Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Herz und Gehirn

Mit den Vorgängen, die wir jetzt darzustellen haben, befinden wir uns, dem chronologischen Ablauf nach, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in einer Zeit also, zu der die europäische Welt, soweit sie als Kulturwelt in Frage kommt, sich mitten in einem fulminanten Ausbruch der Beweglichkeit auf allen Gebieten des Wissens, der Forschung, der Philosophie und der Kunst befindet. Zu dieser gleichen Zeit herrscht in dem weltweiten Baum des Judentums, das immer sonst der Umwelt an geistiger Kultur unendlich überlegen war, eine völlige Sterilität auf allen Gebieten der Geisteswissenschaft. Dieser Zustand, der herkömmlich Erstarrung des geistigen Lebens genannt wird, bedeutet aber geistesgeschichtlich nichts anderes als der große Moment des Atemholens, in dem der jüdische Mensch aus der offenbar gewordenen Krisensituation des jüdischen Volkes die Kraft zur endgültigen Entschließung in sich sammelt. 496

Vergegenwärtigen wir uns nochmals den Ablauf der jüdischen Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt. Die Konstituierung der jüdischen Gemeinschaft als eines Sondervolkes geschah im Begriff und im Zeichen der Theokratie. Staat und Gemeinschaft dienten dem Versuch, dieses Ziel zu verwirklichen. Auf diesem Wege, auf dem das haltlose Tasten und die visionäre Zielstrebigkeit sich wechselseitig ablösen, wird schon sehr früh ein Gedanke von ungeheurer Fruchtbarkeit begriffen: der Mensch ist imstande, Ideen aus sich zu entlassen, die so groß sind, daß das summierte und massierte Leben von vielen Generationen nicht ausreicht, um eine Wirklichkeit entsprechend dieser Idee zu formen. Mit einem Ziel ausgerüstet, das von seinem Entstehungspunkt her den Charakter des Religiösen, des Heiligen trägt, steht der Mensch aus der ständigen Verfangenheit in Unwilligkeit, Ichsucht, böser Vereinzelung und Not öfter im Versagen als im Erfüllen, ist sein Weg zur Erfüllung hin weit öfter ein Weg zur Auflösung. In dem Augenblick, in dem der Mensch begriffen hat, wie zwangsläufig auf allen Wegen des Bemühens das Versagen, das Zurückfallen, das Nicht-vollkommener-Werden angetroffen wird, in diesem Augenblick wird der Begriff der Erlösung geboren; nicht aus dem Gefühl der Verworfenheit und der Sünde, sondern aus der Demut, die darum weiß, daß die schöpferische Gewalt menschlicher Ideen größer, mehr und anderes ist als die Summe seiner geistigen Fähigkeiten. So entläßt das Judentum aus sich den Erlösungsgedanken in dem Augenblick, in dem der Staat, die Gemeinschaft, in der das Bemühen vor sich ging, zerbrach. Dieser Gedanke war national und universal zugleich, politisch und religiös in einem, irdisch und himmlisch in zusammenfassender Konzeption.

Mit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil beginnt der erneute Realisierungsversuch unter Auswertung des geistigen und materiellen Bestandes der Thora, der »Weisung«. Es entsteht in der Theokratie die Nomokratie. Das Ergebnis, noch ehe es sich endgültig geformt hat, wird der doppelten 497 Belastungsprobe unterzogen, die in dem Zusammentreffen des Judentums mit Griechenland und Rom, den beiden anderen Formen von Gottesherrschaft und Gesetzesherrschaft, beschlossen liegt. Die Probe wird bestanden. Das Judentum erweist sich als stärker denn Griechenland und Rom. Aber gerade diese Begegnung hat aufgezeigt, daß dem Erlösungsgedanken eine vermehrte Aktualität zukam, sowohl was die heidnische Welt anging, als auch was die Gestaltung des jüdischen Schicksals anging. Während sich für die heidnische Welt zwei aus dem Judentum hervorgegangene Gestalten, Jeschu von Nazareth und Saulus aus Tarsus, um die Erlösung bemühen, wird im gleichen Zeitabschnitt die staatliche Existenz des Judentums endgültig vernichtet und den allgemeinen Problemen des jüdischen Volkes ein spezielles hinzugefügt: das Problem der Existenz.

Wie der Ort der jüdischen Idee die Welt und nicht Judäa war, so wird der Ort des jüdischen Volkes die besiedelte Welt und nicht Palästina. Unter Bedingungen, denen kein Volk sonst standgehalten hätte, wird der überragende Teil aller Energien auf die Erhaltung der Substanz, der Art verwendet. Das Gesetz als Mittel der nationalen Disziplin wird im Bezirk des Talmud eingefangen. Die geistigen Leistungen geraten in direkte Abhängigkeit vom Problem der Existenz. Die Schöpferkraft, das religiöse Pathos des Judentums zieht sich in den mystischen Bezirk zurück, während das Gesetz, bei aller Biegsamkeit, zum starren Selbstzweck wird. Ausdrucksform des offiziellen Judentums wird der Rabbinismus. Lebensraum des unterirdischen, des fortwirkenden Judentums wird die Kabbala. Beide zusammen ergeben die Fiktion des Fortbestandes einer nationalen Gemeinschaft und bedeuten in ihren Äußerungsformen den Versuch, in aller Abhängigkeit von der Fremde sich die Verfügungsgewalt über den Ablauf ihres Geschickes und ihrer Geschichte zu erhalten. Während sie in ihrer Wirkung oft zusammengehen, sind sie in ihren Wirklichkeiten einander feind. Beide aber geraten auf dem Wege ihrer Entwicklung an den 498 Krisenpunkt. Der Rabbinismus bringt das Judentum in die Gefahr der Erstarrung und geistigen Sterilität, die Kabbala führt das Judentum an den Rand seiner religiösen Existenz.

Auf dem Wege, den Rabbinismus und Mystizismus haben gehen müssen, haben sie in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihr Endstadium erreicht. Der Rabbinismus war seiner ursprünglichen Aufgabe, die lebendige Vermittlung zwischen dem gelebten Alltag und dem Bestand der Tradition zu sein, immer mehr entrückt. Mehr und mehr übernahm er die Funktion der Disziplinierung und damit der Arterhaltung der jüdischen Gemeinschaft. Aber über den Rabbinismus hinaus – wenn auch wesentlich durch ihn gestützt – hatte sich unter dem Druck von Zeiten und Jahrhunderten die Kraft zur Arterhaltung als eine selbständige Energie entwickelt. Das Bewußtsein von der verpflichtenden Auserwähltheit des jüdischen Volkes, der einigende Druck der Umgebung, die rückwirkend belebende Kraft des Märtyrertums, die ständigen messianischen Impulse und endlich das Heroentum der Marranen – alles das in seiner Gesamtheit hatte die selbständige Kraft zur Arterhaltung herausgebildet. Diese Kraft war nicht mehr auf den Rabbinismus angewiesen. Sie konnte sich aus ihren eigenen Elementen erhalten, besonders aber aus ihren negativen: dem Beharrungsvermögen, der passiven Widerstandsfähigkeit, der Unempfindlichkeit für äußere Demütigungen, die den Juden auch dort eindringen läßt, wo man ihn erkennbar nicht haben will. (Die jüdische »Aufdringlichkeit« ist das in jahrhundertelanger Not verkümmerte Gefühl für das äußere, gesellschaftliche Schwergewicht einer Situation.)

Mit der Auflösung der arterhaltenden Funktion des Rabbinismus geht eine andere Auflösung notwendig parallel. Der Rabbinismus hatte die geistigen Kräfte des Juden gebunden und reglementiert. Diese geistigen Kräfte werden jetzt frei und können sich betätigen. Es versteht sich, daß die immanente Geistigkeit des Juden, die durch das rabbinisch-talmudische 499 Training mindestens in der Denkfähigkeit ungemein geschärft war, sich mit großem Elan auf die Welt des Wissens stürzt und den erheblichen Abstand zwischen der zivilisatorischen Situation der jüdischen und der umgebenden Welt spielend und in äußerst kurzer Zeit überbrückt. Entscheidender aber ist, daß im jüdischen Westen mit der Funktion des Rabbinismus auch sein innewohnender Impuls abgelaufen ist. Und das wieder beruht darauf, daß sein Korrelat: das religiöse Pathos, der jüdische Mystizismus, ebenfalls am katastrophalen Punkt angelangt war, mindestens aber an den Rabbinismus nichts mehr an Kraft abzugeben hatte. So mußte sich im Westen die jüdische Geistigkeit, durch nichts mehr gebunden, der Welt und dem Weltwissen schlechthin jenseits ihrer jüdischen Aufgabe und Ideenwelt zuwenden. Daß sie in dieser Situation der Bindungslosigkeit dem Begriff der bürgerlichen Gleichberechtigung und der Assimilation begegnete, wurde ihr zur Katastrophe. An der Gestalt des Moses Mendelssohn und dem geistigen Kreis um ihn wird dieser Gedanke zu demonstrieren sein.

Im jüdischen Osten hingegen, wo die kompakten Massen des Judentums saßen, ermöglichte die Kraft der Masse eine andere Entwicklung. Hier erfüllte der Rabbinismus noch in einem beträchtlichen Umfange seine arterhaltende und disziplinierende Funktion, aber sein Impuls war ebenfalls abgelaufen. Er war völlig steril geworden. Auch hier versagte sich ihm das Lebenselement der jüdischen Mystik. Aber diese Mystik mit all ihrem Inhalt hatte nicht, wie der Rabbinismus, eine Funktion im jüdischen Leben zu erfüllen, sondern war eine Funktion dieses Lebens selbst. Darum war sie immer so stark und so schwach, so schöpferisch und so unschöpferisch wie die jeweilige Situation des jüdischen Lebens. Was in der Entwicklung der Kabbala, im Sabbatianismus, in der Lehre Gardozos und im Frankismus bisher dargestellt wurde, sind nichts als Variationen dieses Themas, zugleich aber der Beleg dafür, daß der jüdische Mystizismus an der ewig verweigerten Möglichkeit seiner Realisierung 500 zusammengebrochen war. Alle Mystik will eine Wirklichkeit, von der aus sie entsteht und auf die hin sie wirkt. Was sie in Wahrheit vom Bezirk alles Rationalistischen unterscheidet, ist weder die Erde noch der Himmel, sondern das Mittel, mit dem diese beiden zu einer schöpferischen Einheit gemacht werden. Wir wiederholen unsere Auffassung von jüdischem Mystizismus: die Erde als eine gelebte Wirklichkeit, der Himmel als eine zu erlebende Wirklichkeit, und dazwischen der Glaube als eine ausschließliche Funktion des Herzens.

Die Erde als ein Erlebnis der Wirklichkeit setzt immer einen lebendigen und intakten Einklang mit der Erde voraus, sei es mit der Natur als dem großen Beweis eines Schöpfungsaktes, sei es mit dem Mitmenschen, mit der Kreatur als dem einzigen mit Schöpferkraft begabten Lebewesen. Dem Juden war durch Jahrhunderte beides versagt. Nicht einmal seine eigene Gemeinschaft konnte er anders leben als unter einer unmäßigen Belastung, die aus seiner Gemeinsamkeit mehr einen Zwangszustand machte als das, was Gemeinschaft sein soll: das freiwillige Miteinander und Füreinander von Menschen. So verkümmerte die jüdische Mystik aus Mangel an einer Wirklichkeit.

Aus diesem doppelten Untergang zweier Kräfte verlangte die unsterbliche Lebenswilligkeit des Juden nach neuer Betätigung. Der Westen fand sie im Anschluß an die Welt, der Osten im Anschluß an das Weltgefühl; der Westen im Anschluß an den Intellekt, der Osten im Anschluß an die Gläubigkeit; der Westen – nach vielfachen Verlusten auf den verschlungenen Wegen der Assimilation – im Anschluß an das Geistige in der Welt, der Osten im Anschluß an das Seelische in der Welt. Als beide sich, nach langer Absonderung und Feindschaft, wieder trafen, konnten sie – im Raume unserer Gegenwart – Wege für eine neue Sinngebung des jüdischen Geschehens und des jüdischen Volkes freimachen.

Nur in der Wirkung, nicht aber im Sinn und in der Ursprünglichen Intention stellt die neue Bewegung im Osten, der 501 Chassidismus, eine Opposition gegen den Rabbinismus dar. Es handelt sich um eine neue Variante des ewig akuten Gegensatzes zwischen Herz und Gehirn. Die Bewegung findet ihren Mittelpunkt äußerlich in der Gestalt des Israel ben Elieser, des Baalschem-Tob (abgekürzt Bescht), das bedeutet: »Meister des wundersamen Gottesnamens«. Er ist um 1700 in Podolien geboren, wächst heran als ein Kind, das für ein Umherschweifen in der Natur mehr Verständnis hat als für das Stillsitzen auf der Schulbank; lebt weiter fort als ein junger Mensch, dem weder die talmudische Gelehrsamkeit noch das Geldverdienen einen Anreiz bedeuten; der sich allmählich in eine Welt der Einsamkeit und Betrachtung und des kabbalistischen Studiums einbaut und der endlich unter den Menschen auftaucht als eine jener Gestalten, die in der ostjüdischen Welt häufig waren: als Berater, Helfer, Arzt, Beschwörer, Verfertiger von Amuletten, eine Mischung zwischen Heiligem und Wunderdoktor, der gleicherweise durch Gebete wie durch Kräuter seine Hilfe bringt. Was in solchen Gestalten das letzthin Entscheidende ist: ihre psychische Einwirkung und Wirksamkeit, gelangt in Bescht zu großer und lebendiger Entfaltung. Ohne es zu wollen, ohne seine Wirkung durch das Element des Willens zu belasten und zu vernichten, kann aus seinem einfach aufgeschlossenen Menschentum der Gedanke an eine Erlösung mit um so größerer Wirksamkeit heraustreten. Bescht ist nicht der Begründer eines geistigen oder theosophischen Systems, überhaupt nicht Systematiker einer Idee, sondern Bekenner einer alten religiösen Wahrheit in der schlichtesten und zugleich tiefsten Konzeption des Menschlichen. Er begreift alles Religiöse weit jenseits des Rituals und des Gesetzes. Er verachtet die Gesetze nicht, aber sie bedeuten ihm nicht Gläubigkeit. Religion ist für ihn die Herstellung der lebendigen Beziehung zu Gott. Gott aber ist überall, und wer will, kann ihm überall begegnen, in jedem Ding, in jedem Tun, in jedem Wort. Die wirksamste Begegnung zwischen Mensch und Gott vollzieht sich im Gebet. Dieses Gebet kann sein, was 502 immer es will. Man dient Gott nicht durch Formeln, man nähert sich ihm nicht durch Askese; man hat ihm nach den jeweiligen Möglichkeiten des Herzens sein Leben als eine Ganzheit freudig entgegenzutragen. Das bedeutet – ganz im Sinne der Propheten – die Heiligung des gelebten Alltags, und nur aus ihr, nicht aus dem »Bedrängen des Endes« kann die Erlösung des Menschen und der Menschheit bewirkt werden. Auch hier hat der Gedanke an eine Erlösung nicht den Glauben an eine notwendige Sündigkeit des Menschen zur Voraussetzung. In grandioser Ausweitung der kabbalistischen Lehre wird das Erlösungsbedürfnis der Welt in den Beginn der Weltschöpfung selbst zurückverlegt. Wir zitieren, weil es nicht präziser gesagt werden kann, Bubers Formulierung: »Der Feuerstrom der schöpferischen Gnade schüttet sich über die ersterschaffenen Urgestaltungen, die ›Gefäße‹, in seiner Fülle hin; sie aber halten ihm nicht stand, sie ›zerbrechen‹ – der Strom zersprüht zur Unendlichkeit der ›Funken‹, die ›Schalen‹ umwachsen sie, der Mangel, der Makel, das Übel ist in die Welt gekommen. Nun haftet in der vollendeten Schöpfung die unvollendete; eine leidende, eine erlösungsbedürftige Welt liegt zu Gottes Füßen.«

Aus der persönlichen Anhängerschaft um den Baalschem und der Zusammenfassung und Ausgestaltung seiner Bekenntnisse in dem Kreise, der um ihn her wächst, entsteht so die Bewegung, die man als Chassidismus bezeichnet. Ihm kommt für die Gestaltung der jüdischen Idee im Rahmen des historischen Ablaufs eine vielfache Bedeutung zu. Er fängt die durch die Realisierungsversuche gestörte messianische Idee auf einer anderen Ebene wieder auf. Er drängt den gefährlichen gnostischen Gedanken der Kabbala zurück und setzt an die Stelle eines mystischen Katalogs von selbständig gewordenen Sefiroth die Einheit des göttlichen Begriffes und der Beziehung des Menschen zu ihm. Er bedeutet weiter die Rettung des Herzensbezirkes gegen die Überwuchtung durch den Rabbinismus und in allem zusammengenommen, von der Ebene des gläubigen Gefühls her, 503 einen erneuten, den vorletzten uns bekannten Versuch zur Wiedererlangung der subjektiven Geschichtsgewalt.

Die messianische Idee, die sich aus den Gleichnissen, Sinnsprüchen und didaktischen Erzählungen vor dem gläubigen Anhänger des Baalschem aufbaute, legte das Hauptgewicht nicht auf die politische Erscheinung des Messias, sondern wies jedem einzelnen seinen Anteil am messianischen Tun und Geschehen zu. Das tat auch die Kabbala; aber während sie den freien Strom des Lebens mit der christlichen Idee der Askese abdrosselte, gab der Baalschem das ganze Leben mit seinen Höhen und Tiefen dafür frei. Aus diesem Element der Freudigkeit, um dessen Erneuerung sich auch Sabbatai und Frank bemüht hatten, floß der chassidischen Bewegung eine elementare Kraft zu. Ihre letzte Lebensfähigkeit aber schöpfte sie aus dem, womit wir früher den Unterschied zwischen Judentum und Christentum zu präzisieren versuchten: während hier der Erlösungsgedanke auf ein einmaliges Geschehen zurückgeführt wird, das nur noch »Nachahmung«, imitatio, verlangt, ist er dort in die jeweilige Gegenwart, in die Dauer jedes Augenblicks, in das ewig erneute Bemühen einbezogen. Dem Chassidim wird durch solche Lehre und Nachfolgeschaft das Leben wesentlich gemacht und geadelt. Das ungeheure Anwachsen dieser Bewegung ist ein Beleg für die noch nicht gebrochene Aktivität des mystischen, das heißt: des religiösen Impulses. Darum war der Chassidismus als Vorstellungswelt keine Sekte, und darum hörte er als Bewegung nicht mit dem Tode des Baalschem auf.

Das Haupt seiner Nachfolgerschaft ist Rabbi Dow Bär aus Mesritsch. Durch ihn wird das Einheitliche, aber Unverbundene der Glaubensäußerungen des Baalschem zu einer Ordnung, zu einem System. Daß auch andere Nachfolger des Baalschem eigene Systeme aufstellen konnten und daß im Laufe der Zeit der Süden des ostjüdischen Zentrums, Wolhynien und Podolien, eine andere Ausgestaltung der chassidischen Theorie aufweist als der Norden, wo die Herrschaft des Rabbinismus noch 504 ungebrochener bestand, spricht an sich nur für die Lebensfähigkeit der Bewegung.

Die Bedingungen, unter denen sie entstand, die äußeren wie die inneren Bedingungen waren zwar der Herausbildung solcher Ideen sehr günstig, aber für ihre Verwirklichung denkbar gefährdend. Die Vorstellung von der Reinheit des Gedankens darf dem historisch Betrachtenden nicht den Blick dafür trüben, welches Menschenmaterial sich der Idee zur Verfügung stellte. Wenn man von Menschen, denen die Ungunst der Umgebung kaum den nackten Raum zum Leben läßt, eine solche innere Höhe ihres Alltages verlangt, so kann es nicht ausbleiben, daß sie sich nach einem Vermittler umsehen, der ihnen die ungewöhnliche Bürde eines täglichen Amtes abnimmt oder doch tragen hilft. Im Chassidismus entsteht dieser Mittler in der Gestalt des Zaddik, das heißt: des Gerechten, des Menschen, dem durch seine besondere Nähe zu Gott die Begnadung des Hellsehens, des prophetischen Blickes zukommt, der Wunder tun kann und der – gleich dem Priester der katholischen Kirche – die Vermittlung zwischen dem Menschen und Gott übernimmt. Mit einer ungeheuren Intensität hat sich das Volk diesen Zaddikim angeschlossen. Ihr leidenschaftlicher Drang, etwas zu verehren, und die beglückende Gewißheit, den Gegenstand solcher Verehrung als etwas Greifbares, als Person in ihrer Mitte zu haben, schuf für den Zaddik zugleich einen weltlichen Hofstaat wie auch eine an Anbetung grenzende Form der Zuneigung. So verloren und verwaist war das Liebesbedürfnis dieser Menschen, daß solche Mittelpunkte der Verehrung spontan an vielen Orten zugleich entstehen. Überall, wo ein Schüler oder ein Nachfolger des Baalschem oder wieder Schüler und Nachfolger von ihnen wirken, entsteht um den Zaddik ein geschlossener Kreis von Anhängern, der sich mit eifersüchtiger Liebe gegen den anderen Zaddik und seinen Machtbezirk abgrenzt. Solche Auflösung der chassidischen Welt in Herrschaftsbereiche hat zur Folge, daß an vielen Orten Dynastien 505 entstehen, daß die Würde des Zaddik ohne Rücksicht auf die Würdigkeit in der Familie erblich wird, daß neben dem wirklich Berufenen der Charlatan, der Nutznießer einer gläubigen Verehrung, das Amt degradiert. Immer, wenn Gläubige sich statt an eine Idee an eine Einzelperson klammern, ist dem Sektierertum der Weg bereitet. So geschah es auch hier. Aus der seelischen Notwendigkeit, der Gestalt des Zaddik die Vermittlungsfunktion zwischen Erde und Himmel zu verleihen, aus dem Verzicht auf eine gläubige Aktivität, die eben dem Zaddik überlassen wird, aus der Aufteilung in Parochialbezirke und der Erblichkeit des Amtes entsteht die Sekte; das heißt zugleich: die Entartung.

Von den besten der Zaddikim sind viele leidenschaftliche Versuche gemacht worden, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Es war nicht möglich, weil neben der inneren Ursache zu viel äußere Umstände auf die Bewegung eindrangen, auf die sie keinen Einfluß hatten. Die geringere Einwirkung war die aus dem Westen allmählich in den Osten eindringende »Aufklärung«, über die später zu sprechen sein wird. Ihre Wirkung war gering, mußte gering sein, weil zwischen allgemeiner Bildung und Befreiung des menschlichen Herzens kein notwendiger Zusammenhang besteht und folglich Einwirkungen der einen auf die andere Sphäre nicht selbstverständlich sind. Eine viel stärkere, weil negative Einwirkung ging hingegen von dem Rabbinismus aus, der in vielen Bezirken des jüdischen Ostens noch die ungebrochene Herrschaft besaß. Chassidismus und Rabbinismus, deren Verhältnis zueinander man etwa als das zwischen Kirche und Religion bezeichnen kann, hätten zwar ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit wegen ohne Störung nebeneinander bestehen können; aber der Rabbinismus als eine im wesentlichen auf Disziplinierung eingestellte Geistesrichtung konnte nicht ohne Widerspruch zusehen, daß das Gesetz zwar befolgt, aber nicht mehr als selbständige Kraft verehrt wurde und daß der Zaddik an Ansehen und Wirkung den Rabbiner bei weitem in den Schatten stellte. So mußte zur 506 Verschiedenartigkeit der Idee die Scheidung ihrer Bekenner hinzukommen. Der Erfolg war die Spaltung der östlichen Judenheit.

Der litauische Rabbinismus unter Führung des letzten großen Scholastikers Rabbi Elia Wilnaer eröffnet 1772, gleichzeitig mit der ersten Teilung Polens, den Kampf. Chassidische Schriften werden von einem Rabbinatsgericht verurteilt und öffentlich verbrannt. Alle Gemeinden werden aufgefordert, diese »gotteslästerliche« Sekte zu vertilgen. Das Befolgen chassidischer Bräuche wird mit dem Bann bedroht. Die Chassidim, die in Wolhynien, Podolien und dem Kiewer Land die überwiegende Mehrheit darstellen, setzen sich kräftig zur Wehr. In wenigen Jahren stehen sich Chassidim und ihre Gegner, die sich Misnagdim nennen, in erbittertem offenem Kampfe gegenüber, in dem selbst vor Gewalttaten und gegenseitigen Denunziationen bei den Regierungen nicht zurückgeschreckt wird. In dem zu Rußland geschlagenen polnischen Gebietsteil mischt sich endlich die russische Regierung in diesen Kampf ein, der eine völlig politische Färbung bekommen hat, und besiegelt die eingetretene Spaltung dadurch, daß sie den Chassidim das Recht auf eigene Synagogen und Rabbiner zubilligt. Produktive Leistungen wurden allerdings durch dieses Gegeneinander von Kräften und Gesinnungen nicht freigemacht. Es wurde nur die anormale Situation des größten jüdischen Zentrums um ein Zersetzungsergebnis bereichert. Es wurde von neuem offensichtlich, daß der Lebensraum, in dem jüdische Ideen sich der Wirklichkeit zuwenden wollen, mit hemmenden Bedingungen übermäßig belastet war.

Hier im jüdischen Osten war die Belastung des Daseins eine doppelte insofern, als nicht nur das Leben nach wie vor unter dem Druck wirtschaftlicher Not und rechtlicher Beschränkung stand, sondern auch die geistige Atmosphäre der Umgebung nichts war als ein trübes Gemisch von mittelalterlicher Unbildung und klerikaler Geistlosigkeit. Was immer sonst in der Geschichte der Juden ein zeitweiliges Aufatmen und eine neue 507 Sammlung der Kräfte bedeutet: die Entstehung eines neuen jüdischen Zentrums, wird jetzt, da sich dieser Vorgang in dem wachsenden russischen Reiche wiederholt, zum Gegenteil. In diesem neuen Zentrum bekommt die jüdische Tragik ihre bösartigste und entsetzlichste Demonstration.

Auch im Westen war das Leben des Juden weit davon entfernt, eine Annehmlichkeit zu sein. Daß er in einer Umwelt lebte, die in fortschreitender geistiger Bewegung war, machte für ihn die Situation eher schwerer als leichter, weil sie ihm seinen meilenweiten Abstand von einem menschenwürdigen Dasein zu vermehrter Kenntnis brachte. Ein kurzer Überblick mag die äußere Situation des Juden in den westlichen Staaten von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts umreißen.

Nächst Polen besaß Österreich die größte jüdische Siedlung. In seinem Herzen, in Wien, legt man allerdings Wert auf eine möglichst starke Beschränkung der jüdischen Bevölkerung, und religiöses Sentiment in Eintracht mit wirtschaftlicher Konkurrenz hält die Juden in einem Schwebezustand zwischen Duldung, Ausweisung und erneuter Zulassung. Der Jesuitenzögling Leopold I. (1657–1705), den die Heirat mit der Infantin Margarete Theresia zu besonderem Glaubenseifer verpflichtet, läßt sich von einer besonders eingesetzten Kommission ein Gutachten über die Juden erstatten, das dahin lautet, daß unter den Juden eine antichristliche Verschwörung bestände. Daraufhin werden die Juden aus Wien und Nieder-Österreich ausgewiesen und ihr bisheriges Quartier, die Judenstadt, in Leopoldstadt umbenannt. Aber schon nach wenigen Jahren erstattet ihm die Hofkammer Bericht, daß der Handelsverkehr zurückgehe und die Preise aller Waren steigen, daß das Handwerk schwer darniederliege und die Staatskasse leer sei. Der religiöse Eifer Leopolds fügt sich der Erkenntnis, daß die Juden seinem Lande doch wohl wirtschaftlich nützlich sein könnten und daß die Führung seiner Kriege Summen verlangte, zu deren 508 Beschaffung er der jüdischen Vermittlung bedürfe. So wird erneut Gelegenheit zur Bildung einer Kolonie von Juden gegeben, die auch die drückendsten Vorschriften notgedrungen in Kauf nehmen.

In den übrigen österreichischen Provinzen, in Böhmen, Mähren, Schlesien und Ungarn, die man als die vorgeschobenen Posten der polnischen Judenheit ansprechen kann, macht auch die Tatsache, daß dort seit Jahrhunderten Juden in dichten Siedlungen wohnen, solche Ausweisungsexperimente nicht unmöglich. Maria Theresia (1740–1780), mit einem besinnungslosen, hysterischen Judenhaß begabt, läßt ihren Zorn über ihre unglücklichen Kriege vor allem an den Juden Böhmens aus, die sie des Landesverrats bezichtigt und die sie, nach Abzug der preußischen Truppen Friedrichs II., den Ausschreitungen der österreichischen und ungarischen Soldateska preisgibt, um sie dann, im Dezember 1744, kurzerhand sämtlich auszuweisen. Drei Jahre lang irren die böhmischen Juden durch das Land und wissen einfach nicht, wohin sie sollen. Solche Barbarei ist doch schon geeignet, Aufsehen in der übrigen europäischen Welt zu erregen. England und die Niederlande legen sich ins Mittel, mit dem Ergebnis, daß die Ausweisung befristet und gegen entsprechend hohe Besteuerung zurückgenommen wird. Daß bei der ersten Teilung Polens die Provinz Galizien mit rund 150 000 Juden an Österreich fiel, wird weder die Kaiserin noch die Juden mit Freude erfüllt haben.

Die grundsätzliche Einstellung, die Österreich einer zahlenmäßig so bedeutenden Bevölkerungsschicht entgegenbrachte, kam in zwei Arten von Rechtsvorschriften zum Ausdruck. Einmal in der »Toleranz«, das heißt in der jeweiligen Duldung eines Juden. Solche Toleranz war teils erblich und setzte sich in der Familie des Tolerierten fort; teils war sie nur persönlich, verpflichtete also die Nachkommenschaft zur Auswanderung. Aber auch bei der erblichen Toleranz war eine Beschränkung auf einen männlichen Nachkommen möglich und vielfach 509 üblich. Dieser Zustand ähnelt dann dem durch ein anderes Gesetz geschaffenen, das in Nieder-Österreich, Böhmen, Mähren und Schlesien zur Anwendung gebracht wurde, daß immer nur ein männlicher Nachkomme eine Familie begründen dürfe, beziehungsweise daß die Zahl der zulässigen Eheschließungen unter den Juden von vornherein ohne jede Rücksicht auf ihre natürliche Vermehrung festgelegt wurde und nicht überschritten werden durfte, so daß Tausende zum Zölibat oder zur heimlichen Ehe oder zur Auswanderung gezwungen wurden. Der offen eingestandene Zweck dieser Gesetze, die Zahl der Juden zu vermindern, war also die legale und zivilisierte Ablösung der bisher geübten Methode, sie durch Totschlag zu beseitigen.

Das Regulativ der antijüdischen Einstellung, nämlich die Möglichkeit, Geld vom Juden zu bekommen, ordnet auch in Preußen die Beziehungen zwischen der Regierung und den Juden. Die Mark Brandenburg, die sich mittels eines Ritualmordprozesses 1573 ihrer Juden entledigt hat, bekommt sie von neuem unter dem Großen Kurfürsten (1640–1688) durch die Einverleibung der Gebiete, die dann die Grundlage des brandenburgisch-preußischen Reiches bilden. Der Kurfürst hat in Holland gesehen, daß die Juden nützlich für den Staat sind. Darum gibt er ihnen Aufenthaltsrecht und Handelsfreiheit und setzt für sie seinen jüdischen Finanzagenten Behrend Levi als »Befehlshaber und Vorgänger« ein. Gegen den Unwillen der Stände schließt er auch mit 50 Familien anläßlich ihrer Ausweisung aus Wien einen zeitlich befristeten Vertrag über ihre Niederlassung. Auch seine Nachfolger bekunden dieses rein merkantile Interesse am Juden: Friedrich I., Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große. Alle wollen sie Juden haben, aber nicht zu viele; und vor allen Dingen sollen sie reich sein, sollen Steuern und Abgaben leisten, sollen den Handel beleben und sollen die friderizianischen Experimente, die er in den königlichen Manufakturen anstellt, dadurch unterstützen, daß sie zwangsweise, besonders bei Eheschließungen, Waren daraus 510 kaufen, vor allem Porzellan. Die Juden, die solchen Bedingungen genügen, genießen zwar keine Rechte, aber doch Protektion, die wieder – nach österreichischem Muster – ihre Einschränkung durch das Verbot erfährt, daß mehr als ein männlicher Nachkomme eine Ehe schließe. Den übrigen Juden, die diese teuren Privilegien nicht erzwingen können, wird, mit dem offenbaren Ziel, sie abzuschrecken und zu vertreiben, die Existenz durch eine strenge Einschränkung ihres Rechts auf Niederlassung, Eheschließung und Erwerb bis aufs Äußerste erschwert.

Dieses System, die reichen Juden noch mehr zu begünstigen und die weniger reichen noch mehr der Verarmung zuzutreiben, wird auch in anderen deutschen Staaten befolgt. Während so der wirtschaftliche Aufstieg der breiten jüdischen Volksmasse künstlich gehemmt wird, wird ebenso künstlich eine Schicht von Kapitalisten gezüchtet, die teils als »Hoffaktoren« das Kreditbedürfnis der verschiedenen Staaten befriedigen müssen, teils darüber hinaus ihren entscheidenden Einfluß auf die europäische Finanzwirtschaft zu nehmen beginnen. Diese Erscheinung des jüdischen Finanziers ist späterhin von der nichtjüdischen Umgebung, als sie den Vorsprung des Juden einzuholen suchte, mit einem bedeutenden Posten auf der Passivseite des Judentums gebucht worden. Für eine Ideengeschichte des Judentums sind solche Vorgänge ohne Interesse. Die wirtschaftliche Entwicklung der Juden ist nichts, was grundsätzlich zum Wesen des Juden und zur Idee seiner Geschichte gehört. Wenn man – um ein Beispiel zu wählen – vom Wesen des Deutschen spricht, erwähnt man auch nicht seine zweifellos erhebliche merkantile Begabung; im Gegenteil liebt man es, von anderen Völkern nicht ohne den Unterton eines Werturteils als von »Krämervolk« zu sprechen.

Zusammenfassend kann man von der Lage der Juden in dieser Zeit und Umgebung sagen, daß sie in einem Zustand der Rechtlosigkeit mit latenter Judenfeindschaft lebten, in dem 511 Ausweisungen und Geburtenbeschränkung die variierte Form der Judenverfolgung darstellten. Dabei ist anzumerken, daß die Behandlung in den katholischen Ländern eine bessere war als in den protestantischen. Aber hier wie dort war der Lebensraum des Juden von seiner schwersten Belastung, dem Martyrium, befreit. Lebenskräfte, die sonst die Sorge um das Schicksal des nächsten Tages mitzutragen hatten, begannen frei zu werden. In immer geringerem Umfange wurde auch das Interesse des Juden von den Angelegenheiten absorbiert, die er sonst, freiwillig wie gezwungen, in der Gemeinde, seiner Form der Autonomie, zu regulieren pflegte. Zu einer so starken Organisationsform wie die Kahale im Osten hatte sich ja die Gemeindeautonomie im Westen nie entwickeln können. Die vielfache Aufteilung des Siedlungsbezirkes in kleine Herrschaftsgebiete und das Fehlen kompakter Massen stand dem seit langem entgegen. Aber auch soweit solche Gemeinden noch mit straffer Organisation bestanden, mußten sie notwendig in ihrer verbindenden Kraft durch das Nachlassen des Rabbinismus Einbuße erleiden. Der Rest an Organisationsform, der übrigblieb, regelte nicht mehr das Leben des Juden, versah ihn nicht mehr für jede seiner Handlungen und für jeden Schritt in die Außenwelt mit einem verbindlichen Gesetz. Dagegen geschah etwas anderes: die Regierungen begannen, in das Leben der Gemeinden einzugreifen. Es war ihnen, solange die Gliederung ihrer Staaten sich in einer ständischen Ordnung darstellte, wohl meistens nicht zum Bewußtsein gekommen, daß auch noch die einfachste jüdische Gemeinde in der Ordnung, die sie sich gab, nichts anderes darstellte als die autonome Verwaltung einer nationalen Minorität. Aber auch ohne diese Erkenntnis führte der wachsende Absolutismus dazu, daß die Regierungen ihren Willen, zu herrschen, zu reglementieren und zu bevormunden, auch auf die jüdischen Gemeinden ausdehnten. Dabei war das geringste, daß – wie es Preußen als Vorbild tat – die Wahl der Gemeindevorsteher oder Gemeindeältesten und dann die der Rabbiner 512 zu ihrer Gültigkeit von der Zustimmung der Regierung abhängig gemacht wurde und daß hier und da die Wahl überhaupt unter staatlicher Aufsicht vor sich ging. Wichtiger war, daß – und dafür ist Österreich Vorbild – in die einzelnen Angelegenheiten der Gemeinden eingegriffen wird, daß sie – abgesehen von den Rechtsbeschränkungen, die für sie galten – genau vorgeschrieben bekamen, was sie innerhalb ihrer Gemeinden tun und lassen mußten, von der Einrichtung der Schulen bis zur Ausbildung der Lehrer und Rabbiner, von der Führung ihrer Geschäftsbücher bis zur Art ihrer Kleidung. So sehr solche Verordnungen auch Erziehungsversuche unfähiger Pädagogen sind, die nicht vom Mündel ausgehen, sondern von sich selbst, so ist doch das Entscheidende, daß darin eben Erziehungsversuche liegen, daß also der Staat dazu übergeht, auf den Juden auch zu anderen Zwecken als zur Erzeugung und Herbeischaffung von Geld einzuwirken.

Das ist ein Vorgang, der für die kommende Gestaltung der jüdischen Situation im Osten wie im Westen von ungewöhnlicher Bedeutung wird. Wenn früher das Kriterium des Staates sich überwiegend aus dem beherrschten Territorium selbst ableiten ließ – wobei es nicht darauf ankam, was alles an Ländern, Völkern, Sprachen und Kulturgebieten darin vereinigt war – wird es für das 18. Jahrhundert die Herrschaft über das Territorium, und zwar die absolutistische, die bei der immensen Kleinstaaterei besonders in Deutschland sich gern der »landesväterlichen« Umgangsform bediente. Das führte auf der einen Seite zum Bestreben, die Lebensform und Verhältnisse aller Untertanen zu ordnen, auch der minderen Rechts. Andererseits wird die Homogenität des Volkes, der Untertanen, der beherrschten Gruppe von Menschen, die mit dem Verschwinden der ständischen Ordnung wachsend eintrat, durch das Fortbestehen isolierter jüdischer Gruppen gestört. Was als das Ergebnis jahrhundertelanger Absonderung entstanden war, stellte sich tatsächlich als eine von der übrigen Bevölkerung stark und 513 nachteilig unterschiedene Bevölkerungsschicht dar. So wie die ewigen Rechts- und Berufsbeschränkungen weder imstande waren, das Rechtsgefühl des Juden zu stärken und in dem Kampf um das tägliche Stück Brot allzugroße Skrupel walten zu lassen, so wenig war das Beschränktsein auf eine aus dem Geiste des Rabbinismus orientierte Welt und der Ausschluß von den Bildungsmöglichkeiten der Umgebung geeignet, dem Juden die Zivilisationsstufe der Umgebung erreichbar zu machen. Es ergibt sich also der Zustand, daß ein altes Kulturvolk, gezwungen und freiwillig, aus Not und aus Notwehr als Prototyp der Rückständigkeit und Unbildung gelten konnte gegenüber einer Umwelt, die mitten in dem Prozeß war, ein Kulturvolk zu werden. Mithin konnten in dieser Welt und unter diesen Regierungsformen Juden Gegenstand einer erzieherischen Fürsorge werden.

Solche Erziehungsversuche stellen nicht etwa das Ergebnis eines plötzlichen humanitären Umschwunges dar und resultieren keineswegs aus dem Willen, dem Juden wirklich zu helfen oder gar das Unrecht langer Zeiten an ihm wieder gutzumachen; sie sind vielmehr der Versuch, ihn im rein egoistischen Interesse, im Interesse des Staates und des Glaubens und der umgebenden Majorität anzugleichen, unsichtbar zu machen, zu assimilieren; Versuche, das Problem Jude durch seine Beseitigung zu beseitigen. Die Beseitigung des Juden als Jude ist in der Tat das letzte und oft ausgesprochene Ziel aller Reglementierung, und selbst da, wo die Unmöglichkeit einer solchen generellen Lösung von vornherein eingesehen wird, machen die Regierungen und die Gesetze eine denkbar weitgehende Angleichung an die Umgebung zur Voraussetzung für die Aufhebung oder Lockerung der Rechtsbeschränkungen. An diesem Punkte, an der Verkoppelung von Rechtsgewährung und kultureller Angleichung schürzt sich der Knoten der Katastrophe, in der für ein schweres Jahrhundert die jüdische Gemeinschaft zerbricht und das Bewußtsein des Juden von Sinn, Inhalt und Anforderung seiner Geschichte mit gefährlicher Bedrohung und mit 514 erheblichem Substanzverlust seine Orientierung verliert, um sie erst in unseren Tagen wiederzugewinnen.

Wenn ein Volk überhaupt eine Idee in seinem geschichtlichen Leben mit sich trägt und wenn diese Idee überhaupt derart beschaffen ist, daß ihr eine Weltgültigkeit zukommt, dann kann dieses Volk zu jeder Zeit und von jedem kulturellen Tiefstand aus ohne weiteres den Anschluß an die Weltkultur wiedergewinnen, wenn man ihm nur die Möglichkeit dazu nicht mit Gewalt verschließt. Dann ist auch jede Kultur geeignet, für diesen Anschluß das Medium zu sein. Als dieses Medium hat in der jüdischen Geschichte überwiegend die deutsche Kultur gedient. Es hätte auch eine andere sein können.

Für den Anschluß von Menschen an eine Kultur, die nicht die ihrige ist, bedarf es immer eines Anreizes. Für den Juden konnte er in dem Augenblick entstehen, in dem seine Existenz überhaupt den Raum dafür freigab und in dem ferner das allgemeine Kulturniveau der Umgebung – nicht die isolierte Leistung von Kulturträgern – den Wunsch zur Teilnahme an solchen Kulturgütern verständlich machte. Dieses Stadium begann um die Mitte des 18. Jahrhunderts wirksam zu werden. Und zwar war es nicht die Aussicht auf die mögliche Verbesserung der Rechtslage, die die ersten Juden aus ihrem umgatterten Bezirk Anschluß an die Weltkultur suchen ließ, sondern der Wille des Juden, sein geistiges Wirkungsbedürfnis aus der bisherigen Bindung zu befreien. Das war an sich schon nicht leicht. Auch da, wo günstige Lebensbedingungen entlastend wirkten und den Zugriff zu den bereitliegenden Kulturgütern freigaben, konnte das nur geschehen in Opposition gegen die traditionelle Ablehnung alles weltlichen Wissens, die vom Rabbinismus proklamiert war. Im Osten gehörte schon ein heroischer Entschluß dazu, weil solches Beginnen den Wissensdurstigen als Ketzer außerhalb der jüdischen Gemeinschaft stellte. Im Westen fehlte diese persönliche Tragik, dieses Zerfallen mit der eigenen Gemeinschaft. Die Tragik lag genau auf der entgegengesetzten 515 Seite. Der Zerfall mit der eigenen Gemeinschaft wurde immer leichter in Kauf genommen. Aber daß der mit der eigenen Gemeinschaft zerfallene Jude nicht in der anderen Gemeinschaft, um deren Kultur und Zivilisation er sich bewarb, empfangen und aufgenommen wurde, empfand er als eine tragische Ungerechtigkeit.

Wir nehmen hier den Begriff »Zerfall« in seiner weitesten Anwendungsmöglichkeit und verstehen darunter auch diejenige Situation, in der ein Jude zwar darauf besteht, im Judentum zu verbleiben, zugleich aber durch eine Interpretation des Begriffes Judentum ihm de facto den Charakter einer Gemeinschaft nimmt. Bisher hatte es das Judentum nicht nötig gehabt, sich in seiner Art und in seinem Wesen zu definieren. Es existierte und stellte die Tatsache seiner Existenz niemals zur Diskussion; höchstens zu einer Betrachtung darüber, daß es trotz der vielen Verfolgungen immer noch existiere. Jetzt erwies sich, daß das Judentum nicht mehr aus seinem vollen Bestande lebte; denn was nicht so lebt und seine Begründung in der Tatsache seiner Existenz selbst findet, muß sich mit Ideen und Konstruktionen begründen. Das geschah jetzt; und es geschah mit einer doppelten Belastung, die eine Fehlbetrachtung unvermeidlich machte: das Volk, das sich immer geweigert hatte, fremde Geschichte zu erleben, war auch in seiner Fähigkeit verkümmert, die eigene Geschichte zu begreifen; und was es von seiner Art noch begreifen konnte, stand unter dem Zeichen des Interesses, des bewußten oder unbewußten Zweckes, die Aufhebung ihrer Rechtsminderungen zu erreichen. Und es war selbst in diesem Rest zweckhaften Denkens nicht einmal frei und unbeeinflußt. Vielmehr wurde ihm der Weg ihrer Begründung im wesentlichen durch die Argumentation, mit der die Umgebung ihm die Rechtsgleichheit vorenthielt, vorgezeichnet. Die Interessierten und Gebildeten unter den Christen, die wirklich etwas zu diesem Thema zu sagen hatten und die sich ihre Argumente nicht nach dem Ressentiment oder nach einem durchsichtigen 516 geschäftlichen Interesse zurechtbogen, standen auf dem Standpunkt, daß die europäischen Staaten, besonders aber die deutschen, ihrer Natur nach christliche Staaten seien, daß Staat und Religion in der Einheitsform als Staatsreligion daständen und daß in einem solchen Gefüge zwar für Juden als geduldete Untertanen, als Objekte, aber nicht für den Judaismus und nicht für seine Bekenner als mitwirkende Subjekte Raum sei. Hier enthüllt sich für den um den kulturellen und rechtlichen Anschluß kämpfenden Juden eine schwierige Situation. Nicht nur bei ihm, als dem Unterdrückten, war die ganze seelische, geistige und soziale Struktur zwangsläufig geworden, sondern mehr noch bei den Unterdrückern, bei der christlichen Umwelt. Die Bereitschaft, davon abzuweichen, war aber bei den Juden weitaus größer als bei den Christen. Intoleranz, Rassenhochmut und Religionshaß waren eben integrierende Bestandteile auch des »neuzeitlichen« Menschen. Keine Höhe geistiger Kultur ersetzte ihm das Manko, die Beziehung von Mensch zu Mensch als das letztlich bestimmende und entscheidende Element in der Entwicklung der Menschheit und des Geistigen begreifen zu können. Er kannte die erhabensten Gefühle, aber nicht den Begriff Mit-Mensch in seiner letzten Konsequenz. Man kann über den produktiven Einfluß des Christentums auf die abendländische Kultur sehr verschieden denken, immerhin war der Jude, der in den von solcher Kultur beherrschten Staaten als Mensch gleicher Legitimation wie jeder andere Mensch leben wollte, gezwungen, sich gegen ihre Argumentation zu verteidigen. Er tat es aktiv dadurch, daß er an das Humanitätsgefühl der Umgebung appellierte, und passiv dadurch, daß er das Judentum in seiner grundlegenden Existenzform als Volk auf dem Wege der Auslegung zu beseitigen versuchte.

Mit solchen Feststellungen ist zugleich das Prinzipielle ausgesagt über eine Erscheinung, die als der Prototyp solcher Haltung im guten wie im bedenklichen Sinne gelten kann: Moses Mendelssohn. Er stammt aus dem kleinen, beengten, 517 jüdisch-bürgerlichen Milieu, in dessen Rahmen die Mehrzahl der jüdischen Existenzen verlief. Er ist gewiß nicht der erste und der einzige Jude, der aus solcher Umgebung in die Freiheit des Denkens ausbricht, und den Leistungen, die er in dem neuerschlossenen Kulturbezirk hervorbringt, kommt weder nach Form noch Inhalt eine besondere Originalität und schöpferische Kraft zu. Sein Schaffen interessiert nur insofern, als es einen Beleg für die Leistungsfähigkeit des Juden selbst nach der Isolierung von Jahrhunderten darstellt. Sein historisches Format erhält er dadurch, daß seine Aufklärungsphilosophie den Generationen um ihn und nach ihm das Rüstzeug an die Hand gibt, aus dem lebendigen Gesamt des Judentums die Religion als das alleinige Kriterium abzulösen und in ihr der Vernunft einen solchen Platz einzuräumen, daß sie darüber sowohl den Kontakt mit dem Leben wie auch ihre transzendente Gewalt verliert. Ein solches Ergebnis hat er sicher nicht gewollt. Sein ethisches Pathos ist groß und bestechend. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, zwischen Judentum und Umwelt zu vermitteln; dem Juden die christliche Kultur und dem Christen den jüdischen Mitbürger annehmbar zu machen. Dafür mußte er ein Doppeltes tun: unter den Juden Aufklärungsarbeit leisten und unter den Christen Apologie für das Judentum treiben. Beides tat er mit der reinsten und saubersten Intention.

Als ein grundlegendes Mittel, dem Juden die deutsche Sprache zugänglich zu machen (der jüdisch-deutsche Mischdialekt war immer noch weit verbreitet) und ihm damit das Tor zur deutschen Kultur zu öffnen, betrachtet er die Übersetzung des Pentateuch in die deutsche Sprache. Das war ein von vornherein verfehltes Unternehmen. Wir haben früher schon betont, welche Wichtigkeit der Übersetzung der Bibel in ein fremdes Sprachelement zukommt, daß sie das Aufreißen der Tore zu einem Bezirk bedeutet, der nicht nur Angelegenheit des jüdischen Volkes ist, sondern Weltgeltung beansprucht. Wir identifizieren uns in diesem Punkte mit der Auffassung von 518 Franz Rosenzweig: »So ist das Eintreten eines Volkes in die Weltgeschichte bezeichnet durch den Augenblick, wo es sich die Bibel übersetzend aneignet.« Solche Übersetzungen können aber nicht willkürlich und zu einem beliebigen Zeitpunkt geschehen, sondern nur dann, wenn die innere Situation eines Volkes es rechtfertigt, wenn das Hereinnehmen der Bibel in die eigene Sprache und das eigene Kulturgefühl eine Übersetzung zur historischen Notwendigkeit machen. Darum bleibt jede zufällige oder zu Erziehungszwecken oder aus wissenschaftlichen Gründen gewollte Übersetzung bestenfalls im Philosophischen verhaftet; und deshalb mußte Luther die Bibel übersetzen, während Mendelssohn dem Juden nicht mehr die Bibel geben konnte, sondern nur eine zu erzieherischen Zwecken erfolgte Übertragung in ein anderes Idiom. Er selbst ist aber der lebendige Beweis dafür, daß es zur Erlernung und Beherrschung der deutschen Sprache nicht gerade einer Bibelübersetzung bedurfte.

Immerhin entsprang diese Übersetzung, die von den polnischen Rabbinern in Deutschland und Österreich leidenschaftlich bekämpft wurde, den lautersten Absichten. Der Humanitäts- und Toleranzgedanke, wie ihn sein Freund Lessing in seinem Schauspiel »Nathan der Weise« Gestalt annehmen ließ, beherrschte ihn ganz, und daß sein Haus der Treffpunkt der Idealisten um Lessing werden konnte, hat ihm wohl den Blick dafür getrübt, auf eine wie geringe Schicht der Humanitätsgedanke in Deutschland beschränkt war. Er konnte also guten Glaubens annehmen, daß der Zweck seiner Übersetzung, die Juden in die deutsche Sprache und Kultur einzuführen, ihnen in der Gesamtheit die liebevolle Aufnahme bereiten würde, die er selbst gefunden hatte. Aber schon die ersten tastenden Versuche, die er nach dieser Richtung machte, ergaben ein Echo, das ihn hätte aufmerken lassen müssen. Er hatte seinen Freund Markus Herz veranlaßt, die Schrift des Manasse ben Israel, »Rettung der Juden«, ins Deutsche zu übertragen, und hatte dazu ein Vorwort geschrieben, in dem er für die wirtschaftliche und 519 bürgerliche Freiheit der Juden eintrat. Gegen solches Verlangen erhob sich eine lebhafte Polemik in Flugschriften und Aufsätzen, die im wesentlichen alle auf den gleichen Ton gestimmt waren, nämlich auf die schon gekennzeichnete Idee, daß Deutschland ein christlicher Staat sei, in dem eben das Christentum Staatsreligion sei, und daß in solchem Staate dem Judentum keine Gleichberechtigung zukomme.

Es konnte natürlich nicht Mendelssohns Aufgabe sein, in diesem Streite zu beweisen, daß dieser Idee des christlichen Staates gar keine Wirklichkeit des Christentums zugrunde lag, sondern höchstens die Verkoppelung von Staatsgewalt und Kirchenherrschaft, und daß der Hauptwert, man könnte sagen: der Gebrauchswert solcher Theorie im Negativen, das heißt in der Abwehr von Fremden und Andersgläubigen, bestand. Er beschränkte sich in seiner Schrift »Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum« mit Recht auf die grundsätzliche Untersuchung der Frage, wie in einem Staate die Kompetenzen der Staatsgewalt und der Religion gegeneinander abzugrenzen seien, und kommt dabei zu dem richtigen Ergebnis, daß der Staat Handlungen, aber nicht Gesinnungen seiner Bürger erzwingen könne. Aber indem er sich nun bemüht, für den konkreten Fall die Stellung des Judentums dazu festzulegen, erwächst aus seinen Anschauungen eine Gestalt des Judentums, die mit dem historischen Befund nichts mehr zu tun hat. Den Judaismus als einen geschichtlichen Prozeß zu erfassen, ist er nicht imstande. Dieses Beieinander von nationaler und religiöser Potenz wird ihm nicht mehr sichtbar, weil er von der Idee der Humanität völlig besessen ist und solche Einstellung, so edel sie immer sei, doch leicht Gefahr läuft, vor dem ersehnten Ziel allmenschlicher Verständigung den historischen Ablauf des Gewordenseins zu übersehen. Es ist eine schöne, aber nicht zureichende Besessenheit. Der Wille zum Menschlichen kann Entwicklungen herbeiführen, aber geschehene Entwicklungen nicht rückgängig machen. Das Nationale darf gewiß nie Selbstzweck werden, 520 sondern muß immer Zweckform bleiben; aber innerhalb dieser Zweckform, wenn sie nur richtig angewandt wird, liegt die Möglichkeit beschlossen, das Menschliche mit seiner jeweiligen Variante zur Reife zu bringen.

Mendelssohn hat nur noch einen Blick für die jüdische Religion, und auch sie begreift er, da er sie von ihrem Ursprung ablöst, nur nach den persönlichen Möglichkeiten seines Geistes. Sie ist ihm generell geoffenbartes und durch Tradition geheiligtes und übermitteltes Gesetz. Er selbst war gesetzestreu und suchte folglich nach einer religiösen, gläubigen Begründung dafür. Darum glaubt er an die Offenbarung. Aber andererseits ist er Humanist und Aufklärer, braucht also die Vernunft als Inhalt des Gesetzes. Und er betont sie sehr. »Die Religion meiner Väter weiß, was die Hauptgrundsätze betrifft, nichts von Geheimnissen, die wir glauben und nicht begreifen müßten. Unsere Vernunft kann ganz gemächlich von den ersten sicheren Grundbegriffen der menschlichen Erkenntnis ausgehen und versichert sein, am Ende die Religion auf ebendem Wege anzutreffen. Hier ist kein Kampf zwischen Religion und Vernunft, kein Aufruhr unserer natürlichen Erkenntnis wider die unterdrückende Gewalt des Glaubens.«

So wird also unter seinen Händen das Judentum zu einer Religion der Vernunft, die gemächlich da wandelt, wo in den großen Anfängen und den großen Bemühungen die Seele des Juden sich erschrocken, aber bewußt dem Geheimnis auslieferte. Das Geheimnis des Angerufenseins kennt er nicht mehr. Es verstummte vor dem Pathos seines sittlichen Ernstes. Für seine ständige Forderung nach Wahrheit, Frieden, Humanität schien ihm seine Auffassung vom Judentum eine zureichende Grundlage. Aber mit einer halben Wahrheit lebt sich verfänglicher als ohne Wahrheit. An sich hatte Mendelssohn recht: dem Judentum ist das Gesetz gegeben, nicht die Religion. Aber die Religion war da. Aus ihr erst entsprang das Gesetz mit der Notwendigkeit, mit der Gemeinschaften Normen für ihr Dasein 521 aus sich entlassen. Das Gesetz diente einem Volke zur Realisierung seiner Religion. Es war nicht ihr Inhalt. Dieses Verkennen des historischen Zusammenhanges, ein Produkt des Gettos, führte zum Begreifen eines Judentums, das nicht existiert hat. So labil, so begrifflich auflösbar, so privat und allgemein zugleich ist dieses sein Judentum, daß ein Mann wie Lavater daraufhin den Versuch wagen konnte, diese »sokratische Seele« für das Christentum zu gewinnen.

Eine solche Verbiegung der jüdischen Idee hätte ohne Folgen bleiben können, wenn sie nicht in den Bereich einer geistigen Haltung geraten wäre, die man herkömmlich als »Aufklärung« bezeichnet. Solche Aufklärung ist ein sehr zweischneidiges Instrument. Sofern sie bezweckt, den Menschen zum Gebrauch seines gesunden Menschenverstandes anzuregen, das Vorurteil durch die Erkenntnis abzulösen, die sture Herkömmlichkeit durch das Verständnis für die Wandelbarkeit von Formen, kann sie nicht hoch genug eingeschätzt werden. Aber mit ihr ist meist ein flacher Rationalismus verbunden, eine Anbetung der Vernunft und des Vernünftigen, eine lächerliche Technik der Desillusionierung, eine fast hämische Freude am Auflösen des Wunderbaren, des nicht Auflösbaren. Das Ideal des Aufklärers ist Zivilisation und allgemeine Bildung; als Beigabe zu einem Dasein schätzenswert; als Inhalt eines Daseins unzureichend.

Auf dieser Linie bewegen sich die jüdischen Aufklärer, die aus dem Kreise um Mendelssohn ihren Ursprung nehmen. Sie wollen den Juden erziehen, ihm Geschmack, Wissen, ästhetisches Gefühl vermitteln. Sie wollen die Differenz zwischen der allgemeinen Haltung des Juden und der der Umgebung ausgleichen. Sie wollen es anfänglich noch auf einer doppelten Ebene: auf der der Allgemeinbildung und des jüdischen Wissens; durch Reform der jüdischen Schule und durch Erneuerung der hebräischen Literatur. Die erste »Jüdische Freischule« und die erste moderne hebräische Zeitschrift »Ha'Meassef« (der Sammler) entstehen in dieser Zeit (1778 und 1783). Beide Institutionen 522 haben ihr unbestrittenes Verdienst für die Bewältigung des Pensums, das der Jude nachzuholen hatte. Sie haben diesen Prozeß, der auch eines Tages von selbst eingesetzt hätte, beschleunigt. Sie gaben ihm aber auch seine besondere Zweckbelastung. Sie wollten den Weg freimachen für die Erlangung der bürgerlichen Gleichberechtigung. Sie wollten eine Judenheit schaffen, die sich in Sprache, Bildung und möglichst auch in der Lebensform von der Umgebung nicht mehr unterschied. Sie wollten das abgesonderte Dasein des Juden in das allgemeine Dasein der Menschen in Staat und Gesellschaft einmünden lassen. Sie hielten den Vorwurf der Umgebung, daß der Jude abgesondert lebe, für berechtigt; und darum wollten sie diesem Vorwurf den Boden entziehen. Sie liebten Bildung mit der ganzen intellektuellen Leidenschaft des Juden. Darum lieferten sie sich ihr hemmungslos aus. Sie sahen in dieser Welt des Geistigen Ansätze zu wirklicher Humanität und wirklicher Toleranz. Darum überschlug sich in ihnen das Gefühl der Rechtlosigkeit zum Pathos des Gleichheitskampfes. Sie wußten sich, was ihre Liebe zur Kultur der Umgebung anging, den anderen mindestens gleich. Darum empfanden sie die Rechtsbeschränkungen um so bitterer. Sie hielten sich aber für verpflichtet, nicht nur eine Forderung zu stellen, sondern Konzessionen zu machen. Und diese Konzession war der Verzicht weniger auf das Abgesondertsein des Juden als vielmehr auf den letzten Grund der Absonderung: die Andersartigkeit des Juden. Da die Welt noch nicht dafür reif war, solche Andersartigkeit zu dulden, mußte die Andersartigkeit nach Möglichkeit beseitigt werden. Als ihren Grund begriffen sie nur das außen am Rande Liegende: die erstarrte rabbinische Denkwelt und die nicht mehr lebensfähige Gettowelt. Statt auf die Gründe der Entwicklung einzuwirken, wirkten sie auf die Erscheinungsformen ein. Statt nach einer neuen Verankerung im Herkommen, im Ursprung zu suchen, rissen sie die Tore zu einer neuen Welt, zur Angleichung, zur Assimilation auf. 523

Während der jüdische Osten den Krisenpunkt aus dem Herzen her überwand und damit einen neuen Impuls weitervererben konnte, wenn auch dem Chassidismus selbst nur eine kurze Blütezeit beschieden war, wurde hier im Westen aus dem Ressentiment und der Vernunft, aus einem intellektualistisch gefärbten Humanismus, kurz: aus dem Gehirn her, der Krisenpunkt umgangen. Der Osten gab eine Möglichkeit für die Zukunft; der Westen suchte nach einer Möglichkeit für die Gegenwart. Der Osten hat das jüdische Problem vertieft; der Westen hat es verschleppt. Der Osten hat der jüdischen Geschichte eine neue Rechtfertigung gegeben; der Westen hat sie gefälscht.

Daß die jüdische Gegenwart das Erbe von beiden angetreten hat, ist ihr eigentliches Problem.

 


 


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