Bürger) ist im Prinzip überall die gleiche. Sie gehören dem jeweiligen Herrscher zu Eigentum. Sie sind lebendes Inventar. In Deutschland erklärt Friedrich II. sie zu servi camerae nostrae. Sie sind Sachen, an denen Rechte bestehen. Wie es ein Zollregal und ein Salzregal gibt, so gibt es auch ein jüdisches Regal, und man verfügt in gleicher Weise darüber wie über Zoll und Salz. Die Funktion der Juden besteht darin, dem Kaiser oder dem jeweiligen Inhaber des jüdischen Regals Geld zu zahlen. Das macht verständlich, daß es wegen des Besitzes von Juden oft Differenzen gibt und daß sich besonders während des Interregnums 370 Bischöfe und Städte erbittert um den Besitz von Juden streiten. In ihrer Eigenschaft als Gegenstände dürfen die Juden natürlich nicht ohne besondere Erlaubnis den Ort wechseln. Wie mit dem Regime der Habsburger die Erpressungen besonders stark einsetzen und die rheinischen Juden auszuwandern beginnen, läßt Rudolph von Habsburg ihnen ihr Vermögen wegnehmen mit der Begründung: »Alle Juden sind samt und sonders unsere Kronknechte.« Daß unter solchen Bedingungen die Juden nur eine Luftexistenz führten, ist selbstverständlich; noch mehr allerdings, daß ihre Begriffe von sozialem Recht und Unrecht nicht gerade verfeinert wurden. Zwischen ihnen und der Umwelt bestand im günstigsten Falle eine durch Geld ausdrückbare Relation. Wie – um ein Beispiel zu geben – der in der damaligen Judenheit berühmte Rabbi Meïr von Rotenburg auswandert, wird er festgehalten und gefangengesetzt. Die Juden bieten 20 000 Mark damaligen Geldes für die Auslösung. Rudolph verlangt mehr. Inzwischen stirbt Rabbi Meïr. Die Herausgabe der Leiche wird verweigert. 14 Jahre später kann ein reicher Jude die Leiche endlich auslösen. So wird in solcher Umgebung noch ein toter Rabbiner Gegenstand eines einträglichen Geschäftes.

Die Herrscher in Frankreich waren nicht minder begabt in der Ausbeute der Juden. Philipp-August (1181–1223) kann als der offizielle Teilhaber eines jeden von einem Juden abgeschlossenen Geschäftes bezeichnet werden. Er bezog ungeheure Einkünfte von ihnen und stritt leidenschaftlich mit den feudalen Freiherren und Grandseigneurs um den Besitz von Juden. Ihn übertrifft aber bei weitem Philipp der Schöne (1285–1314), ein leidenschaftlicher Bekämpfer der Inquisition, die ihm bei der Ausplünderung der Juden unerwünschte Konkurrenz machte. Er treibt einen ausgedehnten Schacher mit jüdischen Seelen und läßt jedes Geschäft überwachen, bis er sich eines Tages völlig zum Inhaber aller jüdischen Geschäfte macht. Er läßt nach gründlicher und geheimer Vorbereitung 371 im Juli 1306 in fast allen Ortschaften die Vertreter der Gemeinden verhaften, die jüdischen Geschäftsbücher und das gesamte Eigentum beschlagnahmen und weist die Juden an, binnen einem Monat unter Hinterlassung der beweglichen und unbeweglichen Habe das Land zu räumen. Aller Besitz fällt ihm zu. Alle Außenstände zieht er für sich ein. Das Land verarmt.

In England waren die Verhältnisse die gleichen, nur waren sie, wenn möglich, unverhüllter. Auf diese primitiven Könige Frankreichs und Englands machte die wirtschaftliche Fähigkeit, Geld zu akkumulieren, sichtbaren Eindruck. Die Differenz zwischen der wirtschaftlichen Fähigkeit der Juden und der der Umgebung gleichen sie für sich persönlich in der einfachsten Weise aus: durch gesetzlich formulierten Raub und Erpressung. Schon Richard I. läßt alle jüdischen Finanzgeschäfte registrieren und ordnet an, daß jede Schuldverschreibung im Staatsarchiv deponiert werde. Johann ohne Land verschafft sich die für ihn nötigen Summen durch Einkerkerung und Folter. Heinrich III. erhöht die regelmäßige Steuer für die Juden auf ein Drittel ihres Vermögens und konzentriert sie zwecks besserer Überwachung ihrer Geschäfte auf diejenigen Städte, in denen sich ein Archiv (für die Hinterlegung von Schuldurkunden) befindet. Im Jahre 1254 bitten die Juden endlich um Erlaubnis, auswandern zu dürfen. Das wird verweigert; aber ihre Abgaben werden auf das ermäßigt, was sie gerade geben können. Die Juden wiederholen ihr Gesuch um Auswanderung. Sie werden statt dessen an italienische Bankiers verpfändet. Eduard I. holt den Rest des Vermögens aus ihnen heraus. Er erpreßt von ihnen durch Verhaftungen 12 000 £. Am 18. Juli 1290 verfügt er sodann ihre Ausweisung bis zum 1. November des Jahres. Ihre bewegliche Habe dürfen sie mitnehmen.

Die Juden warten diesen Termin nicht erst ab. Schon im Oktober 1290 besteigen über 16 000 Juden die Schiffe und wandern nach Frankreich, Flandern, Deutschland und Spanien aus. 372

Eigentum des Königs sind die Juden auch in Spanien, wo das Interesse und die wirkenden geschichtlichen Vorgänge sich jetzt auf die beiden christlichen Königreiche Kastilien und Aragonien konzentrieren. In beiden Reichen müssen die Juden ungeheure Leistungen aufbringen; aber gleichwohl herrschen andere Methoden. In ihrem Kampf gegen die Muselmanen haben die christlichen Königreiche sich seit langem um die Hilfe der Juden beworben. Sie zogen sie systematisch in ihre Reiche, als in den Süden, in das eigentliche arabische Spanien, von Afrika aus die streng-orthodoxe Gruppe der Almohaden einbrach und die Juden als Andersgläubige bedrängte. An den entscheidenden Kämpfen des christlichen Nordens gegen den islamischen Süden nahmen die Juden auf Seiten der Kastilier und Aragonier erheblichen aktiven Anteil. Aber sie ermöglichen auch weiterhin die Ausnutzung dieser Siege und den Ausbau der beiden christlichen Staaten durch ihre finanzielle Kraft. Sie werden erpreßt, aber sie bekommen dafür Freiheiten. Die jüdischen Gemeindekassen verwandeln sich allmählich in Finanzinstitute für Könige und Infanten, aber die Gemeinden erhalten dagegen eine weitgehende Autonomie mit eigenen administrativen und richterlichen Behörden. Und wie der Klerus in beide Länder seinen Einzug hält und sofort mit der Hetze gegen die Juden beginnt, verwandelt sich die Beziehung zwischen König und Juden in ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: der König schützt den Juden, der Jude finanziert den König.

Dieser Schutz der Könige versagte oft auch da, wo er ernst gemeint war, gegenüber der Gewalt, die im 13. Jahrhundert gegen den Staat und über dem Staat ihren Gipfelpunkt erreicht: dem Papsttum. Die Idee der kirchlichen Herrschaft hypertrophiert so in der Gestalt eines Innozenz III., wie sie auf Seiten der staatlichen Herrschaft zugleich in dem gewaltigen Widerpart Friedrich II. einen einmaligen Höhepunkt erreicht. Aber für den Papst wie für den Kaiser ist das jüdische Problem ein politisches, zudem eines, in dem sich die 373 Interessen feindlich begegnen. Beide wollen die Herrschaft über die Juden, und beide üben sie de facto aus. Aber während Friedrich II., wie in Sizilien und Süditalien etwa, noch seine persönlichen Ideen von der wirtschaftlichen Eingliederung der Juden in sein Reich realisieren kann, gibt es für das Papsttum nur schlechthin die Fortsetzung der alten Idee, daß das Christentum über das Judentum siegen müsse. Zwar steht Innozenz anfangs noch auf dem Standpunkt, die Christen dürften die Juden nicht zu sehr bedrücken, »denn durch sie wird die Wahrheit unseres eigenen Glaubens bestätigt«, aber diese relative Toleranz muß notwendig versagen vor dem Kampf, den die inneren Verhältnisse dem Papsttum aufnötigen. Denn zum erstenmal wagen sich die zentrifugalen Kräfte in kompakten Massen ans Tageslicht. Sie lehnen sich, wie die Waldenser, gegen die Verfassung der Kirche überhaupt auf; sie verneinen, wie die Albigenser, die bindende und lösende Kraft der priesterlichen Funktionen; sie erstreben, wie die judaisierenden »Wanderer«, eine innerliche Rückkehr zum Alten Testament. Alles das verneint und leugnet die Grundlage, auf der die kirchliche Macht sich als etwas, was nicht nur rein geistig ist, aufbaut. Und alles das geschieht in bedenklicher Nähe jüdischer Siedlungen und steht sehr oft gedanklich in starker Abhängigkeit vom Judentum. Innozenz erkennt richtig ein Doppeltes: die schwankende Grundlage, auf der in der breiten Masse der Katholizismus überhaupt ruht, und die gefährliche geistige Überlegenheit der Juden. Darum geht folgerichtig seine und seiner Nachfolger Politik nach innen und nach außen. Nach innen durch Krieg gegen die Ketzer, Propaganda der katholischen Lehre unter dem breiten Volk, Kampf gegen die sittliche Verkommenheit der Geistlichkeit; nach außen durch eine verschärfte Gesetzgebung gegen die Juden, durch Polemik gegen alle Staaten, die ihnen Rechte einzuräumen wagen, und endlich durch Attacken gegen den Talmud.

In dem inneren Kreuzzug (1209–1229) tobt 20 Jahre lang 374 ein entfesselter Klerus in der Provence und hinterläßt 20 000 erschlagene Ketzer. Das gab dem Juden eine Ahnung von dem, was ihn erwartete. Es begann mit der Diffamierung und endete vor dem Inquisitionsgericht. Die berühmte 4. Lateransynode (1215) macht den Beginn. Diese Synode, die weithin sichtbare Demonstration der päpstlichen Macht, sagt den Juden erneut den Kampf an. Es wird gefordert, daß die Geistlichkeit fortan die jüdischen Kreditgeschäfte überwache. Es wird für Juden und Muselmanen ein besonderes Abzeichen an der Kleidung vorgeschrieben. Es wird eine Serie alter Kirchenkanons erneut in Geltung gesetzt. Es wird endlich – als Auftakt zu unerhörten Blutgreueln – für die zum Christentum Übergetretenen, die nicht an ihrem neuen Glauben festhalten, das heißt in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle: gegen die unter Todesdrohungen zum Christentum übergetretenen Juden, der »heilbringende Zwang« angeordnet.

Zur Ausführung dieses heilbringenden Zwanges werden zwei Institutionen ins Leben gerufen: die »heilige Inquisition« und der Dominikanerorden, der Orden der predigenden Brüder. Ihre ursprüngliche Aufgabe, Laien den katholischen Glauben zu predigen, übernimmt später der gleichzeitig gegründete Orden der Franziskaner. Sie, die »Bettelbrüder«, gehen unter das Volk. Die Dominikaner übernehmen die Verfolgung der Ketzer und Andersgläubigen, also im wesentlichen der Juden. Unter Ludwig dem Heiligen von Frankreich entfaltet sich ihre inquisitorische Tätigkeit und dehnt sich auch auf die Juden aus. Sie wurden die Domini canes laterantes, die bellenden Hunde des Herrn, genannt. Sie erhalten ein erweitertes Tätigkeitsgebiet durch die von Clemens IV. erlassene Bulle Turbato corde (1267), worin befohlen wird, zum Judentum verführte Christen samt ihren Verführern vor das Tribunal zu ziehen. Auch die »zum Judentum verführten Christen« sind überwiegend zwangsgetaufte Juden. Das Verfahren ist geheim und bedient sich der Folter zur Ermittlung der Wahrheit. Die Verurteilten 375 werden zur Vollstreckung des Urteils den weltlichen Behörden ausgeliefert, denn die Kirche verabscheut das Blutvergießen: Ecclesia abhorret a sanguine. Und so flossen Ströme von Blut.

Neben diesen blutigen richterlichen Funktionen bemühen sich die Dominikaner – wenn auch ohne so handgreifliche Erfolge – noch auf einem spirituellen Gebiete: der Disputation. Diese Wortkämpfe zwischen Juden und Christen hat es seit je gegeben. Mit dem Ausgang des 12. Jahrhunderts vermehren sie sich; nicht weil davon vermehrte Übertritte zum Christentum zu erwarten waren, sondern weil sich immer von neuem eine Rechtfertigung des eigenen Glaubens vor den eigenen Gläubigen als notwendig erwies. Tausend Jahre kirchlicher Erziehung hatten nicht verhindern können, daß gerade aus dem Gebiet des Religiösen her immer wieder spontan Zuneigungen zum Judentum auftauchten. Gregor IX. wendet sich scharf dagegen, daß in Deutschland christliche »Sklaven« zum Judentum neigten und daß auch freie Menschen es aus eigenem Antrieb taten. Um die Gefahr zu vermindern, verbietet er religiöse Disputationen überhaupt (1223), und in Frankreich ergab sich die Notwendigkeit, das Wohnrecht der Juden auf größere Ortschaften zu beschränken, damit sie die schlichten Landbewohner nicht in ihrem Glauben gefährden (1283).

Im Eifer für die Ausbreitung des rechten Glaubens forcieren die Dominikaner jetzt solche Disputationen. Es sind immer zwei Hauptthemen: die christlichen Dogmen und die Messianität Jesu. Es hat nie auf der Welt etwas Törichteres gegeben als diese Versuche der Belehrung und Bekehrung. Ein Dogma entsteht, wenn eine religiöse Denkform zum Lehrsatz erstarrt. Das ist immer dann der Fall, wenn das schöpferische religiöse Erlebnis von einer Institution, einer Kirche, eingefangen und abgedrosselt wird. Es muß also ein Mensch, der ein Dogma akzeptieren soll, sowohl in dieser religiösen Denkform leben als auch im Glauben an die Institution, in der die Denkform versteinert. Es hätte gar nicht der ewig feindlichen Einstellung 376 der christlichen Kirche gegen den Juden bedurft, um für ihn beide Voraussetzungen unmöglich zu machen. Abgesehen davon gab es im Judentum bis dahin überhaupt keine Dogmen im kirchlichen Sinne. Was gar die Messianität Jesu anging, war das Beginnen noch hoffnungsloser. Messianität als Erlösungsgedanke wird wohl in jeder Gemeinschaft mit religiöser Begabung ruhen. Als Form des religiösen Denkens und Erlebens ist sie ein jüdisches Produkt, entstanden aus dem Ablauf einer national-religiösen Geschichte. Wann dieser Ablauf zu beschließen sei und wie er zu beschließen sei, was Erlösung bedeutet und was nicht, war ausschließlich Sache der Juden und konnte niemals Sache einer Disputation sein. Gegenüber den Bedürfnissen des Herzens ist jedes theologische Raffinement immer eine stumpfe Waffe.

Es ist nicht das Verdienst der Juden, sondern eine natürliche Folge ihrer geistigen Tradition, daß sie in solchen Disputationen die Oberhand behielten. Sie waren, da es hier nur um eine Angelegenheit des Gehirns ging, überaus gut gerüstet. Wollte man sie also besiegen, mußte man ihnen ihr Rüstzeug nehmen. Man suchte darnach und fand, es liege im Talmud. Man inszenierte eine ohnmächtige Tragikomödie: den Prozeß gegen den Talmud.

Der Dominikaner Nikolaus Donin, ein getaufter Jude, denunziert bei Gregor IX. den Talmud wegen Verleumdung Jesu und der Christen und wegen seiner unsittlichen Lehren. Der Papst gibt den Bischöfen in Frankreich, England und Spanien Anweisung, bei den Juden alle erreichbaren Talmudexemplare zu beschlagnahmen und ein Gericht zu konstituieren. Dieses Gericht tagt unter Teilnahme der Dominikaner und im Beisein vieler Würdenträger am 12. Juni 1240 in Paris. Die Anklage umfaßt 35 Punkte, sämtlich aus dem haggadischen Teil des Talmud, also aus jenem Gebiet, in dem Jahrhunderte eines Volkslebens mit allen guten und bösen Reaktionen ihren Niederschlag gefunden haben. Die jüdischen Gelehrten, die die 377 Anklage widerlegen sollen, sind in einer schwierigen Lage. Für sie ist alles heilig, was im Talmud steht, auch die Legende, selbst die Anekdote. Das verhilft den Mönchen zu einem Triumph. Sie stellen fest, daß die Rabbiner selbst viele anstößige Stellen zugeben (obgleich sie selbstverständlich niemals die Anstößigkeit irgendeiner Stelle zugegeben haben werden), und verurteilen das Buch zum Feuertode. Das Urteil wird 1242 vollstreckt. 24 Wagenladungen voll Talmudexemplaren werden öffentlich in Paris verbrannt. Zwei Jahre später wird derselbe Prozeß für die Provinz veranstaltet. 1248 und 1250 wird die Komödie erneuert. Sie stellt sich im übrigen auch als lukrativ heraus, weil die Verbrennung sehr oft durch Geld abgewendet werden kann. Immerhin war damit erreicht, daß das Studium des Talmud für längere Zeit mangels Lehrmaterial behindert wurde; und das war ja der in Wirklichkeit erstrebte Erfolg.

Dennoch wird auf die Disputation nicht verzichtet. Wieder geht sie von Dominikanern aus, und wieder schicken sie einen getauften Juden vor, Paulus Christiani, genannt Fra Pablo. Er wirkt in Aragonien, dem Dorado der dominikanischen Inquisition. Im Juli 1263 wird unter Teilnahme des Königs vier Tage lang in Barcelona disputiert. Fra Pablo hat sich einen Gegner ausgesucht, dessen Name in der jüdischen Welt erhebliche Geltung besaß: Rabbi Moses ben Nachman (abgekürzt: Ramban) aus Gerona. Pablo stellt vier Thesen auf über die Messianität; und wieder will er beweisen, daß der Messias der Juden längst erschienen sei. Mit Recht kann Ramban das bestreiten und darauf hinweisen, daß nichts im Verhalten der Welt und der Menschen darauf schließen lasse, daß wirklich einmal ein Messias erschienen sei. Aber er geht weiter. Er deckt den tieferen Grund auf, warum der Jude in der Opposition bleibt: die Verschiedenartigkeit in der Auffassung des göttlichen Wesens. Wenn – erklärt Ramban – Gott und Jesus wesensgleich seien, Jesus also göttlich sei, dann verstoße es für die jüdische Auffassung wider die Natur und wider die Vernunft, sich 378 vorzustellen, ein göttliches Wesen werde im Leib einer jüdischen Mutter geboren, um dann nach Ablauf eines ganz irdischen Lebens hingerichtet zu werden, wieder aufzuerstehen und in seinen göttlichen Zustand zurückzukehren. Solche Argumentation erweist die Zwecklosigkeit des Wortstreites. Die offizielle Disputation wird abgebrochen, aber dann in der Synagoge fortgesetzt. Da erklärt Pablo, das Dogma von der Dreieinigkeit sei ein so tiefes Mysterium, daß es selbst für die Engel undurchdringlich bleibe. Ramban erwidert ihm, daß man dann die Menschen auch nicht dafür verantwortlich machen dürfe, wenn sie es nicht begreifen.

Man muß zugeben, daß diese Art der Kirche, gegen das Judentum zu kämpfen, wenigstens im Prinzip den Versuch einer geistigen Auseinandersetzung darstellt. Darum wurden aber keineswegs die gröberen Mittel vernachlässigt, und unter diesen Mitteln werden zwei besonders bevorzugt: die Anklage wegen Ritualmord und die wegen Hostienschändung. An diese beiden Verbrechen glaubte das Volk. Die verantwortliche Geistlichkeit glaubte nicht daran, aber sie begünstigte und benützte solche Anklagen vielfach und vielerorts in majorem dei gloriam. Von dieser Blutschuld kann nichts sie freisprechen.

Deutschland steht im 13. Jahrhundert mit derartigen Anklagen an der Spitze. Schon 1221 spielt sich ein Ritualmordprozeß in Erfurt ab. 1235 taucht die Anschuldigung massenweise auf. Unter ihnen mag der Vorfall von Fulda wegen seiner prinzipiellen Bedeutung Darstellung finden. Am ersten Weihnachtsabend 1235 brennt in Fulda das Haus eines Müllers ab. Die Eltern sind fort; nur die Kinder sind daheim. Sie kommen bei dem Brand um. An Stelle jeder Erwägung, wie dieses Unglück geschehen sein könne, tritt sofort die Behauptung, die Juden hätten den Kindern das Blut abgezapft und dann das Haus angezündet. 32 Juden werden daraufhin verhaftet, so lange gefoltert, bis sie eingestehen, was gewünscht wird, und dann von gerade anwesenden Kreuzfahrern totgeschlagen. Die 379 Leichen der Kinder werden als »heilige Märtyrer« erklärt. Friedrich II., der sich in der Nähe aufhielt, erklärte angesichts der Erschlagenen: »Verscharrt sie, sie sind zu nichts anderem mehr zu gebrauchen.« Aber darüber hinaus beschließt er, dem die Gründe solcher Anklagen nicht verborgen sind, eine prinzipielle Aufklärung. Er setzt eine gelehrte Kommission ein, die der Frage des Ritualmordes auf den Grund gehen soll. Die Kommission war geteilter Meinung. Friedrich greift weiter aus. »Diese (die Kommission), da sie verschieden waren, äußerten verschiedene Meinungen über den Fall, und da sie sich unfähig zeigten, über die Sache einen hinreichenden Beschluß zu finden, wie es sich gehörte, so sahen wir aus unseres Wissens geheimen Tiefen voraus, daß nicht einfacher gegen die des genannten Vergehens beschuldigten Juden einzuschreiten sei, als durch solche Leute, die Juden gewesen und zum Kult des christlichen Glaubens bekehrt waren, die gleichsam als Gegner nichts verschweigen würden, was sie hierüber gegen jene oder gegen die mosaischen Bücher oder mit Hilfe der Reihe des Alten Testaments wissen konnten. Obwohl nun unsere Weisheit durch die vielen Bücher, die unsere Erhabenheit kennengelernt, die Unschuld genannter Juden vernünftigerweise für erwiesen hielt, so haben wir doch zur Genugtuung nicht weniger des ungebildeten Volkes als des Rechtes aus unserem voraussichtigen heilsamen Entschluß und im Einverständnis mit den Fürsten, Großen, Edlen, den Äbten und Kirchenmännern über diesen Fall an alle Könige der abendländischen Zonen Sonderboten entsendet, durch die wir aus ihren Königreichen im Judengesetz erfahrene Neugetaufte in möglichst großer Zahl vor uns beschieden haben.«

Nach langer Beratung ergab sich der selbstverständliche Schluß, daß aus den jüdischen Schriften nur das strengste Verbot jeglicher Blutopfer festzustellen sei. Friedrich II. stellte daraufhin den Juden eine Sentenz aus, die jede derartige Beschuldigung für das ganze Reich in Zukunft untersagte. 380 Diese Sentenz war aber gegenüber dem Volksglauben und gegenüber der unterirdischen Tätigkeit des Klerus wirkungslos. Noch zu Friedrichs Lebzeiten sah sich Innozenz IV. (1247) veranlaßt, eine Bulle an die Bischöfe von Frankreich und Deutschland zu richten, die zugleich den Grund solcher Anklagen hinreichend aufklärte. »Wir haben die flehentliche Klage der Juden vernommen, daß manche kirchlichen und weltlichen Würdenträger wie auch sonstige Edelleute und Amtspersonen in Euren Städten und Diözesen gottlose Anklagen gegen die Juden erfänden, um sie aus diesem Anlaß auszuplündern und ihr Hab und Gut an sich zu raffen. Diese Männer scheinen vergessen zu haben, daß es gerade die alten Schriften der Juden sind, die für die christliche Religion Zeugnis ablegen. Während die Heilige Schrift das Gebot aufstellt: Du sollst nicht töten! und ihnen sogar am Passahfest die Berührung von Toten untersagt, erhebt man gegen die Juden die falsche Beschuldigung, daß sie an diesem Feste das Herz eines ermordeten Kindes äßen. Wird irgendwo die Leiche eines von unbekannter Hand getöteten Menschen gefunden, so wirft man sie in böser Absicht den Juden zu. Es ist dies alles nur ein Vorwand, um sie in grausamster Weise zu verfolgen. Ohne gerichtliche Untersuchung, ohne Überführung der Angeklagten oder deren Geständnis, ja in Mißachtung der den Juden vom apostolischen Stuhl gnädig gewährten Privilegien beraubt man sie in gottloser und ungerechter Weise ihres Besitzes, gibt sie den Hungerqualen, der Kerkerhaft und anderen Torturen preis und verdammt sie zu einem schmachvollen Tode ... Solcher Verfolgungen wegen sehen sich die Unglückseligen gezwungen, jene Orte zu verlassen, wo ihre Vorfahren von alters her ansässig waren. Eine restlose Ausrottung befürchtend, rufen sie nun den apostolischen Stuhl um Schutz an . . .«

Solche Erklärung, dazu vom Papsttum ausgehend, erspart dem Historiker die Motivierung.

Aber auch diese Bulle, ausklingend in die Forderung an die 381 Christen, den Juden »freundlich und wohlwollend zu begegnen«, versagt vor der allgemeinen Auflösung der Ordnung in Chaos, die die Zeit des Interregnums kennzeichnet. Zwischen 1264 und 1267 sind Judenmetzeleien an der Tagesordnung. Nach dem Regierungsantritt der Habsburger mehren sich die Ritualmordprozesse. (Mainz 1283, München 1286, Oberwesel 1288.) Es tritt jetzt auch das Märchen von der wunderwirkenden Hostie, der hostia mirifica auf. Juden stehlen oder kaufen Hostienoblaten und durchstechen sie, damit symbolisch den Leib Christi durchstechend. Aus vielen solcher Hostien strömt dann heilkräftiges Blut. So geschah es 1287 in Pritzwalk in Brandenburg. An der Stelle, wo man diese wundertätige Hostie aufgefunden hatte, wurde ein Frauenkloster erbaut, das sich reichen Besuches der Kranken und reicher Gaben erfreute. In der Folge wurde das Hostienwunder des öfteren in Szene gesetzt und das heilspendende Blut fabriziert, bis selbst von Rom dagegen Protest erhoben wurde.

1298 wurde den Juden des Städtchens Röttingen in Bayern zur Last gelegt, eine Hostie gefunden und in einem Mörser zerstoßen zu haben. Ein Edelmann mit dem beziehungsreichen Namen Rindfleisch erklärte sich vom Himmel berufen, Rache dafür zu nehmen. Er sammelte eine Bande um sich, schlug alle Juden der Stadt tot, zog mordend und plündernd durch das Land, vernichtete die Gemeinde Würzburg fast vollständig, überfiel dreimal die Gemeinde Rotenburg und konnte bis zum Herbst 1298 fast 140 jüdische Siedlungen und Gemeinden vernichten. Unter seiner Einwirkung taucht die wunderwirkende Hostie auch in Österreich auf.

Das ist, in groben Zügen umrissen, die Welt, in der der Jude des 13. Jahrhunderts zu leben gezwungen ist. Die Welt, in der er freiwillig lebt, die religiöse, kann sich unmöglich einer solchen Massenhaftigkeit und Brutalität der Vorgänge ganz entziehen. Das religiöse Dasein hat endlich den Punkt erreicht, in dem es von der Ungunst der materiellen Existenz so angenagt 382 und unterhöhlt wird, daß die Bruchstelle sichtbar wird: das Aufhören der lebendigen, im Leben schöpferischen Tradition. Ihr Dasein enthüllt sich jetzt als das, was es von Anfang an war: als Fiktion. Es war eine grandiose Fiktion, die kein Volk in der Welt auch nur annähernd in dieser Weise aufgestellt und zur realen Lebensgrundlage für Menschen gemacht hat. Da diese Menschen aber mit ihren eigenen inneren Gesetzen und Bedingungen fortgesetzt im Angriffsbereich fremder Kräfte leben mußten, da ihre äußeren Bedingungen in absoluter Abhängigkeit von fremden, durchweg feindlichen Gewalten standen, lebten sie sich selbst, konnten sie sich selbst leben nur in jeweiliger Anpassung oder Abwehr, wobei die Grundlage religiösen Lebens: organische Gemeinschaft, mehr ein Zwangszustand der Abschließung als ein gewachsener Zustand des Zusammenschlusses war. Der Versuch, auf dieser anormalen Grundlage als Juden zu leben, das heißt: in der Gegenwart zu wirken, aus der Vergangenheit die Traditionskraft zu empfangen und in eine gestaltende Zukunft hineinzuhoffen – dieser Versuch riß den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Gläubigkeit und gedanklicher Konzeption, zwischen Gehirn und Herz so mächtig auf, daß er für Jahrhunderte das eigentliche Problem ihrer volklichen Existenz wurde.

Gerade an der geistigen Gestaltung, die das spanische Judentum als seine letzte Blüte hoffnungsfreudig aus sich entlassen hatte: an den Werken eines Maimonides, wird diese Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Lebensgestaltung offenbar. Maimonides hatte ein Ziel: die Synthese zwischen Philosophie und Glaube. Die geistige Strömung, die sich zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tode an ihn heftete, begriff vor allem das Beglückende freier geistiger Entfaltung mit einer starken, national und religiös fundierten Weltanschauung im Hintergrunde. Man brauchte nichts von dem zu leugnen, was frühere Geschlechter als religiöse Offenbarungen empfunden hatten, nicht einmal das, was der Vernunft widerspricht und nur im Glauben 383 an das Geschehen von Wundern seine Begründung findet. Die Vernunft, die philosophische Haltung blieb unverletzt, wenn man die Legenden und Wundertaten und das Anthropomorphe im Tun Gottes als Ausdrucksform, als Bild, als Symbol gelten ließ. Und eines Tages, ehe sie sich dessen versahen, war alles, was nur von der Vernunft her nicht zu begreifen war, aufgelöst in Bilder und Symbole. Es hatte seine zeugende religiöse Wirksamkeit eingebüßt. Sie spalteten das einheitliche Gefüge der religiösen Tradition. »In der Heiligen Schrift«, erklärt ein Maimonist, »ist das eine für die Lippen, das andere fürs Herz bestimmt. Der innere Sinn ist dem Weisen, der äußere dem Einfältigen zugedacht.« Damit war die Idee der Maimonidischen Synthese in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn der »Weise« den Sinn des Religiösen aus seinen persönlichen philosophischen Möglichkeiten begreift und ihn nicht erspürt aus dem Gefühl, im Rahmen, in der Kette, im Verbande zu stehen, dann wird das, was er als Auswirkung in das Leben hineinträgt, privat, unverbunden und für den Begriff einer Gemeinschaft auflösend. Es entsteht die zwiespältigste aller geistigen Haltungen: die liberale. Liberalismus im religiösen Bezirk ist ein Freiheitsbegriff, der aus der Unfähigkeit kommt, sich für das Ja oder für das Nein zu entscheiden.

Die Konsequenz eines solchen Liberalismus war die wachsende Vernachlässigung der Ritualgesetze, ein allmähliches Abstreifen aller Bindungen und die vielfache Schließung von Mischehen. Aber es hätte nicht einmal solcher Vorgänge bedurft, um eine ständig wachsende Opposition in die Erscheinung treten zu lassen. Den Anruf, das von Maimonides aufgeworfene Problem zu lösen, vernahm die ganze Judenheit, soweit ihr damals die Zeit und der Ort ihres Aufenthaltes überhaupt eine geistige Existenz ermöglichten. Aber schon die Voraussetzung, von der Maimonides ausgegangen war: die Notwendigkeit, Religion und Philosophie zu versöhnen, wurde von einem großen Teil der Juden überhaupt nicht anerkannt. Ihnen 384 genügte, daß sie glaubten. Mehr noch: ihnen war nur wichtig, daß einer glaube. Es waren insbesondere die Juden in Deutschland und Frankreich, die diesen Standpunkt vertraten. Ein Doppeltes ließ sie diesen Standpunkt einnehmen: das Schicksal, das ihnen bereitet wurde, und die Sorge um das Schicksal des ganzen Volkes.

Was diente ihnen, deren Schicksal in diesem Abschnitt dargestellt wurde, die Vernunft, die Philosophie, die rationalistische Begründung ihres Glaubens? Hätte aller Verstand das lähmende Gefühl der Ohnmacht verjagen können, mit der sie allem Unguten aus Zeit und Umgebung ausgeliefert waren? Hätte man sie – wie in Spanien – auch nur an einer Spur von Freiheit und Lebensfreude teilnehmen lassen? Zwischen ihrem Schicksal und dem Sinn ihres Schicksals konnte niemals die Vernunft eine Relation herstellen. Das wäre Selbstmord gewesen. Da aber ihr Lebenswille wie durch ein Wunder immer noch intakt war, konnten sie nur fortleben, wenn sie ohne Frage und ohne Gedanken, ohne Zweifel und ohne die Krücke der Vernunft sich der Welt ihres Glaubens auslieferten. Wenn ihr Schicksal überhaupt einen Sinn tragen sollte, mußte er ganz rückwärts, ganz in Gott und seinen Gesetzen beschlossen liegen. Brach man die kleinste Lücke in dieses Gefüge, ließ man die mindeste Lockerung auch des geringsten religiösen Gebotes zu, so hob man die Welt aus den Angeln, in der sie lebten.

Von hier aus mußte das Ergebnis entstehen, daß die orthodoxe, die konservative Tendenz unter ihnen ständig wuchs. Aber von hier aus begriffen sie auch die Vorgänge in der Welt des Maimonides. Sie sahen, daß sich in der Hand des Rationalisten jedes Stück der Tradition in ein Symbol verwandelte. Das war die Anarchie; das war die Auflösung des Gesetzes. Sie sahen, daß in den Synagogen Spaniens und der Provence eine begeisterte Jugend ihre Ideen von geistiger Freiheit verkündete. Sie sahen, daß dort der Talmud nicht mehr wichtiger war als Plato und Aristoteles. Sie verstanden das alles als die 385 äußerste Gefahr, als den Beginn der Auflösung des jüdischen Volkes. Darum sagten sie der geistigen Richtung, die sie dafür verantwortlich hielten, der Philosophie, den Kampf an.

Die jüdische Welt spaltete sich in Rationalisten und Antirationalisten. Doch bleibt noch Raum für eine seltsame Mittelstufe, für eine Denkform, die sich zum unbedingten Glauben wie zur unbedingten Vernunft nebeneinander bekennt und so, da ihr die Synthese nicht gelingen will, zum Dualismus ihre Zuflucht nimmt. Es ist die Lehre von der »doppelten Wahrheit«, wie ein Isaak Albalag sie formuliert hat: »Denn auf Grund meiner wissenschaftlichen Einsicht bin ich oft davon überzeugt, daß sich etwas mit Naturnotwendigkeit auf eine bestimmte Weise verhalte, und doch glaube ich auf Grund der Worte der Propheten, daß sich auf unnatürliche Weise das Gegenteil zugetragen habe.« Es ist bemerkenswert, daß diese Kampfstellung zwischen zwei Extremen samt der Zwischenstufe von der »doppelten Wahrheit« sich zu gleicher Zeit auch im Christentum einstellte. Die Scholastik unternahm den gleichen Versuch, den Maimonides schon vorher unternommen hatte: die Lehre der Religion mit der Lehre eines Aristoteles zu versöhnen. Während Thomas von Aquino sich dahin entschied, die Philosophie habe die »Dienstmagd der Theologie« zu sein, entschlossen andere sich für den Dualismus der doppelten Wahrheit, eine Einstellung, die dem Bannfluch verfiel. Solche Gleichzeitigkeiten, wie sie uns auch späterhin bei der Kabbala begegnen werden, beweisen, daß es – bei aller Verschiedenheit der Ebene – doch ein Fluidum geistiger Gemeinsamkeit gibt. Darin liegt eine der stärksten Hoffnungen für die zukünftige Gestaltung des Menschengeschlechts, auch wenn tausend Kräfte bemüht sind, sie zu zerstören.

Für den Kampf, den die Orthodoxie jetzt eröffnet, stehen ihr nicht nur in Deutschland und in Frankreich, sondern auch in Spanien und in der Provence Kräfte zur Verfügung. Kein Aufschwung des philosophischen Denkens hatte verhindern 386 können, daß der Einfluß des Talmud und die seit langem geübte Art dieses Studiums ständig auch in Spanien wuchsen. Es ist, als habe der Instinkt der Juden dieser frühen Blüte einer geistigen Freiheit nicht getraut und habe auf die Kraft der überkommenen und so vielfach bewährten Sicherungen nicht verzichten wollen. Spanien besaß in dem schon erwähnten Ramban eine Autorität der rabbinischen Wissenschaften, in Salomo ben Adret (Raschba) in Barcelona einen großen tossafistischen Dialektiker und gegen Ende des 13. Jahrhunderts in dem von Deutschland zugewanderten Ascher ben Jechiel (Rosch) einen Vertreter des engsten deutschen Rabbinismus.

Der Kampf beginnt mit einem Bann, den R. Salomo ben Abraham vom Berge aus Montpellier in der Provence zusammen mit dem Rabbiner von Gerona, Jona Gerondi, über alle verhängt, die sich mit profanen Wissenschaften und Philosophie befassen, insbesondere mit den Werken des Maimonides. Andere provenzalische Gemeinden antworten, indem sie Salomo in den Bann erklären. Saragossa und einige andere Gemeinden verhängen den Bann über Montpellier. In dem Hin und Her spitzen sich die Gegensäfte so zu, daß Salomo die Werke Maimons bei dem Inquisitionsgericht denunziert. Es versteht sich, daß das Gericht sowohl das »Buch der Erkenntnis« wie den »Führer der Irrenden« zum Scheiterhaufen verurteilt (1232).

Die wilde Entrüstung darüber in Spanien und der Provence bringt wohl den Denunzianten zu tiefer Reue, aber die Gegensätze sind dennoch für die Dauer aufgezeigt und verlangen ihren Austrag. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts (1303) eröffnet wieder Montpellier unter Führung des Don Astruc de Lunel den Feldzug. Sein Verbündeter wird Raschba in Barcelona. Dort wird (1305) als der Abschluß erbitterter Auseinandersetzungen folgender Bannfluch verkündet: »Wir haben angeordnet und es uns und unserer Nachkommenschaft zur Pflicht gemacht, unter Aufbietung des Cherem darauf zu bestehen, daß kein Gemeindemitglied unter 25 Jahren, heute und fürder fünfzig 387 Jahre lang, sich mit dem Studium von griechischen Büchern über Naturkunde und Theologie . . . befassen soll . . . Von dieser Verordnung ist nur das Studium der Medizin ausgenommen . . . weil die Thora die Ausübung der ärztlichen Kunst ausdrücklich gestattet.«

Der Philosoph und Astronom Jakob ben Machir, Dekan der philosophischen Fakultät von Montpellier, in der mittelalterlichen Wissenschaft bekannt als Profiat oder Profatius, ist Führer der Opposition. Sie erläßt einen Bann gegen jeden, der es wagt, Maimonides zu verketzern oder Menschen am philosophischen Studium zu hindern. Zur Verteidigung der Wissenschaft und des Rechts auf Wissen erheben sich überall Gelehrte. Aber der Kampf kann nicht ausgetragen werden. In seinen Höhepunkt fällt die Ausweisung der Juden aus Frankreich. Wieder unterbrechen fremde Gewalten die organische Entwicklung im jüdischen Bezirk und zwingen die Juden, mit der Last unausgelebter Probleme weiterzuexistieren.

Doch in einem anderen Bezirk, in dem nicht gekämpft, sondern heimlich und stetig aufgebaut wird, stellt das Problem: Philosophie oder Religion, Vernunft oder Glaube, sich erneut zur Beantwortung. Hier wird Antwort gegeben nicht aus der Helle und nicht aus der Dunkelheit, sondern aus dem Zwielicht, aus dem geheimnisvollen Leuchten: aus der Mystik. Da ist die Vernunft ein schwacher Begriff und der Glaube in seiner traditionellen Form unzureichend. Denn es gibt etwas, was der Vernunft nicht zugänglich ist und was auch der schlichte Glaube nicht erfaßt: das Geheimnis, in dem das Wesen Gottes und Aufbau und Sinn von Himmel und Welt beschlossen liegen. Die Welt, in der solches erkannt werden kann, ist die der Kabbala.

Die Kabbala teilt mit dem Talmud das Geschick, als abgegriffenes Wort in aller Mund zu sein und ihre Beurteilung zu erfahren nach dem Wissen aus zehnter Hand. In der marktgängigen Bewertung liegt der Ton auf Auswüchsen, die man 388 als sinnlos und verspielt bezeichnet. Dabei bleibt unbeachtet, daß die Kabbala in ihrer Entstehung ein Bedürfnis war. Vom Menschlichen aus gesehen: weder der Rationalismus noch der Talmudismus konnten das Bedürfnis nach fortdauernder religiöser Gestaltung und religiösem Erleben befriedigen. Es darf nicht einen Augenblick außer acht gelassen werden, daß im Judentum durch die Jahrhunderte und ohne Unterbrechung das wirkliche Bedürfnis nach solchem religiösen Erleben bestand. Ein Jude ohne religiöse Triebkraft – gleich in welcher Form sie sich äußert, ob als Treue gegen das jüdische Gesetz oder als Treue gegen die jüdische Idee – ist eine Sinnwidrigkeit und ein Zerfallprodukt. In der Kabbala hat sich, mit dem 13. Jahrhundert sichtbar werdend, das Judentum einen Bezirk geschaffen, in dem das religiöse Erleben sich sogar ungestört von der Kontrolle der Vernunft und der nichts als verpflichtenden Härte der talmudischen Welt entladen konnte.

Kabbala bedeutet: Überlieferung für den Eingeweihten, Geheimlehre für den, der hinter Wort und Ausdruck der Bibel die verborgene Schicht sieht. Noch aus der Zeit der Erzväter und Mosches ist auf geheimen Wegen solch tieferer Sinn übermittelt. Er enthüllt, daß im Anfang alles Seins Gott steht, En Sof, der Endlose, der Grenzenlose, der Unendliche. Er hat keine Eigenschaften und keine Attribute. Er ist Urkraft, die Ausstrahlungen, Emanationen aus sich entläßt, schöpferische Energien, in der Sprache der Kabbala Sefiroth genannt. Sefira heißt an sich Zahl; aber hier soll das Wort mit Klang und Sinn sich dem Begriff »Sphäre« des Aristoteles annähern. Die erste Sefira, aus Gott selbst entlassen, hat wieder die zweite aus sich entlassen, die wieder die dritte und so fort bis zur zehnten. Diese Sefiroth haben die Welt erschaffen und halten sie in Ordnung. Jede von ihnen hat eine besondere Funktion, die einen für die höchste geistige Weltordnung, andere für die sittliche Weltordnung und wieder andere für die Welt der Sinne. Diese Sefiroth sind theosophische Welten, und die Mystik, die in das 389 Geheimnis der Schöpfung eindringen will, begreift sie als Stufen des Schöpfungswerkes, als die Kategorien, in die die Welt des sinnlich Wahrnehmbaren geordnet ist, als Wege auch des Menschen zu Gott, denn er kann durch sein Gebet auf die Sefiroth einwirken und sich auf diese Weise in unmittelbare Beziehung zu Gott setzen. Die Sefiroth sind, auf ihre Urkraft Gott bezogen, ihm wesensähnlich, aber nicht wesensgleich . . .

Da stehen wir plötzlich vor Begriffen der christlichen Gnosis. Das haben die Gegner der Kabbala schon sehr früh erkannt und ihren Anhängern den Vorwurf gemacht, daß sie die christliche Dreieinigkeit durch eine Zehneinigkeit ersetzten; daß sie an Stelle der klaren Gliederung Gott – Weltschöpfung – Weltexistenz eine gnostische Geschichtsphilosophie stellten, die mit dem Judentum nichts zu tun habe. Hier entsteht in aller Deutlichkeit ein ungemein wichtiges Problem der jüdischen Theologie; denn wenn auch die frühen Kabbalisten den Begriff der Einheit Gottes sehr konsequent wahrten, konnten die Spätern nicht verhindern, was das Schicksal aller gnostischen Ideen ist: daß die Kräfte, die als Auswirkungen gedacht sind, eine immer wachsende Selbständigkeit bekommen. Eines Tages überwuchern die Mysterienwelten, eigenlebig geworden, sogar ihren Ursprung: Gott. Das ist ein erregender Prozeß. Wie der Versuch, aus Ratio und Offenbarung eine Synthese zu schmieden, bei der unauflösbaren Antithese von beiden landete, so endete der Versuch, aus der mystischen Versenkung Gott zu finden, bei der Notwendigkeit, ihn von neuem suchen zu müssen. So ist das religiöse Leben des Juden aus seiner eigenen Bewegtheit heraus immer von neuem vor einen Anfang gestellt.

Wir können im Rahmen dieses Überblicks den Einzelheiten in der Entwicklung der kabbalistischen Welt und Lehre nicht nachgehen. Wir müssen uns vorerst damit begnügen, aufgezeigt zu haben, daß das Judentum imstande war, noch in der Überbelastung seiner äußeren Existenz die innere Existenz zu retten. Die mystische Welt der Kabbala empfing ihre ersten 390 Ausprägungen und literarischen Gestaltungen in der Provence und in Spanien, in diesen beiden Gebieten, von denen man als den letzten sagen konnte, daß sie dem Juden noch einen tragbaren Lebensraum gewährten. Wir werden uns bald mit Spanien als dem Lande zu beschäftigen haben, in dem für den Juden der apokalyptische Begriff der Hölle seine Verwirklichung fand.

 


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