Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Saul von Tarsus

Jesus von Nazareth war tot. Seine persönlichen Anhänger, die diesen tragischen Ausgang eines edlen, aber unerfüllten Daseins unmöglich voraussehen konnten, flohen erschreckt und verwirrt nach Galiläa, woher sie gekommen waren. Ihre Situation war eine verzweifelte. Mit dem Tode Jesu war zugleich ihre eigene seelische Existenz in Frage gestellt. Sie hatten sich aus dem drängenden Begehren dieser Zeit entschlossen, gerade diesen Menschen als den Messias des jüdischen Volkes anzunehmen, gerade auf ihn ihre Hoffnung zu übertragen, daß er das Reich Gottes auf Erden herbeiführen werde. Nach ihren jüdischen Vorstellungen konnte der Messias unmöglich etwas anderes sein als der erfüllende Mensch. Er hatte es ihnen auch selber zugeschworen: »Wahrlich, ich sage euch, es stehen 232 etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich.« Und zum anderen Male: »Wahrlich, ich sage euch: dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dieses alles geschehe.«

Was aber war statt dessen geschehen? Nichts: keine Erfüllungshandlung, kein Wandel der Zeit, nicht das kleinste Anzeichen für das verheißene Reich Gottes. Hingegen die Auslieferung an die weltliche Gerichtsbarkeit, die Verurteilung eines Verbrechers, die Klage des Sterbenden am Kreuze, daß Gott ihn verlassen habe . . . und die endgültige und nicht zu widerlegende Tatsache seines biologischen Todes.

Gegenüber einem solchen niederschmetternden Ausgang gab es nur zwei Verhaltungsweisen. Sie hatten die eine Möglichkeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen, ihren Irrtum nachträglich einzugestehen und ihre messianische Hoffnung auf einen neuen Anwärter des Amtes zu übertragen, wie es in jener Zeit des öfteren geschah. Eine solche Entschließung wäre natürlich nicht möglich gewesen ohne eine Selbstzerstörung ihres Glaubens. Dann wäre Jesus ein Messias gewesen, der etwas Unwahres verkündet oder zum Mindesten sich zu Unrecht als den Messias bezeichnet hätte. Wenn aber – wie in diesem Volke und in dieser Zeit – die Glaubensfähigkeit und Glaubenswilligkeit ein so ungeheures Maß erreicht hat, steht auch die andere Möglichkeit offen: das Faktum Tod zu leugnen oder ihm einen anderen Sinn zu geben; dieses neue und einmalige Faktum in das Gebäude ihrer Glaubenswelt einzuordnen, damit es nicht zusammenbreche. In ihnen allen war das Stöhnen des einen Jüngers auf dem Wege nach Emmaus: »Wir aber hofften, er sollte Israel erlösen.« Damit das Wahrheit werden konnte, mußte die Idee umgebogen werden; und das taten sie. Sie glichen ihre Idee nicht der Wirklichkeit an, weder dieser noch jener, weder der irdischen noch der himmlischen, sondern ihrer seelischen Notlage. Nie in der Geschichte ist bisher so wie in diesem Falle – von der heidnischen Mythologie 233 abgesehen – der Tod eines Menschen Ausgangspunkt seines Lebens geworden. Da ihre Vernunft den Tod des Messias nicht leugnen konnte, verlangte ihr Glaube seine Wiederauferstehung. Zwischen die unleugbare und endgültige Tatsache seines biologischen Todes und sein Fortleben in anderer Sphäre stellt sich diejenige Kraft, für die das Unmögliche keine Unmöglichkeit bedeutet: der Glaube. Dieser Glaube wuchs aus der religiösen Kraft jüdischer Herzen. Er hätte auch aus keiner anderen Kraft erwachsen können, weil keine andere schöpferische religiöse Kraft in jener Zeit bereitlag.

So ergab sich nach geraumer Zeit die Legende – die dasselbe ist wie die Wahrheit im Bereich dessen, was einer glaubt – daß Jesus von Nazareth wieder auferstanden und alsdann in den Himmel entrückt worden sei. Durch diese ungewöhnliche Glaubenstat war nicht nur die Fortexistenz des Messias gewährleistet, sondern auch ein Zentrum geschaffen, auf das Jesu Anhänger allen Glauben in allen seinen Wandlungsformen rückwärtsbeziehen konnten. Sie erfüllten damit zugleich die Aufgabe, eine Persönlichkeit, die zu ihren Lebzeiten nur geringe Kreise gezogen hatte, in eine Sphäre zu rücken, wo kein Maßstab der Wirklichkeit sie mehr einordnen und beurteilen konnte, wo ihre Wirkung folglich so unbeschränkt war wie die Möglichkeit eines Glaubens.

Die Träger dieses Glaubens waren, wie es nicht anders sein konnte, Juden. Sie stellten weder eine bestimmte Partei noch eine bestimmte Richtung dar. Es war eine Gruppe von Einzelnen, die an Jesus als den bereits erschienenen Messias glaubten. Soweit sich in diesem Augenblick überhaupt schon eine klare Sonderidee herausgebildet hatte – und das war erst in schwachem Maße der Fall –, unterschied sich die Lehre Jesu von der jüdischen Grundauffassung eigentlich nur durch die Minderung des Gedankens von der realen Messias-Erfüllung und durch die Betonung des persönlichen, des individuellen Moments im gläubigen Menschen und im Messias. Für etwas 234 anderes, insbesondere für die Heilslehre, war noch gar kein Raum. Wenn Jesus zu seinen Lebzeiten eine solche Idee wirklich konzipiert und gepredigt hätte und wenn ihr wirklich als Idee und in Jesu Lehrgebäude eine solche fundamentale Bedeutung zugekommen wäre, wie will man es dann erklären, daß das Judentum, zum Bersten voll von dem Verlangen nach einer religiösen Auflösung und Befriedung, diese Idee nicht aufgegriffen hat? Warum wurde sie dann nur von Einzelnen aufgenommen? Etwa, weil das Judentum in seiner Gesamtheit dafür noch nicht reif war? Aber es war doch ein Jude, ein Volljude, der diese Idee gepredigt haben soll. Oder sollte etwa der Heide, der Götzendiener von gestern, solche Gedanken besser begreifen als der Erbe von zwei Jahrtausenden religiöser Tradition? Es gibt da nur eine mögliche Auflösung: die Heilsidee hat zu Jesu Lebzeiten noch keine Rolle gespielt. Andere Differenzen trennten ihn und sein Volk.

Keine Partei als Ganzes konnte sich zu ihm bekennen. Die Pharisäer mußten mindestens gegen das »Reich nicht von dieser Welt« Widerstand empfinden, weil sie nicht bereit waren, auf die nationale Grundlage ihres Glaubens und ihrer Messiashoffnung zu verzichten, selbst wenn sie begriffen, welch ungeheure universale Potenz darin beschlossen lag. Die Zeloten waren zu sehr der politischen Leidenschaft ausgeliefert, um zu einer geistigen Variante des Erlösungsproblems überhaupt Stellung nehmen zu können. Die Sadduzäer, Opportunisten aus weltlicher Verfangenheit, waren an einer lebendigen Religiosität überhaupt zu wenig interessiert, um hier anders als abwehrend Stellung zu nehmen. Am nächsten standen der Ideenwelt Jesu noch die Essäer, und es unterliegt keinem Zweifel, daß sie von ihrem mystischen Fundus einen erheblichen Teil an den christlichen Glauben abgegeben haben. Aber die Idee der Vergottung eines Menschen und seine Mittlerstellung zu Gott lehnten auch sie ab. Sie begriffen Gott im unmittelbaren Verkehr, wenn auch unter vielen Mysterien. 235

So sind Jesu erste Anhänger Versprengte aus allen jüdischen Parteien, Einzelmenschen, die sich auf dem Boden des Judentums um eine ihnen gemeinsame Hoffnung scharen. Sie leben unter dem jüdischen Gesetze wie bisher. Sie ordnen sich einer der Erscheinungsformen unter, die der jüdische Messianismus erzeugt hat. Sie schließen sich in einer brüderlichen Gemeinschaft auf kommunistischer Basis zusammen, wie es die jüdischen Essäer längst taten. Aber sie hatten sich in dem Glauben, der Messias sei bereits erschienen, einen Sondergedanken geschaffen, und in dem Glauben, der gestorbene Messias sei wieder auferstanden, ein Zentrum für diesen Glauben. Sie erfüllten also alle Wesensmerkmale einer Sekte.

Als solche stellten sie innerhalb des Judentums ein wichtiges Element dar. Was für Jesus als Persönlichkeit gesagt worden ist, gilt natürlich auch für diejenigen, die an ihn glaubten, nämlich: daß in aller Einstellung zu den Dingen der Welt und des Himmels das individuelle, auf persönliche Erfüllung gerichtete Moment überwog und das Gemeinschaftliche, das Kollektive übersehen oder abgelehnt wurde. Aber es ist ein Irrtum, hierin nichts als die Gegensätzlichkeit sehen zu wollen. Es ist keineswegs so, daß auf der einen Seite, auf seiten der Anhänger Jesu, ausschließlich der religiöse Individualismus gestanden hätte und auf der anderen Seite, auf seiten der Juden, der absolute Kollektivismus. Die Auflösung des kollektiven religiösen Gefühls durch das freie, persönliche Religionsempfinden war ja den Juden nicht von Jesus wie eine Heilsbotschaft gebracht worden, sondern sie hatten sie schon vor Jahrhunderten durch die Propheten gelernt. Und sie standen gerade jetzt mit den besten ihrer Geister im Kampf um einen neuen Realisierungsversuch. Es ist vielmehr so, daß auf beiden Seiten das Individuelle und das Kollektive miteinander in Konflikt lagen, daß beide Teile versuchten, zu einer Synthese zu gelangen, und daß keiner von beiden das Ziel in der übermäßig kurzen Spanne der Entwicklung erreichte. Jesus, der zu Recht im 236 Religiösen die Persönlichkeit in den Vordergrund rückte, verlor dabei den Boden unter den Füßen, aus dem Glaube als Weltbild, als wahrhaft gestaltende Welt-Auffassung entspringt: die Gemeinschaft aus dem gelebten Alltag und aus dem Nebeneinander von Menschen. Die Judäer, die die Einmündung übermächtiger Gesetzesbestimmungen in die freiwillige Anerkennung ihrer sittlichen Grundlage durch die ganze Menschheit ersehnten, fürchteten zu Recht, sich in einer Religiosität zu verlieren, die die schönsten und erhabensten Forderungen nicht greifbar und wirklich machen kann; denn nur auf einer überaus hohen Stufe der Entwicklung kann religiöses Gefühl zu seiner Umsetzung in das Leben der vom Leben selbst geprägten Formen entraten.

Dieses also war die innere Beziehung zwischen dem Judentum und dieser jüdischen Sekte. Wenn diese Sekte von den übrigen Juden verfolgt wurde, so geschah dies nicht ihrer welterschütternden Bedeutung wegen oder wegen einer umstürzenden Gegensätzlichkeit, die ihr gar nicht zukam. Es geschah vielmehr, weil in diesem Schicksalskampfe des Volkes jede Absonderung eine Schwächung und Gefährdung bedeutete, gegen die jede Notwehr erlaubt und geboten war. Aber in dieser Sekte wohnte auch die Leidensidee, die Jesus zum erstenmal von der jüdischen Gesamtheit hinwegnahm und auf sich selber übertragen hatte, und so wurde es möglich, daß die Sektierer an dem Leid der Verfolgungen wuchsen. Aber außer dieser rein passiven Haltung des Gläubigseins und des Erduldens lag nichts in ihr, was sie aus der Umzäunung des Judentums heraus und zu weiterer Wirkung vor die Tore hätte treten lassen können. Andererseits hatte das Judentum keine Energie frei, sich diese Sekte wieder zu resorbieren. Der Impuls, der den nationalen Freiheitskampf begonnen hatte, war noch nicht abgelaufen. Er verzehrte alle freien Kräfte.

Im übrigen gab es in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod noch nicht das, was man später Christentum nannte. Es setzt 237 sich vielmehr mit verstärkter Energie ein Prozeß fort, der schon seit langem eingesetzt hatte: die allmähliche Ausstrahlung jüdisch-geistiger Energien in Richtung auf eine heidnische Umwelt. Wie das sich im alexandrinischen Bezirk anbahnte und vollzog, ist schon dargestellt worden, und gerade dort und in jener Zeit versucht ein alexandrinischer Jude von eminenter Bildung und ungewöhnlichem Formgefühl, zwischen dem judäischen Monotheismus und dem griechischen Heidentum eine Brücke zu schlagen: Philo von Alexandrien. Tief im Judentum verankert, hatte er doch alle Ströme griechischen Denkens in sich eingehen lassen. Er empfand sie als zwei schöpferische Gewalten, die fürderhin nicht mehr getrennt oder gar feindselig in der Welt wirken durften. Er unternahm den hoffnungslosen Versuch – hoffnungslos deshalb, weil der gewaltigste philosophische Gedanke ohnmächtig ist gegenüber der geringsten Bereitwilligkeit des Gefühls – durch Schriften, die an die internationale Intelligenz der Zeit gerichtet waren, dem Juden den philosophischen Gehalt seiner Lehre und dem Griechentum die Bedeutung des jüdischen Monotheismus nahezubringen. Da er aber seine Philosophie von Griechenland bezog, mußte er sie auf dem Umwege über die Allegorie in die Bibel hineingeheimnissen, statt sie aus den inneren Gesetzen ihres Werdens abzuleiten. Das nahm ihm den Einfluß auf die Juden, die nicht bereit waren, auf den realen Inhalt ihrer heiligen Überlieferungen zu verzichten; und da er andererseits das jüdische Volk als »Priester und Prophet« für das gesamte Menschengeschlecht begriff und den Griechen zumutete, sich dem mosaischen Gesetz als dem wahren Naturgesetz unterzuordnen, sich dem von ihm erspürten Universalismus des Judentums zu unterwerfen, konnte er bei ihnen nur auf die Zustimmung derer rechnen, die seine gedankliche Konzeption gerade akzeptierten. So blieb er ein Mensch großen Wissens, edlen Willens, und doch eine nutzlose Größe. Späterhin lasen ihn die Kirchenväter, sonst niemand. Andere als die, die er aufgerufen hatte, 238 betraten die von ihm geschlagene Brücke: die ersten Christen, als sie an die Ausgestaltung ihres Dogmas gingen; denn in ihm glaubten sie eine Bestätigung dafür zu finden, daß Gott einen leiblichen Sohn aus sich entlassen könne. Sie irrten sich. Er hatte es anders gemeint, als er die Lehre von der göttlichen Emanation und vom Logos aufstellte. Da Philo, mit griechischer Weisheit überladen, sich auch mit ihr auseinandersetzen mußte, nahm er gegen den Pantheismus der Stoiker Partei für die Lehre Platos von den schöpferischen Ideenprototypen. Zwischen Gott, den er gedanklich, unendlich und ohne Attribut begriff, und die Welt stellt er die von Gott ausgehende, von Gott ausstrahlende Schöpferkraft. Er erlaubt ihm nicht das Handwerk der Schöpfung selbst, sondern läßt ihn zu allem Anfang, »am ersten Tage«, die Welt der Ideen schaffen; nicht die Dinge selbst, sondern die Urbilder der Dinge. Nach diesem Urbilde, nach diesem »Vorbilde Gottes« ist dann die irdische Welt entstanden. Das ist die Lehre von der Ausstrahlung, der Emanation, und von ihrer schöpferischen Kraft. In vielen Bildern und Vergleichen sucht er diese Kraft und diesen Vorgang anschaulich zu machen, bald als Werkzeug, mit dem Gott bildet und schafft, als Demiurg, bald als vermittelnde Gestalt, als »Erzengel«, als »Erstgeborener Sohn Gottes«. Denen, die ihn benutzten, gab er damit den Beweis für die Existenz eines Gottessohnes.

Dort aber, wo nicht, wie in Alexandrien, die Intelligenzen aufeinanderstießen und die Auseinandersetzung zwischen Kulturen in die Spekulation und die Literatur abdrängten, vollzog sich allmählich, aus Anschauung und Beispiel des gelebten Alltags, eine Hinwendung der heidnischen, insbesondere der griechischen Umwelt zu den Grundanschauungen und Grundlehren des Judaismus. So war es in Rom, wo Horaz, Fuscus, Ovid und Persius sich über das Eindringen jüdischer Anschauungen beklagen; wo Seneca den Sabbat beschimpft, weil damit der siebente Teil des Lebens der Arbeit verloren gehe, und wo er 239 feststellt: »Die Bräuche dieser verbrecherischen Nation nehmen so sehr überhand, daß sie bereits in allen Ländern ihre Anhänger haben, und so zwingen die Besiegten den Siegern ihre Gesetze auf.« So war es in Italien, Syrien, Griechenland und Kleinasien. Übertritte zum Judentum waren an der Tagesordnung. Da aber die Fülle der Gesetze, insbesondere die Beschneidung, einem formalen Massenübertritt hinderlich war, bildete sich überall ein zahlreicher Judenanhang, Gruppen von Menschen, die sich »Gottesfürchtige« oder »Gottverehrende« nannten, und die sich zum einzigen Gott, zum Sabbat und zum Ritus des jüdischen Gottesdienstes bekannten. Mit der Bildung solcher Anhängerschaft war aber auch auf der anderen Seite die Auflösung des heidnischen Kults immer näher gerückt. Gerade in Kleinasien war das Gefüge der griechischen Religion am stärksten mit orientalischen Elementen durchsetzt. Götter aller Grade und Gegenden hatten sich zu einem chaotischen Synkretismus zusammengedrängt und fanden oft nur in orgiastischen Kulten ihre zwingende Kraft.

Der Judaismus, der hier mit den ersten und entscheidenden Angriffen eingesetzt hatte, war für eine konsequente und systematische Verfolgung des Angriffs in seinen Kräften zu sehr gebunden. Aber judaistische Elemente allein konnten hier als Welt gegen eine Welt auftreten. Darum war es die jüdische Sekte der Jesusanhänger, die, durch das Schicksal ihres Volkes nicht mehr gebunden, gerade hier ihr Feld fand. Das ist folgerichtig. Denn damit eine im Judentum geborene und im Judentum beharrende Sekte überhaupt in die Welt eintreten und wirken konnte, mußte sie ihren Erbbestand mit sich bringen; und das wiederum aus dem Grunde, weil – was auch der Menschheit an religiöser Kraft zugetragen werden sollte – immer zwei unerläßliche jüdische Urelemente die Grundlage bilden mußten: der Monotheismus und die Forderung nach sittlicher Haltung des Menschen. Das vollzog sich auf dem Wege, den die jüdischen Kolonien begrenzten, und mit den Mitteln des 240 Judentums. »Im Schatten der jüdischen Gemeinschaft breitete sich das Christentum aus.« (Hoenicke.)

Hätte es sich aber um weiter nichts gehandelt als um die Propagierung dieser beiden Kernideen, dann wäre die Entwicklung nicht beim Christentum gelandet. Dazu war es nötig, daß aus dem jüdischen Umkreis weiterhin umkämpfte mystische Elemente und aus dem Heidentum Elemente gleicher Prägung den beiden Kernideen hinzugefügt wurden. Endlich war es nötig, daß durch eine besondere Energie die im Judentum ruhende universale Potenz frei gemacht wurde, zugleich aber auch der Nährboden dieser universalen Potenz, das im Nationalen gewachsene Gefühl der religiösen Verantwortung für die ganze Menschheit, verneint und als feindlich deklariert wurde. Das alles geschah im Laufe eines Menschenalters durch den Juden Saul aus Tarsus.

Wir wiederholen unsere Auffassung, daß es keine Religionsgründer gibt, sondern nur Menschen, die es vermögen, eine schon bereite Kraft auszulösen. Aber Saul kommt dem Typ des Religionsstifters am nächsten. Er verrät auch am stärksten und sichtbarsten die Möglichkeiten, die damals im Judentum lagen. Unter den Explosionsergebnissen der damaligen Judenheit ist er das vehementeste. Er hat auch so stark wie selten einer und mit einem ungemein geschärften Instinkt das Verbindende und das Trennende im Verhältnis von Judentum und Heidentum zueinander erkannt und genützt.

So wenig wir oben die inneren Verhältnisse, das heißt: die Beziehung des Judentums zu dieser jüdisch-christlichen Sekte, als einfach gegensätzlich bezeichnen konnten, so wenig verlaufen auch die äußeren Verhältnisse, das heißt: die Beziehung des Judentums zur heidnischen Umwelt schlechthin, im Gegensätzlichen. Beide, Judentum wie Heidentum, lebten in der äußersten religiösen Unruhe. Das Judentum zerbarst an dem Übermaß religiösen Wollens. Das Heidentum lag erdrückt unter dem Übermaß religiösen Versagens. Eine übersteigerte positive und eine 241 übersteigerte negative Kraft standen einander gegenüber. Als solche konnten sie sich treffen, und zwar letzten Endes beide im Versagen. Der Jude versagte – unter der Überbelastung durch das äußere Geschehen – vor dem Versuch, die Wirklichkeit weiterhin zu sublimieren. Der Heide versagte vor seinen Göttern, indem er sie mit seiner eigenen ungeformten und durch keine religiöse Zielsetzung gebundenen Wirklichkeit überbelastete. Indem der Jude in eine andere geläuterte Wirklichkeit auszuweichen suchte und der Heide aus einem geborstenen zu einem ewigen Himmel zu fliehen suchte, wurde eine Zwischenatmosphäre geschaffen, in der das Christentum Tatsache werden konnte.

Heidentum und Judentum stehen sich also gegenüber in der Haltung der Verzweiflung: bei dem Juden aus der übermäßigen Erwartung einer Erlösung, bei dem Heiden aus der übermäßigen Erwartung einer Auflösung. Das bedeutete bei beiden zugleich die Flucht vor ihrer bis dahin gelebten Realität; beim Juden Flucht vor der immer erneut aufbrechenden Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit; beim Heiden Flucht vor einem Lebensablauf, der niemals im Geistigen, Seelischen, Religiösen aufgefangen und aufgelöst und befriedigt wurde. Der Jude lebte seine Wirklichkeit unter einem Übermaß von Gesetzesbindungen, der Heide unter einem Übermaß der Götterwillkür, oder, was das gleiche ist: der Gesetzlosigkeit. Der Jude hatte sich in das Selbstvertrauen der Erlösung durch seinen Glauben zu tief hineingesteigert. Der Heide hatte jegliches Vertrauen auf eine Beruhigung seiner Innenwelt noch zu vergeben. Für beide war die Fortsetzung ihrer religiösen Existenz verbunden mit dem Begriff der Erlösung. Beider innere Situation verlangte gebieterisch nach einem Messias. Das Judentum brauchte einen Messias, um zur endgültigen Realisierung seiner Ideologie zu kommen. Das Heidentum brauchte einen Messias, um aus der erwürgenden Umklammerung einer zusammenbrechenden Götterwelt den Zugang zu einem geistigen, das heißt: 242 menschlich-sittlichen Dasein zu finden. Das sind an sich gewiß zwei grundverschiedene Dinge. Es ist die schöpferische Leistung des Saul, die hier vermittelte und dem Heidentum gab, nicht, was ihm die Erfüllung bringen konnte, aber was es noch nicht besaß.

Unter denen, die in Jerusalem und Palästina die neue Sekte verfolgen, ihre Propaganda unterbinden wollen und ihnen das öffentliche Predigen im Tempel untersagen, ist ein junger Jude, Saul, aus Tarsus im kleinasiatischen Cilicien gebürtig, der nach Jerusalem gekommen ist, um dort unter dem Lehrer Gamaliel zu studieren. Er bezeichnet seine Art und Herkunft einmal sehr eindeutig mit den Worten: »Ich bin ein Pharisäer und eines Pharisäers Sohn.« Dabei sind es nicht eigentlich die Pharisäer, die die neue Sekte verfolgen, sondern die Sadduzäer, dieselben, deren Eingreifen auch das Geschick Jesu bestimmt hat. Als Petrus und andere Führer der Sekte wegen ihrer Propaganda vor das Synhedrion gebracht und unter Anklage gestellt werden, sind es gerade die Pharisäer, die ihre Freilassung mit der Begründung bewirken, daß diese Leute doch eigentlich strenggläubige Juden seien. Auffällig ist der fanatische Eifer, mit dem Saul die Sektierer verfolgt. Wie die Jesusanhänger von Juden aus dem griechischen Sprachgebiet, die nach Jerusalem übersiedeln, Zuwachs bekommen und die vermehrte Propaganda Zusammenstöße erzeugt, wird einer von ihnen, Stephanus, wegen seines aufreizenden Verhaltens vor dem Synhedrion vom Volke gesteinigt. Seine persönlichen Anhänger fliehen, setzen aber in der nahen und weiteren jüdischen Diaspora, in Samaria, in Phönizien, in Antiochia, in Damaskus, auf Cypern ihre Werbung fort. So wie Saul unter den Verfolgern des Stephanus war, erbietet er sich jetzt freiwillig zur Verfolgung seiner Anhänger. Zur Vernichtung der Sektierer, der »Ketzer« macht er sich darum auf den Weg nach Damaskus.

Auf dem Wege dorthin geht ein entscheidender Gesinnungswandel in ihm vor. Wir wissen nicht, was ihn plötzlich 243 veranlaßte, die Verfolgung der Jesusanhänger aufzugeben und sich mit ihnen solidarisch zu erklären. Vielleicht hat er wirklich eine Vision gehabt. Vielleicht ließ sie etwas in ihm aufbrechen, was da schon vorbereitet lag; vielleicht war dieser Fanatismus der Ketzerverfolgung von allem Anfang an nur die verdrängte, in ihr Extrem verwandelte Zuneigung zu dem Mystizismus des Jesus-Messias. Jeder Versuch, den Vorgang selbst zu erklären, wird unzulänglich bleiben. Man kann nur darauf hinweisen, daß er in einem jüdisch-hellenistischen Milieu aufgewachsen ist, in dem Kulturen und Anschauungen sich berührten und in äußerster Mannigfaltigkeit Zwischenprodukte und Mischprodukte schufen. Aber im übrigen ist dieser Vorgang in einer religiös so erregten Zeit weder ungewöhnlich, noch kommt ihm die grundlegende Bedeutung zu, die ihm oft beigelegt wird. Denn es hat sich hier einstweilen nichts anderes vollzogen, als daß ein pharisäischer Jude sich zur jüdischen Sekte der Jesusanhänger bekennt. Mit keinem Worte, keinem Gedanken und keiner Handlung wird hier auch nur angedeutet, daß auf dem Wege nach Damaskus aus Saul, dem Juden, Paulus, der Judenbekämpfer, geworden sei. Er hat sich mit seiner inneren oder äußeren Umstellung in keinen anderen Gegensatz zum Judentum begeben als in denjenigen, den die Sekte der Jesusanhänger überhaupt darstellte. Erst auf einer späteren Stufe seiner Entwicklung sehen wir Saul in ein Gelände ausbrechen, das sich einem Menschen seiner religiösen Begabung als hoffnungsvoll darstellte und das er eroberte, indem er die latente Gegnerschaft zweier Welten zu einem auf Gott und Jesus zurückbezogenen Dogma umdachte und umformte.

Ein Mensch von der Aktivität Sauls konnte sich nicht damit begnügen, innerhalb der Sekte einer unter anderen zu sein. Die Unermüdlichkeit, die ihn bisher getrieben hatte, treibt ihn weiter. Wenn er bisher leidenschaftlich verfolgte, so beginnt er jetzt leidenschaftlich zu predigen. Von allem Anfang an ist in ihm sichtbar, was in Jesus sichtbar wurde: der unbedingte und 244 absolute Wille zur Wirkung: Alle Sektiererschaft, in dem Bewußtsein, den einzig wahren Weg des Heils gefunden zu haben, geht auf Werbung aus und auf Zuwachs, und während die Staatsreligionen zum Zwecke der Bekehrung mit dem Schwerte dreinschlagen, wirbt die Sekte, solange sie nicht Macht hat, mit allen anderen Mitteln, ob sie gerade seien oder nicht. »Was tuts aber« sagt Paulus, »daß nur Christus verkündet werde allerleiweise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich doch darüber und will mich auch freuen.« Ihm kann es nicht schaden, ihm kann es nicht von innen her das Amt zerbrechen, wenn er den Willen zur Wirkung so fanatisch vorwalten läßt. Denn er ist nicht Messias. Er stützt sich vielmehr auf einen schon erschienenen Messias. Darum ist seine Position viel gefestigter. Er braucht durch sein Leben und seine Taten nichts mehr zu erzeugen, nichts mehr zu beweisen. Er kann schon behaupten und Folgerungen ziehen, und das tut er mit einer steigenden Vehemenz, der man die Genialität nicht absprechen kann.

Antiochia wird in der Folge das Zentrum, von dem aus die Propaganda betrieben wird, und zwar methodisch, zielbewußt. Hier, innerhalb dieser Gruppe von Juden und Heiden, die glauben, daß Jesus der Messias der Juden gewesen sei, taucht in wörtlicher Übersetzung des Wortes Moschiach (Messias) das griechische Wort »Christos« auf, und die bis dahin unbenannten Gläubigen nennen sich zum ersten Male Christen. Aber diese Christen sind immer noch eine jüdische Sekte, und man kann immer noch von ihnen aussagen, womit die Pharisäer Petrus vor dem Synhedrion verteidigt haben: es seien strenggläubige Juden. Aber gerade diese Strenggläubigkeit, die ein national-religiöses Leben erzeugt hat, erschwerte so den Übertritt zur Sekte, wie sie den völligen Anschluß der »Gottverehrenden« und »Gottesfürchtigen« an das Judentum erschwert hatte.

Diese Erschwerung aus dem Wege zu räumen, macht Paulus 245 zu seiner nächsten Aufgabe. Aus eigener Machtvollkommenheit erklärt er denen, um die er wirbt, es sei nicht nötig, sich allen Gesetzen des Judentums zu unterwerfen, um Christ zu werden und um damit zu denen zu gehören, für die der Messias bereits erschienen sei. Er erklärt es den Heiden und den Juden, und während er so den Heiden eines der größten Hindernisse, die Zeremonie der Beschneidung abnimmt, gibt er zugleich vielen Juden in der Diaspora eine Befreiung. Der verschärfte Druck der Zeiten hatte den verschärften Druck der Gesetze mit sich gebracht. Der Druck der Zeiten unterlag Schwankungen. Der Druck des Gesetzes blieb konstant; er wuchs sogar. Er konnte die Schwankungen des äußeren Druckes, also auch die Erleichterungen nicht mitmachen. Viele, die in dem Druck der Gesetze nicht eine auf weite Sicht berechnete Maßnahme sehen konnten, sondern sie höchstens als zeitlich begrenzten Notwehrakt begriffen, entzogen sich diesen Druckschwankungen und damit generell dem ständig wachsenden Druck. Sie waren der ungewöhnlichen Belastungsprobe nicht gewachsen.

Mit steigendem Unbehagen wird diese Art der Propaganda von der christlichen Gemeinde in Jerusalem empfunden. Was hatte doch Jesus gesagt? »Denn ich sage euch wahrlich: bis daß Himmel und Erde zergehen, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz, bis daß alles geschehe. Wer nur eines dieser kleinsten Gebote auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich.« Somit tat Paulus, was nicht Absicht und Lehre ihres Messias war, und daran mußten sie ihn hindern. Paulus lehrte: »So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.« Diesem großen, verpflichtenden Wort stellte Jakobus ein nicht minder großes und gewichtiges gegenüber: »Was hilft's, liebe Brüder, so jemand sagt, er habe den Glauben, und hat doch die Werke nicht? . . . Also auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist er tot an ihm selber.« 246

Aus diesem Gedanken und aus der Berufung auf das, was Jesus gelehrt hat, setzt eine Gegenwirkung ein. Die Gemeinde Jerusalem sendet eine Abordnung nach Antiochia, unter Führung des Jakobus, Jesu Bruder. Dadurch wird aber nicht Klärung geschaffen, sondern nur vermehrte Verwirrung. Paulus sieht sein begonnenes Werk gestört. Aber er ist nicht der Mann, der sich ohne Gegenwehr seine Wege durchkreuzen läßt. Im Gegenteil: jeden Angriff pariert er durch eine verdoppelte Abwehr. Dieses überfeine Reagieren auf jeden Widerstand hat er mit Jesus gemeinsam. (Das ist ein Merkmal jüdischer Menschen, die zu oft angegriffen worden sind.) Aber im Gegensatz zu ihm flüchtet sein Wirkungswille sich nicht in eine Unzahl von Verneinungen, sondern in eine Unzahl von übersteigerten Konsequenzen. Jesus lebte in einem gebundenen Milieu, in dem er allein Erfolg haben oder versagen konnte. Paulus hingegen hat die Möglichkeit, Kräfte gegeneinander auszuspielen. Wenn der jüdische Teil der Sekte sich ihm oder seiner Zielsetzung versagt, kann er sich dem heidnischen Teil zuwenden. Jesus stand in einem gewachsenen und geschlossenen Kreise. Paulus steht in einem Ausfalltor, das in die unermeßliche Ebene des Heidentums führt. Es endgültig aufzureißen, war nur eine Frage der Konsequenz. Er hat sie eines Tages gezogen.

Einstweilen begibt er sich nach Jerusalem, um vor den dortigen Gemeindeführern, den Aposteln, seine Sache zu vertreten. Er hat ein Argument, dem sich die Gemeinde nicht verschließen kann: den Erfolg, und zwar vor allem: den Erfolg unter den Heiden. Dieser Erfolg wird gefährdet, wenn man seine Art, zu lehren und vom Gesetz zu dispensieren, unterbindet. Richtig folgert Jakobus: »Darum urteile ich, daß man denen, so aus den Heiden zu Gott sich bekehren, nicht Unruhe mache.« Die Sekte braucht Wachstum. Das ist entscheidend. Darum will man den Heiden die Verpflichtung des Gesetzes ersparen. Aber drei Gebote, gegen die ein Verstoß nach jüdischen Begriffen von unvorstellbarer Schwere ist, sollen unter allen 247 Umständen auch von den Heiden gehalten werden: sie sollen keine Götter, keine Götzen mehr anbeten; sie sollen nicht Unzucht oder Blutschande treiben; sie sollen nicht das Fleisch erstickter Tiere und kein Blut genießen. (Das letztere um deswillen nicht, weil nach uralter jüdischer Anschauung das Blut der Sitz der Seele ist.) Daß es sich hier um nichts anderes handelt als um eine Haltung der Zweckmäßigkeit, beweist der Brief, der von den Aposteln an die Heiden nach Antiochia, Syrien und Cilicien gerichtet wird: »Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns, euch keine Beschwerung mehr aufzulegen als diese nötigen Stücke.«

Saul, jetzt schon Paulus, hat von da an nur eine einzige Aufgabe: die Erfolgsmöglichkeiten zu sichern, die ihm durch diesen Beschluß gewährt sind. Es geht ihm im Grunde genommen noch nicht um die Aufhebung der Gesetze, sondern um den Erfolg. Wo er es für den Erfolg opportun betrachtet, wendet er das Gesetz unbedenklich an. Den Timotheus, Sohn eines griechischen Vaters und einer jüdischen Mutter, läßt er beschneiden »um der Juden willen, die an den Orten waren; denn sie wußten alle, daß sein Vater war ein Grieche gewesen«. Und er bekennt selbst: »Den Juden bin ich geworden wie ein Jude, auf daß ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich geworden wie unter dem Gesetz, auf daß ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich ohne Gesetz geworden, auf daß ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne.« Das ist eine Unbedenklichkeit im Wirkungswillen, die sich später, als er unter Anklage gestellt wird, zu einer Haltung steigert, von der man zweifeln kann, ob sie die Sophistik eines gelehrten Pharisäers oder schlichte Lüge sei. Vor dem Synhedrion in Jerusalem erklärt er: »Ich werde angeklagt um der Hoffnung willen und der Auferstehung der Toten.« Das ist nicht wahr. Wahr ist, daß er eine Spaltung unter den Juden hervorruf en will, weil er weiß, daß die Sadduzäer im Rat nicht an die Auferstehung glauben. Und wie er sich vor 248 dem Landpfleger Felix zu verantworten hat, wiederholt er nicht nur diese Unwahrheit, sondern erklärt mit der Sophistik des extremen Pharisäers: »Das bekenne ich aber dir, daß ich nach diesem Wege, den sie eine Sekte nennen, diene also dem Gott meiner Väter, daß ich glaube allem, was geschrieben steht im Gesetz und in den Propheten.« Und um endlich jeder Auseinandersetzung mit den Menschen seines Glaubens und seines Volkes auszuweichen, beruft er sich stolz auf sein römisches Bürgerrecht und appelliert in dieser Eigenschaft an das kaiserliche Gericht in Rom. Er kannte keine Hemmung, wenn es um die Wirkung und das Ziel ging.

Auf seinen Propagandareisen, die er mit unermüdlichem Eifer fortsetzt, fällt ihm der Erfolg nicht immer so schnell zu, wie sein leidenschaftliches Drängen es sich wohl wünscht. Dabei enthüllt sich eine weitere auffallende Ähnlichkeit mit Jesus, wie wir ihn sehen. Auch hier, bei Paulus, steht neben dem übernommenen Amt das Persönliche, Individuelle, Private mit übermäßiger Bedeutsamkeit und Wirkung. Da, wo man ihm glaubt und ihm folgt, ist er milde, väterlich, wohlwollend, gütig. Aber da, wo er Widerstand spürt, ist er von einer überschnellen, aggressiven Gereiztheit. Noch predigt er, seinem Prinzip getreu, Juden und Heiden in gleicher Weise; aber er hat bei den Juden trotz seiner pharisäischen Gelehrsamkeit einen ungleich schwereren Stand. Sie widersprechen ihm. Es ist, als ob Paulus auf diesen Widerspruch gewartet hätte, als sei er sich bewußt gewesen, daß in diesem Stadium seine Sekte noch in einem Zwitterzustand lebe, der reinliche Scheidung verlange; denn zu zwei Malen bricht jäh und mit völlig unchristlichem Hochmut eine Erklärung aus ihm heraus, die spontan und doch von langer Hand ungeduldig vorbereitet erscheint. Er sagt den Juden: »Euch mußte zuerst das Wort Gottes gesagt werden; nun ihr es aber von euch stoßet und achtet euch selbst nicht wert des ewigen Lebens, siehe, so wenden wir uns zu den Heiden.« Und zum anderen Male: »Da sie aber widerstrebten und lästerten, 249 schüttelte er die Kleider aus und sprach zu ihnen: »Euer Blut sei über euer Haupt! Rein gehe ich von nun an zu den Heiden.«

Gewiß, man kann diese Erklärung so deuten, als habe er nur für sich selbst das Feld seiner Betätigung abgrenzen wollen. Während er Petrus als den Apostel unter den Juden bezeichnet, bezeichnet er sich als Apostel unter den Heiden. Aber das bedeutet in Wirklichkeit mehr als Abgrenzung der Kompetenzen. Das bedeutet eine weitere Konsequenz in seinem Verhalten auf seinem Wege, ein weiteres, dieses Mal entscheidendes Abrücken vom Judentum, aus dem er hervorgegangen war. Dem steht auch nicht entgegen, daß er im Römerbrief seine Hoffnung auf Bekehrung der Juden ausdrückt, wenn erst die Fülle der Heiden sich zum Christentum bekehrt habe. Das ist ein Wechsel auf ferne Zukunft, den er ausstellen mußte, um dem Heiden verständlich zu machen, daß eine aus dem Judentum entsprungene Lehre von den Juden selbst verworfen wurde. Paulus hat vom Judentum eine schwerwiegende Erbschaft übernommen: das Gefühl der Verpflichtung gegenüber dem Gedanken. Und so bindet er sich selber nicht nur an das, was in ihm das Ergebnis eines Denkprozesses ist, sondern auch an das, was der Widerstand gegen seinen Wirkungswillen spontan aus ihm hervorgestoßen hat. Es ist nirgends geschrieben oder verheißen, die Erkenntnis des Heils müsse zuvor vergeblich den Juden gepredigt werden. Das ist eine Blasphemie gegen das Gottesvolk kat' exochen. Noch in ihrem Versagen waren sie ein heiliges Volk, denn es war ein Versagen im Bemühen um die höchste Fassung des Gottesbegriffes. Aber Paulus hat eine Behauptung aufgestellt, die ihn zum Beweis verpflichtet; und er führt den Beweis.

Es ist hier nicht der Raum, auf diese Beweisführung im einzelnen einzugehen. In der Methode ist sie eine Höchstleistung des pharisäischen Geistes, ein bedenkenloses Übersetzen und Umdeuten, ein willkürliches Allegorisieren, sehr klug, sehr schön und sehr privat. Selbst die Psalmen, diese individuellen 250 Ergüsse gläubiger Einzelmenschen, diese liturgischen Gesänge aus der schöpferischen religiösen Potenz des Judentums, deutet er ohne Hemmung als Weissagungen um, die sich auf das Erscheinen Jesu beziehen. Aber entscheidender als Beweis und Beweismethode ist die innere Haltung, aus der eine solche Beweisführung überhaupt möglich wurde. Diese Haltung wird im Laufe einer kurzen Entwicklung immer sichtbarer, besonders weil er nicht nur in einem Gegensatz zu den Juden steht, sondern auch mit fortschreitender selbstherrlicher Wirkung in einem Konflikt mit den Christen. In Syrien und Kleinasien herrscht offener Kampf zwischen den judenchristlichen Aposteln und den Heidenaposteln. Paulus agitiert in aller Offenheit gegen Petrus, den »Fels der Kirche«. Offiziell geht der Kampf weiterhin um die Frage: Gesetz oder nicht. Aber indem Paulus sich gegen das Gesetz entscheidet, kann er sich gegenüber den wohlbegründeten Angriffen seiner Gegner nicht mehr auf das negative Moment berufen, daß das Verlangen nach dem Gesetz den Erfolg gefährde. Er muß etwas Positives dafür ins Treffen führen; er muß den Heiden und den Juden unter den Christen beweisen, daß gerade die Verneinung des Gesetzes das Positive sei, daß gerade die Ablehnung und Verwerfung des Gesetzes der Ausgangspunkt sei, von dem her allein sie zu ihrer Erlösung kommen könnten.

Hier kommt es auf das Grundsätzliche des Begriffes »Gesetz« an. Die übliche Übersetzung des Wortes »Thora« mit »Gesetz« ist ungenau. Thora heißt Weisung, Unterweisung, Anweisung; nicht aber Gesetz im Sinne von Rechtsnorm. Das Gesetz in diesem Sinne war also nichts Selbständiges, nichts an sich und durch sich selbst Verpflichtendes. Nie war es Selbstzweck, sondern unter allen Umständen Mittel zum Zweck, die Herrschaft Gottes, die Theokratie zu verwirklichen und damit Vollendung und Erlösung des Menschen und der Welt herbeizuführen.

Ein Unterschied oder ein Gegensatz zwischen Gesetz und Glaube konnte also im Judentum niemals begriffen werden. 251 Daß das Leben solchen Gegensatz in mannigfacher Form hervorbrachte, beweist nichts gegen die Idee, sondern nur etwas für die menschliche Schwäche, und ein flüchtiger Blick in die Apostelbriefe beweist, daß die Christen die letzten waren, die hier die Makellosigkeit für sich in Anspruch nehmen durften. Aber Paulus brauchte diesen Gegensatz, um zu rechtfertigen, daß Juden und Juden-Christen gegen ihn in Opposition standen. Darum schuf er den Gegensatz. Er schuf ihn mit vielfacher Begründung, aber mit einer unheimlichen, dämonischen, bis an das Geniale streifenden Konsequenz. Die Vernachlässigung des Gesetzes als Propagandamittel hört auf. Die Verneinung des Gesetzes als Prinzip setzt ein. Die Auflockerung aus dem Individuellen her, die Jesus und die Pharisäer anstrebten, wird übersteigert zur Vernichtung des Gesetzes um des Individuellen willen. Er greift auf den Kardinalsatz zurück, der ausgesprochen und nicht ausgesprochen das Fundament der jüdischen Sittenlehre bildet: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Dieser Kernsatz, als Gedanke und als Formulierung, ist nicht Paulus' Produkt, sondern altes jüdisches Erbgut. Aber indem er diesen einen Satz herausgreift, tut er weit mehr, als nur die Summe der »Gesetze« auf eines und auf den Ursprung zurückzuführen. Er greift damit in das Zentrum des Judentums, er greift die universale Potenz an, die darin ruht; die Kraft, die darum universal ist, weil schon mit der jüdischen Gottesanschauung der Begriff des Universalen unlösbar verbunden ist; weil es nur einen Schöpfer gibt, folglich nur eine Schöpfung und nur eine Menschheit; und endlich, weil die Verdichtung des Transzendentalen zu einem einzigen göttlichen Begriff durch das Mittel sittlichen Verhaltens auf die ganze Menschheit anwendbar ist und von der ganzen Menschheit angenommen werden kann.

Stellte auch dieses Herausgreifen eines universalen Gedankens an sich eine Bestätigung und Bejahung des Judentums dar, so mußte es sich in dem gleichen Augenblick in ein Anderes 252 verkehren, wo dieses Herausgreifen nicht nur in der Absicht geschah, diesen Gedanken auch den Heiden zugänglich zu machen, sondern ihn von seinem Ursprung abzulösen und ihn dem Heidentum zuzuwenden; dem Judentum die weitere Vertretung der Gotteserkenntnis abzusprechen und das Heidentum an seine Stelle treten zu lassen. Das gerade ist es, was Paulus jetzt tut. Er unternimmt den Versuch, die universale Potenz des Judentums im Heidentum zu realisieren. Es ist folgerichtig, daß er das unter Vernachlässigung des Nationalen und der aus diesem nationalen Leben erwachsenen Gesetze tut. Wenn der Judaismus sich universalistisch auswirkt, muß er selbstverständlich den nationalen Rahmen sprengen. Aber das wäre noch nicht Grund und Anlaß gewesen, Christentum und Judentum in einen feindlichen Gegensatz zu bringen. Das hätte höchstens zu einem Wettbewerb mit gleichen Mitteln zu gleichen Zielen, wenn auch mit verschiedenem Grade religiöser Begabung führen können. Aber Paulus wollte nicht das Gleiche auf anderer Ebene; er wollte das durchaus Andere, das durchaus Gegensätzliche, das durchaus Feindliche, das seiner persönlichen Feindschaft entsprach und ihr die tiefste Rechtfertigung gab.

Auf dieser Stufe seiner individuellen Entwicklung setzt nun seine schöpferische religiöse Begabung mit einer unerhörten Kraft, Konsequenz und Feinfühligkeit für die unbefriedigten Bedürfnisse der Heidenwelt ein. Die Heiden hatten es längst begriffen und längst leidenschaftlich und mit verhaltenem Neid bekämpft, daß die Juden Träger eines göttlichen Auftrages, einer Mission seien. Jetzt erklärt Paulus den Heiden: den Juden ist ihre Mission genommen; sie ist auf euch übergegangen. Damit ist den Heiden das Odium erspart, die Erbschaft eines fremden Volkes antreten zu müssen und Dank zu schulden. Sie treten vielmehr die Nachfolge kraft besonderen göttlichen Auftrages an. Aber damit war es nicht getan. Erbschaft oder Amtsnachfolge: es fehlte dem Heiden im einen wie im anderen Falle an der Tradition, mit der er die neue Botschaft hätte auffangen 253 und fortsetzen können. Wer war das: der einzige Gott? Wie konnte man zu ihm gelangen? Konnte man zu ihm gehen wie zum marmornen Bildnis im Götzentempel? Und was war das: ein Messias? Ein Mensch? Ein Gott? Und wie sah das neue Reich aus, das er herbeiführte?

Indem es Paulus unternahm, diese Fragen zu beantworten, schuf er das Christentum als eine Ordnung chaotischer jüdisch-heidnischer Glaubensanschauungen. Zwar den Begriff der Theokratie konnte Paulus nicht auf die heidnische Welt übertragen, aber soweit Glaube an individuelle Bedingungen geknüpft ist, gelang ihm ein genialer Kompromiß. Er stellte theoretisch, der Idee nach, für das Heidentum die seelische Gleichheit aller Menschen her, indem er sich ihren seelischen Bedingungen anpaßte (im Gegensatz zum Judentum, das Anpassung verlangte). Er begriff ihre seelische Situation vollkommen. Die heidnische Götterwelt zerbröckelte. Die Frage, was nun kommen werde, mußte sich zwangsläufig ergeben. Da ließ Paulus das Christentum vor sie hintreten mit der Predigt: Es kommt das Ende; es kommt die große Abrechnung. Eine solche Folgerung konnte nur aus einem Volke kommen, das das Ende der Zeiten und eine Abrechnung als den Ausgleich verletzter Gerechtigkeit kennt. Aber so abstrakt konnte der Heide diesen Gedanken nicht begreifen und ihn folglich nicht aufnehmen. Auch dafür fehlte ihm die Tradition. Er konnte ihn nur aus der Furcht her begreifen, in der er schon lebte und die von einer neuen Furcht noch überwuchtet werden mußte, um reif zu werden für die Auflösung in einen Trost. Es mußte ihm die furchtbare Drohung von der Auslese gegeben werden, die am Ende der Tage vor sich gehen wird. »Ich sage euch: in derselben Nacht werden zwei auf einem Bette liegen; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden. Zwei werden mahlen miteinander; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden.«

So werden sie vor ein neues Schicksal gestellt, mit neuer 254 Furcht, aber nicht ohne Hoffnung. Es wird nur von ihnen verlangt, daß sie an den Christos glauben. Doch der Wechsel ihrer religiösen Haltung, der damit verbunden ist, wird ihnen nicht als Pflicht auferlegt, sondern als eine Gnade zur Verfügung gestellt. Wenn sie die Gnade annehmen, wandelt sich ihr Schicksal. »Drum gedenket daran, daß ihr zu derselben Zeit waret ohne Christum, fremd und außerhalb der Bürgerschaft Israels und fremd den Testamenten der Verheißung; daher ihr keine Hoffnung hattet und waret ohne Gott in der Welt.« Darauf kam es an: daß sie keine Hoffnung hatten und ohne Gott in der Welt standen; und aus dieser Verlassenheit wird ihnen jetzt die Heimat geboten: »So seid ihr nun nicht mehr Gäste, Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen.«

Dieser Christos, dieser Messias, der das bewirkt, muß natürlich ein ganz anderer sein als der, den das Judentum herausgebildet hatte. Schon die Zwecke waren verschieden. Für das Judentum war die Erwartung eines Messias keineswegs das Ende, sondern ideenmäßig der Höhepunkt seiner Entwicklung. Für das Heidentum war der Messias das Ende einer alten Welt und der Beginn einer völlig anderen, einer grundlegend verschiedenen. Darum löst Paulus die Messiasidee sowohl von ihrem geistigen wie von ihrem nationalen Ursprung ab. Aus Jesus, der der Messias der Juden hat sein wollen, wird Christos, ein himmlisches Wesen, ein wirklicher Sohn Gottes, der nur vorübergehend auf die Erde kam und dort menschliche Gestalt angenommen hat, um die Nichtjuden zu erlösen. Zwar verlangt ein solches Vermischen des Menschlichen mit dem Göttlichen ein Maß von mystischer Bereitwilligkeit, wie es unter gewissen Bedingungen und zu gewissen Zeiten gewisse Menschen wohl aufbringen können und wie es die Menschheit in ihrer Totalität nie hat aufbringen können und nie aufbringen wird. Aber der heidnischen Welt war solcher Vorgang aus ihren Göttermythen her wohl vertraut. Sie wußten nicht nur, daß Götter Söhne von 255 irdischen Frauen haben und daß ein Mensch ein Gott werden kann, sondern auch, daß ein Gott sterben und wiederauferstehen kann. Gerade in Antiochia, dem Sitz der christlichen Propaganda, feierten die Heiden in einem Frühlingsfest das Sterben und das Wiederauferstehen des Adonis. Tarsus, die Heimat Paulus', kannte das gleiche Fest. Über ganz Syrien und Kleinasien breiteten sich die Mysterienkulte um Adonis und Attis, in denen solche Vorstellungen verwoben waren.

So empfing das Heidentum eine Gestalt, die ihm der Idee nach vertraut war, in sublimierter Form, und gerade die Vorstellung von einem realen Gottessohn ermöglichte eine schnelle Rezeption des Christentums durch die heidnische Welt. Das ist um so mehr der Fall, als nicht nur die Gestalt ihrem Verständnis angeglichen war, sondern auch seine Idee, seine reale Bedeutung, der Sinn seines Kommens und Sterbens. Wenn das Heidentum eine Welt, in der es gescheitert war, in der es aber seit endlosen Zeiten gelebt hatte, wirklich abschließen, erledigen und überwinden sollte, so mußte ein verständlicher und greifbarer Abschluß gefunden werden, eine Erledigung des Gestern, die beruhigte und nicht die Furcht wieder aufkommen ließ, daß die verlassenen Götter sich rächen könnten. Denn ihr Götterhimmel war zwar geborsten, aber noch waren nicht alle Götter tot, und noch schrien gegen des Paulus' Predigt die Heiden zu Ephesus in einem hartnäckigen Chor von Stunden: »Groß ist die Diana von Ephesus!« Wer befreite sie nun von dem Vergehen der Abtrünnigkeit? Denn sie wurden mit der Annahme des Christentums unweigerlich Renegaten. Sie wechselten den Gott und den Glauben. Ihnen konnte nur einer die Erlösung vermitteln, der mit ihnen das gleiche Schicksal teilte: Paulus. So gewiß Paulus in seinen Anfängen nur Sektierer war, so gewiß macht ihn die Konsequenz des Sektierers zum Renegaten. Indem er den Bruch mit dem Judentum vollzieht und die völlige Sonderung durchführt, macht er alle, die er zum Glauben an seine Predigt verpflichtet, zu Renegaten im weitesten 256 Sinne, Juden wie Heiden. Wir haben an anderer Stelle formuliert: der Renegat ist nur fortgegangen von seinem Gott; nie ist er endgültig entlassen. Aus dem Gedanken an solche schicksalhafte Bindung zuckt ihm ständig die Hand, um zu einem Schlage auszuholen: Haltung der Notwehr.

Von hier aus wird auch verständlich, warum Paulus – wie Jesus – die Pharisäer und nicht die Sadduzäer bekämpft. Der Renegat bekämpft das Verwandte, das ihn Bindende. Vom Gegensätzlichen und Fremden braucht er sich nicht erst zu lösen.

Für diese Sünde der Abtrünnigkeit und für die Verfehlungen einer sündigen Vergangenheit und endlich für alles, was überhaupt Sünde ist, bringt Paulus der heidnischen Welt die Gestalt Jesu in seiner Funktion als Christus. Jesus, lehrt er, sei in die Welt gesandt, um die Menschen von ihren Sünden zu erlösen. Und es gibt viel Sünde, es gibt eigentlich nur Sünde auf der Welt. »Sie sind allesamt abgewichen und untüchtig geworden . . . sie sind allzumal Sünder . . . und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung.« Und wie diese Idee zu Ende gedacht wird, steht plötzlich etwas Furchtbares, etwas Erdrückendes auf: die Erbsünde. Schon mit dem ersten Menschen, mit Adam, ist die Menschheit sündig geworden; nicht erst gestern, durch die Anbetung von Götzen. Hier wird die Sünde so unwiderruflich an den Anfang gestellt, daß kein Ausweichen nach rückwärts mehr möglich ist, sondern nur noch die Flucht nach vorne aus einem Dasein, dem man die Existenzberechtigung abspricht. Und da steht Paulus und sagt: »Wie nun durch Eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, also ist auch durch Eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen.« Damit ist der Kreis geschlossen. Es gibt keine Sünde mehr, wenn alle Menschen nur glauben wollen, daß Jesus als Sohn Gottes auf die Erde gekommen und mit seinem Tode alle Sünde auf sich genommen habe. So führt Paulus die Menschen zu Jesus, noch ehe er sie zu Gott führt. 257

Denn Gott muß begriffen werden als ohne Anfang und ohne Ende, als das Unzeitliche, als ewig. Was aber ist dem Heiden ewig? Hier und da eine philosophische Spekulation, aber nie er sich selbst als seelentragendes Geschöpf. Wer nicht als Heros in den Himmel entrückt wird und teilhat an einer zweifelhaften und bezweifelten Zeitlosigkeit, der stirbt. Er kennt das Chaos, aber nicht die Auflösung und Befriedigung. Er hat einen furchtbaren Feind: den Tod. Und auch diesen Feind unterfängt sich Paulus für besiegt zu erklären, denn das ist seine Lehre: Jesus ist nicht nur gestorben und hat die Sünde erlöst; er ist auch auferstanden und hat den Tod besiegt. Dieses: die Auferstehung der Toten oder das ewige Leben sind Kardinalpunkte in der Furchtwelt der Heiden. Darum ist es auch ein Kardinalpunkt im paulinischen Christentum. »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.« Damit tut er das, wozu das Judentum sich nicht entschließen konnte: er macht aus der Wiederauferstehung Jesu das Dogma von der Wiederauferstehung der Toten.

An sich ist dieses Sterben und Wiederauferstehen eine urjüdische Idee, nämlich als ein Wandel der Existenz, wie er in der Salbung zum klaren Ausdruck kommt. Da tritt eine Verwandlung ein, die den Menschen, gleichgültig, wer und was er bislang gewesen sei, zu einem neuen und erhöhten Dasein umwandelt. Hier im paulinischen Christentum tritt nun das Neue ein, daß zum ersten Mal der reinen Idee ein Faktum ein für allemal zugrunde gelegt wird, ein greifbares, materielles, durch angebliche Zeugen belegtes tatsächliches Ereignis: der Vorgang der Kreuzigung eines Menschen und seiner Wiederauferstehung. Von diesem materiellen Vorgang wird nun ihrerseits wieder die Idee abstrahiert. Aber da hat sie schon eine entscheidende Verschiebung erlitten. Der »Gesalbte« bleibt Instrument der Theokratie; der Christos wird vergöttert. Der Gesalbte vertritt die jeweilige Manifestation des Göttlichen. Der Christos ist die endgültige, abschließende Manifestation und wird fortan – 258 gleichsam unter Ausschaltung Gottes – für Zeit und Ewigkeit deren Repräsentant. Von hier aus, von dieser Eigenschaft als Repräsentant, ergibt sich logisch und notwendig Jesu Eigenschaft als Vermittler.

Diese Idee des Vermittlers erwächst aus allem vorweg Gesagten als selbstverständliche Folge. Das Judentum nahm nicht einmal seine Hohenpriester als Vermittler auf. Die heidnische Welt hatte zu dem Gott, den sie gestern noch nicht kannte, keinen anderen Weg. »Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und Mensch, nämlich der Mensch Jesus Christus.«

Aber da die Furchtwelt des Heiden mit ihm gewachsen war und er mit ihr, konnte sie nicht durch ein neues Gebot, durch ein Diktat des Glaubens in das Nichts zergehen, und während das paulinische Christentum noch vorgab, sie aufzulösen, verhalf es ihr aus anderer Doktrin her zu einem neuen und nicht minder furchtbaren Eingang: durch die Aufrichtung des Gegensatzes von Fleisch und Geist, von Leib und Seele. Es ist verständlich, daß Paulus überall bei seinen heidnischen Anhängern auf die Erbschaft der antiken Kultur traf, auf das ungehemmte sexuelle Tun. Er mußte erleben, daß das Abendmahl oder Liebesmahl, das von ihm eingesetzte Symbol der Annäherung an Christus, in sexuelle Orgien ausartete. Während er mit der Gebundenheit und Empfindlichkeit des Hebräers dagegen eiferte, landete sein Wille zu Konsequenzen nicht da, wo das Judentum gelandet war: bei der Anerkennung der göttlichen Einheit von Körper und Seele und bei der Heiligung, der Sublimierung von beiden – sondern bei dem Extrem: bei der absoluten Sündhaftigkeit des Fleisches, bei der Ehe als einem schlechten Notbehelf und bei der Predigt der Askese. Hier wird eine Lebensquelle verunreinigt und verdächtigt, und was von da aus nicht Furcht und Gewissensnot gab, empfing es ohne Unterlaß aus Erbsünde und Hölle und Teufel und Fegefeuer von neuem. So stand ihnen, noch ehe sie das Diesseits überwunden hatten, die Vorstellung von einem Jenseits mit neuen 259 Schrecken gegenüber. Es schloß sich eine Klammer um sie. Aus diesem Druck entstehen durch Jahrhunderte hin immer wieder Fieberschauer und Ausbrüche, bis der religiöse Impuls resigniert und – in unseren Tagen – bis an die Grenze des Versiegens gebracht ist.

Immer weiter treibt Paulus die Konsequenz der Angleichung, und aus jeder Konsequenz erwächst ein neues Dogma. Wenn er den Heiden einen Glauben vermittelte, den er als den allein wahren, seligmachenden bezeichnete, dann war er zugleich genötigt, sich mit seinem eigenen Volk von gestern und mit der Idee der verpflichtenden Auserwähltheit des jüdischen Volkes auseinanderzusetzen. Er weicht auch davor nicht zurück. Kraft eigener Entschließung und Auslegung erklärt er, das Judentum habe seine Mission erfüllt. Es habe Jesum nicht angenommen, folglich habe es den Anspruch auf die Auserwähltheit verloren. Es sei ein Werk der freien Gnade Gottes, jetzt die Juden zu verwerfen und die Heiden an ihrer Stelle zu erwählen. »Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk.« Aber eine solche Begründung, die selbst im Theologischen durchaus unzureichend ist, kann ihm nicht genügen, und mit der sublimen Technik des Pharisäers greift er zur Krönung seines Werkes wieder auf den Anfang seiner werbenden Tätigkeit zurück: auf den von ihm ins Leben gerufenen Gegensatz zwischen Gesetz und Glaube. »Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an ihn glaubt, der ist gerecht.« Gewiß: das Judentum hat sich um Gott bemüht; aber mit Unverstand und indem es sich Gesetze gab, in denen es Gott auf Erden verwirklichen wollte. Jetzt aber und für den neuen Glauben gilt eine andere Weise: »Denn so man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und so man mit dem Munde bekennt, so wird man selig.« Und zum Beweise für das eine wie das andere bedient sich Paulus – wie es nicht anders sein kann – der Belege aus der höchsten Stufe der jüdischen Gotteserkenntnis, wie sie das Deuteronomium bietet: »Denn dieses Gebot, das ichselb 260 heuttags dir gebiete . . . sehr nah ist dir das Wort, in deinem Mund und in deinem Herzen, es zu tun.«

Mit diesem Wirken während eines Jahrzehnts hat Paulus der neuen Sekte eine Mythologie und eine Dogmatik geschaffen und sie zu einer Religion erhoben. Das war ein mühevolles Werk, denn diese Dogmen, die gegeben und nicht gewachsen waren, lassen eben wegen dieses organischen Fehlers ihres Anfangs immer noch das Ausbrechen der Gläubigen in Sonderauffassungen und in Sondersekten zu. »Ich sage aber davon, daß unter euch einer spricht: ich bin paulisch, der andere: ich bin apollisch, der dritte: ich bin kephisch, der vierte: ich bin christisch. Wie? Ist Christus nun zertrennt?« Aber nicht nur dagegen hat Paulus anzukämpfen, sondern auch gegen den persönlichen Kult, gegen die ständige Sucht, den Glauben an einzelne Personen anzuheften. Das war aber unausweichlich, weil die neuen Bekenner in der Mehrzahl aus dem griechischen und orientalischen Polytheismus kamen und weil Paulus selbst durch die Vergöttlichung der Person Christi solchen Personenkult lehrte. Er selbst entging auch nicht der Gefahr, Merkurius genannt zu werden, und sein Mitapostel Barnabas gar Jupiter. Aber das alles sind schon Kämpfe, die in eine Zeit hineinspielen, da das Christentum sich vom jüdischen Ursprung völlig abgelöst hat, und die folglich außerhalb der jüdischen Geschichte und dieser Darstellung stehen.

Aber eines, dessen Auswirkung die Dauer von Jahrhunderten bekam, greift tief und mit verheerender Wirkung fortan in die Geschichte des Judentums ein: die Feindschaft des Christentums als Religion gegen das jüdische Volk und gegen die jüdische Religion. Auch dazu hat Paulus den Grund gelegt. Durch ihn wurde aus einer Differenz der Lehrmeinung der bewußte Gegensatz zwischen Christentum und Judentum. Durch ihn wurde aus einer Andersartigkeit eine Anderswertigkeit. Sein ganzes Wirken ist durchsetzt mit Werturteilen. Er vermag die neue Lehre nicht so auf sich selbst zu stellen, daß er die 261 Verächtlichmachung derjenigen Religion glaubt entbehren zu können, aus der sie ihre grundlegenden Begriffe empfangen hat. Es geht ihm nicht um das Anderssein und um den Respekt davor, sondern um das Bessersein. Wenn aber schon gewertet werden darf, dann muß es dort geschehen, wo es auf das Maß der Anforderungen an den Einzelnen ankommt und auf die Frage der Bewährung dort, wo Religion sich zu bewähren hat: in der Situation des Menschen zur Welt und zu Gott, nicht zu einem von beiden. Der Unterschied zwischen Judentum und Christentum kommt nicht aus der Verschiedenheit der Lehrmeinungen, sondern aus der Sinngebung, die mit dem Begriff der Erlösung verbunden ist. Das Christentum kennt das Heil, die einmalige und endgültige Befreiung des Menschen von der Sünde durch die Taufe. Der Jude kennt keine Erbsünde, und wenn er sündigt, steht ihm kein Akt der Gnade zur Verfügung. Das Judentum kennt nur das in jedem Augenblick erneute Bemühen um die Verwirklichung seiner Sendung: seiner Vollkommenheit als Geschöpf Gottes. Es ist ein Unterschied, ob solches Bemühen in einem einzigen Akt der Entschließung und des Bekennens aufgefangen wird, oder ob es auf ein Menschenleben und darüber hinaus auf die Kette der Generation ausgedehnt wird. Im Judentum ist auf zeitlose Dauer ein Anruf an den Menschen gerichtet. Diesem Anruf folgt das kämpfende Bemühen, wie die Wirkung der Ursache folgt. Hier liegt der Lebenskern für die noch lange nicht erstorbene Schöpferkraft der jüdischen Religion. Aber Religionen gegen einander abwägen und abwerten? Wie vergeblich! Wie überflüssig! Denn es bleibt ihnen allen nicht erspart, daß sich ihre Wahrheit am lebendigen Dasein zu erproben hat.

Das Judentum hat keinen systematischen Versuch gemacht, sich der Ausbreitung des neuen Glaubens zu widersetzen. Die Polemik zwischen Juden und Christen, die später einsetzte, war letzten Endes unfruchtbar, weil mit verschiedenen Argumenten von verschiedenen Ebenen her gekämpft wurde. Sie wurde 262 vollends sinnlos, als das Christentum sich unter staatlicher Führung auszubreiten begann und die Verschiedenartigkeit der Methode, Formulierung, Dogmatik und Propaganda erkenntlich wurde.

 


 


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