Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

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Umzäunung

Die äußere Geschichte läßt für den jetzt beginnenden Zeitraum das Schicksal der kleinen Provinz Judäa im Halbdunkel. Kein Ereignis und kein Name stellen sich zur Betrachtung dar. Aber die innere Geschichte dieses Abschnittes ist von einmaliger Lebendigkeit. Das Schicksal gibt ihnen ein Jahrhundert Zeit, aus der Summe der Erfahrungen als Volk und Einzelne die Folgerungen zu ziehen. Sie tun es, indem sie zur Verfassung ihres Anfanges, zur Theokratie, zurückkehren; indem sie zur äußeren Abschließung die innere hinzufügen und indem sie die Existenz aus dem Glauben her mit dem persönlichen Schicksal jedes Einzelnen identifizieren.

Als sie in den Anfängen ihrer Volkswerdung sich um eine Theokratie bemühten, wurden ihnen die Gesetze ihres Handelns und ihres Verhaltens nur nach allgemeinen Normen vorgeschrieben, nach den allgemeinen Vorstellungen, wie sie sich damals herausgebildet hatten, und immer von Fall zu Fall durch diejenigen Persönlichkeiten, die als Funktionäre der Theokratie in die Erscheinung traten. Aber seit der Einwanderung in Kanaan sind acht Jahrhunderte vergangen. Das Volk hat gelebt und mit ihm ist die Idee seines Lebens gewachsen. Die inneren und die äußeren Ereignisse haben sich summiert und haben sich in Schriften, in mündlichen Überlieferungen, im Bewußtsein der Masse und in den idealen Forderungen vieler Einzelner niedergeschlagen. Jetzt, nachdem sie die harte Schule Esras und Nehemias durchschritten haben, wenden sie sich diesem Bestand zu und ordnen ihn. Man hat sie auf die Gesamtheit ihrer Glaubenslehre als Staatsgesetz verpflichtet. Es ist also an der Zeit, festzustellen, was Umfang 113 und Inhalt dieser Verfassung ist. In dieser Epoche wird die letzte und endgültige Redaktion der Thora, des Fünfbuches, vorgenommen. Noch einmal überschauen anonyme Redaktoren die Summe dessen, was das Volk gewollt und verweigert, versucht und verfehlt, geglaubt und verneint hat. Indem sie den inneren und äußeren Zustand, in den sie jetzt eingetreten sind, als höchste und letzte Möglichkeit hinnehmen, von der aus sie nun wirklich leben und realisieren können, was Jahrhunderte vor ihnen gefordert haben, geben sie allem historischen Geschehen, allen Traditionen, allen Gesetzen und Bräuchen einen durchgehenden, einheitlichen, streng auf ein Leben in der Theokratie gerichteten Sinn. Alles, was sie jetzt tun, erscheint nach Vollendung der Redaktion schon von allen Urzeiten her so gewollt und so vorausgesehen; und wenn es von aller Vergangenheit schon so gewollt war, muß es notwendig auch für alle Zukunft so gemeint sein. Darum ist die Fassung, die die Thora jetzt erhält, die letzte, abschließende, endgültige, an der nichts geändert werden darf, weder ein Gedanke noch ein Wort noch ein Buchstabe. Durch alle Wirrungen und Schicksale steht von da an die Thora felsenfest, nicht zu erschüttern, als ein nicht mehr auflösbares Zentrum da.

Neben diesem Gesetz, das ihnen vorschreibt, wie sie handeln sollen, stehen zugleich die historischen Belege, aus denen sie sich immer erneut klarmachen können, warum sie so handeln sollen. Das geschichtliche Material, in der Königszeit aufgezeichnet und in den Prophetenschulen des babylonischen Exils bearbeitet, wird nun noch einmal einer Revision unterzogen. Und von da aus, wo sie jetzt stehen, wird plötzlich alles klar, eindeutig, nach einer durchgehenden Schicksalslinie erkennbar und bestimmbar: es hängt alles davon ab, ob sie sich dem göttlichen Auftrag zuwenden oder sich ihm versagen. Je nachdem neigt sich ihr Geschick zum Guten oder zum Bösen. Das klarzustellen, bemühen sich die Redaktoren, die den 114 Büchern Jehoschua, Richter, Schemuël und Könige die endgültige Fassung geben.

Zwischen Gesetz und Geschichte, zwischen dem inneren und dem äußeren Leben standen von lange her die schöpferischen Interpreten, deren Lebensaufgabe es war, Zusammenhang von Gläubigkeit und Schicksal nachzuweisen: die Propheten. Zu ihren Lebzeiten haben sie oft in den leeren Raum hinein geredet. Jetzt wird jedes Bruchstück von ihnen gesammelt und als kostbares Gut registriert. Es ist nicht immer zu bestimmen, wer dieses und wer jenes gesagt hat, weil ihr Wirken so oft anonym war. Aber da den Redaktoren mehr an dem Material als an der philologischen Gewissenhaftigkeit lag, stellen sie die Aussprüche zusammen, so gut es gehen mag. So werden die Werke der Propheten unter der Bezeichnung Jesaja, Jeremia, Ezechiel als eine Gruppe für sich kanonisiert, und anschließend daran zwölf »kleinere«.

Diese Schriftwerke sind ihre eigentliche und offizielle Verfassung, nach der sie leben und nach der sie regiert werden. Sie haben keinen König mehr, sondern nur den Hohenpriester als offiziellen Repräsentanten gegenüber der Umwelt. Das ist die logische und formale Folge einer theokratischen Staatsform. Aber nach innen hin ist der Hohepriester nur ein Funktionär, dem, streng genommen, nur noch die Tempelriten unterstehen. Neben ihm wirkt eine Art Senat, ein Rat der Ältesten, eine nicht mehr präzise zu umreißende Körperschaft, die das höchste Verwaltungsorgan und die oberste Gerichtsinstanz darstellt. Eine viel wichtigere Einschränkung erfährt die Priestergewalt aber durch eine Gruppe von Menschen, die, ohne gesellschaftlich oder körperschaftlich organisiert zu sein, der Zeit ihr charakteristisches Gesicht gibt: die Soferim.

Sofer heißt wörtlich nur Schreiber oder Schriftkundiger. Aber hier ist es die Bezeichnung für Menschen einer ganz eigenartigen Veranlagung und Tätigkeit. Sie sind die 115 stillschweigenden Nachfolger Esras und Nehemias; Menschen, denen es ein Beruf wird, dem Volke den Inhalt seines Schrifttums zu vermitteln. Sie sind Lehrer, von niemandem berufen und von niemandem angestellt. Sie werden getrieben von dem Bedürfnis, dem Volke seine geistige Erbschaft aufzuschließen und es damit für das Leben doppelt aufnahmefähig zu machen. Sie sind die stärksten, sichtbarsten Exponenten einer Gesinnung, die mit dem Leben nach dem »Gesetz« Ernst machen will. Sie schätzen dabei richtig ein, daß viele Gesetze nur Rahmenvorschriften sind und daß das Leben in all seinen Formungen ständig wandelbar ist, während das Wort, an dem nichts geändert werden darf, für Zeit und Ewigkeit feststeht. Darum erwächst ihnen die doppelte Aufgabe, in immer neuen Forschungen zu umreißen, was das Gesetz erlauben und was es verbieten will. Wo das Gesetz nicht eindeutig auf die Lebensbeziehungen angewendet werden kann, bemühen sie sich um die Deutung. (Deutung = Midrasch.) Es ist nicht mehr nachweisbar, in welcher Form sie an der inneren Verwaltung teilnahmen, aber es ist durch Tradition ausreichend bezeugt, daß sie die Gestalter der jüdischen Nomokratie sind. Ihre Tätigkeit wird in dem Kernsatz zusammengefaßt: »Seid gelassen im Gericht, stellt viele Schüler aus und macht einen Zaun um das Gesetz.«

Mit der Auswirkung dieses Grundsatzes hat die Entwicklung des Judaismus einen vorläufigen Abschluß erreicht. Dieses Leben aus einem fixierten religiösen Bestand her schließt den Kreis ihrer Individualisierung vorläufig ab. Sie machen nicht nur einen Zaun um das Gesetz. Sie machen auch einen Zaun um sich selbst, indem sie sich noch endgültiger nach außen abriegeln und sich noch ausschließlicher an einen gegebenen Kreis von Gesetzen binden. Es tritt hier vor allem die Individualisierung ein als religiös lebende Einzelmenschen. Denn von dieser Zeit an werden ihnen die Grundlagen ihrer geistigen Existenz ausgeliefert. Sie werden dem Priester aus den 116 Händen genommen, werden vom Tempel abgelöst und in jede Stadt, in jedes Dorf und in jedes Gebethaus hineingetragen. Die aus der Not geborene Einrichtung des babylonischen Exils, sich in Räumen zu gemeinsamer Andacht zu versammeln, wird nach der Rückkehr beibehalten und ausgebaut. Dem Tempel bleibt das Opfer in allen Graden und Abstufungen, aber in den Gebethäusern entsteht der individuelle Gottesdienst. Die Zeiten des Gottesdienstes sind ihnen vorgeschrieben. Aber im übrigen ist ihr Gebet, ihre Art, Gott zu dienen und zu erleben, ihnen selbst überlassen.

Dieses Dasein aus der Umzäunung darf aber nicht verstanden werden als eine völlige Abkehr von der Welt und Umwelt. Sie behalten ihre volle Empfängnisfähigkeit für alle Erscheinungen, die von außen an sie herankommen. Sie sind sogar in dieser Zeit imstande, sich eine neue Sprache anzueignen: die aramäische. Sie nehmen zugleich eine neue, einfachere Schrift auf, die Ktab Aschurit, abgeleitet von dem uralten semitischen Alphabet, aus dem allmählich die hebräische Quadratschrift erwächst. Auch neue Monatsbezeichnungen entnehmen sie der assyro-babylonischen und der aramäischen Sprache, ebenso, wie sie nach jenem Vorbild das Neujahr vom Frühling auf den Herbst verlegen. Solche Vorgänge sind für sich allein unwesentlich und uninteressant, aber sie sind symptomatisch für ihre zukünftige Haltung: sie leben in der Umzäunung, aber sie führen kein Leben außerhalb der Welt. Sie assimilieren sich nicht mehr, sondern assimilieren sich die Dinge, für die sie aufnahmefähig sind. Sie grenzen ab, in einer Weise, daß die Umwelt sie als Gesamtheit nicht mehr assimilieren kann. Sie schaffen sich durch diese Lebensart die technische Garantie für ihre Fortdauer. Wenn bisher noch von Judaismus gesprochen werden konnte, so kann dieser Vorgang in Wahrheit als die Geburtszeit des Judentums bezeichnet werden.

Man muß sogar sagen, daß dieses Leben in der Umzäunung erst wieder zu einer selbständigen Ursache dafür geworden 117 ist, in die Umwelt hinüberzugreifen, denn wenn sie auch ihre Umgrenzung nicht aufgeben wollten, wünschten sie doch, sie tragbar zu machen. Die strenge Folgerichtigkeit eines auf nichts als Sittlichkeit und Heiligkeit gegründeten Lebens sucht sich ein Ventil, sucht für das Übermaß kristallener Helle die halbdunklen Winkel, in denen die Seele Sensation finden kann. Aus der Eindeutigkeit, mit der das Gute und Böse ihres Geschickes – als Folge sittlichen oder ungerechten Verhaltens – ihnen im Ablauf vorgezeichnet ist, suchen sie die Zweideutigkeit, die darin besteht, daß man das Geschehen des Bösen als das Werk von bösen Geistern ansehen kann. Die eranische Religion liefert ihnen die Vorbilder dafür. Da gibt es gute und böse Geister im Überfluß, die guten, die dem Ormuz, und die bösen, die dem Ahriman zugeteilt werden. Zwar lehnen die Juden es ab, die Welt in solchen Dualismus zu zerreißen, aber sie bevölkern doch aus dem gestaltenden Trieb den Himmel mit Engeln und die Tiefe mit bösen Geistern, schaffen sich aus dem Garten Eden ein Paradies und aus dem Tale Hinnom eine Hölle. Beides bedeutet einen Rückschritt gegenüber der klaren geistigen Konzeption. Die Engel sind ein malerischer Überfluß und die bösen Geister ein Ausweg. Indem sie sie akzeptieren, haben sie die Möglichkeit geschaffen, die Entscheidung von sich weg in das dämonisch belebte All zu verlegen. Es ist ja das Entscheidende in dieser Epoche, daß die »Religion« nunmehr jedem einzelnen überlassen und anheimgegeben ist. Daraus, aus diesem Beladensein mit religiöser Verpflichtung und Verantwortung, aus diesem abschließenden Akt der Individuation kann erst die religiöse Problematik entstehen. In der wesentlichen dichterischen Ausdrucksform der Zeit, in den Psalmen, wird nicht nur die stolze Freude besungen, dieser Gemeinschaft anzugehören, sondern es wird auch von der Erfahrung des Einzelnen her geklagt, gezweifelt und gebangt. Und in einem überaus wichtigen Punkte, in dem sie ihre Umzäunung besonders hart und 118 schmerzlich empfinden, entlehnen sie wieder ein Element aus dem Kreise der eranischen Religion: im Begriff »jenseits«.

Schon in dem Buche Hiob, dessen Entstehung in der Zeit des babylonischen Exils wahrscheinlich ist, wird vergeblich und ohne Lösung das Problem aufgeworfen, warum ein Mensch, der nichts Unrechtes begangen hat, leiden müsse, während andere, die keiner Bösartigkeit ausweichen, ihr Leben in Freude und Wohlstand beschließen. Da sie ihren Gott nicht anders als gerecht denken können, suchen sie den Punkt, an dem seine Gerechtigkeit einsetzt. Sie finden ihn bei diesem Tatbestand nicht. Sie finden ihn nicht, so weit sie den Ablauf des irdischen Lebens und Geschehens überblicken können. Und weiter dürfen sie nicht blicken, denn ihre Religion lebt zwar in der wechselnden Einwirkung von Gott zum Menschen und vom Menschen zu Gott, aber sie hat die Erde als ihren Umkreis. Sich vor dem Himmlischen bewähren: ja. Aber hier, nicht dort; diesseits, nicht jenseits. Ist ein Leben abgeschlossen, dann ist es endgültig zu Ende. Es gibt da nichts mehr zu hoffen, zu büßen, zu reparieren. Im ursprünglichen Judaismus wird die Unsterblichkeit des Einzelnen verneint. Unsterblich ist nur das Ganze, die Gesamtheit, und zwar deshalb, weil es kosmisch gedacht und gesehen und erlebt ist. Jetzt aber, wo sie eine so hoch gespannte, so überaus verpflichtende und endgültige Ideologie realisieren müssen, gehen sie doch einen Schritt rückwärts. Unter dem Einfluß der eranischen Religion wird der Rückzug angetreten und der große Gedanke um so viel verkleinert, als die Schwäche des Einzelwesens und seine Furcht vor dem geringen Maß, mit dem man es gegenüber dem Begriff der Ewigkeit mißt, verlangen. Während die Engellehre für sie nur farbiges Beiwerk wird, nehmen sie eine Wiederauferstehung der Toten fast als Dogma auf. Sie kennen nicht das Fortleben des Individuums nach dem Tode. Aber zur Beschwichtigung aller Zweifel verlegen sie an das »Ende aller Tage« die Techiat ha'Methim, die Wiederauferstehung der Toten, als den 119 Vorgang und den Zeitraum, in dem der letzte Ausgleich für alle Unbill des Lebens sich vollziehen wird. Das ist ein Rückschritt, der nur zu begreifen ist durch die Intensität, mit der das persönliche religiöse Erleben sie überfällt und beherrscht. Aber in den Kreis ihrer Umzäunungen einbezogen, rundet es ihre Gesamthaltung ab, aus der sie jetzt in den Stand gesetzt werden, ihre große historische Begegnung mit dem Griechentum siegreich zu bestehen.

 


 


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