Josef Kastein
Eine Geschichte der Juden
Josef Kastein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In hoc signo . . .

Das Eindringen der Juden in Westeuropa und die Begründung von Niederlassungen kommt mit dem 8. Jahrhundert zu einem einstweiligen Abschluß. Die Stoßkraft der Bewegung aus dem Orient her verwandelt ihre Energie in Arbeit zum Ausbau. Das Judentum hält Umschau in der neuen Umgebung; beginnt sich zu orientieren; schätzt die Kräfte ab, mit denen oder gegen die es zu leben hat.

Von allem Anfang an ergibt sich eine sehr enge Basis ihrer Existenz. Sie sind auf die wirtschaftliche Prosperität verwiesen. Geistige Berührungspunkte mit der Umgebung bestehen nicht, soweit sie über ein freundschaftlich-nachbarliches Verhältnis hinausgehen. Wenn in Spanien noch die arabische Theologie Probleme bearbeitete, die den Juden berührten, so geschieht 354 hier in Westeuropa auf dem Gebiet des Geistigen nichts, was den Juden angeht. Der mittelalterliche Mensch der Umgebung war in jeder Beziehung, politisch wie wirtschaftlich, religiös wie kulturell in den Stadien eines ersten, sehr primitiven und sehr mit nackten Instinkten durchsetzten Anfanges. (Wir werden anläßlich der Besprechung der Kreuzzüge eine Analyse des mittelalterlichen Menschen versuchen.) Der Jude hingegen war schon Exponent einer langen Entwicklung, deren Problematik feststand und die nur noch anzuwenden, nicht aber mehr zu begründen war.

Doch selbst die wirtschaftliche Prosperität, die Aufrichtung und Fortsetzung der nackten Existenz, war nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen, sondern war in steter Abhängigkeit von dem jeweiligen Zustand der Umgebung, und zwar mehr vom politischen als vom wirtschaftlichen. Der wirtschaftliche Zustand eines Landes – mochte es Frankreich oder Deutschland oder England sein – war wohl eine wichtige Voraussetzung für die Tätigkeit der Juden, aber sie konnten auch diese Funktionen nicht erfüllen, wo ihnen die Politik entgegenstand. Denn von allem Anfang an besteht unter den Gewalten, die die damalige Welt beherrschten, der Kirche und dem Staat, der Streit darüber, als was man den Juden einzuordnen habe: als Ungläubigen, der unter der Botmäßigkeit der Kirche steht, oder als Landfremden, über den der Staat das Verfügungsrecht hat. Siegt die Kirche, so wird der Jude unter allen Umständen unterdrückt. Siegt der Staat, so ist zwar damit nicht das Gegenteil gewährleistet, aber doch die Möglichkeit gegeben, daß der Regent eben im Interesse der Staatsgewalt eine Schwächung der ihm zur Verfügung stehenden wirtschaftlich nützlichen Kräfte nicht zuläßt.

Diesen Standpunkt vertritt Karl der Große. Er ist Repräsentant einer staatsbildenden Idee. Darum nutzt er die Kräfte, die dafür dienlich waren. Er schätzt die Juden richtig als die bewegenden Kräfte des Welthandels ein. Ihre Beziehungen reichten 355 vom fränkischen Reich bis nach Indien und China. Sie hatten überall Stützpunkte in den über die Welt zerstreuten jüdischen Gemeinden, waren von ungewöhnlicher Sprachgewandtheit und eigneten sich vorzüglich für die Vermittlerrolle zwischen Orient und Okzident. Ludwig, Karls Nachfolger, betonte sowohl sein ausschließliches Recht auf die Juden wie seine Absicht, sie als aufbauende Kräfte des Staates zu schützen, durch Errichtung eines besonderen Systems der Vormundschaft. Er nahm einzelne Juden und ganze Gemeinden unter seinen persönlichen Schutz und verlieh ihnen Rechte, zu deren Beachtung er einen besonderen Magister judaeorum einsetzte. Mit irgendeiner Zuneigung zu den Juden hat dieses Verfahren selbstverständlich nichts zu tun; aber schon die politischen Motive genügen, um die Kirche dagegen auf den Plan zu rufen. Schon unter Karl dem Großen beschwerte sich Papst Stephan III. bei dem Bischof von Narbonne (im südlichen Frankreich): »Von Kummer ergriffen und zu Tode geängstigt, empfingen wir von dir die Kunde, daß das Judenvolk . . . auf christlichem Grund und Boden und in voller Gleichberechtigung mit den Christen Allodien in den Städten und Vorstädten sein eigen nennt . . . Christen und Christinnen wohnen unter einem Dach mit diesen Verrätern und besudeln Tag und Nacht ihre Seelen durch Worte der Gotteslästerung . . .« An den gleichen Adressaten wendet sich unter Ludwig der Bischof von Lyon: »Seltsam mutet es an, die unbefleckte, Christus anverlobte Jungfrau mit einer Hure bei gemeinsamem Mahl sitzen zu sehen. Ist es doch so weit gekommen, daß manche Christen, die mit den Juden versippt sind, auch deren Sabbat feiern . . .«

An solchen Äußerungen interessiert nicht der ungeschliffene, polternde Ton, sondern die Tendenz. Es wird die Parole ausgegeben, daß die Religion eines ganzen Volkes durch einige tausend Juden bedroht sei. Aber durch den Versuch, die Sklavengesetzgebung wieder zur Anwendung zu bringen, wird zugleich das wirtschaftliche Motiv solcher Hetze sichtbar. Nicht, daß die 356 Kirche es an sich auf die wirtschaftliche Position des Juden abgesehen hätte; sie hat es vielmehr auf die Existenz des Juden überhaupt abgesehen. Darum ist die Richtung, von der aus sie angreift, wechselnd. Immer aber bedient sie sich unter der Losung, die Religion sei in Gefahr, des gefährlichsten Werkzeugs: der ungebildeten Masse des Volkes. In Gehirne, die noch aufnahmebereit sind für alles, wird immer das gleiche Argument gehämmert. Es kann nicht ausbleiben, daß sie es eines Tages begreifen und aus Nachbarn zu Feinden des Juden werden. Damit hat die Kirche den einen überragenden Vorteil erreicht, daß solche Entwicklung und Einstellung der Volksmasse sich unabhängig von der jeweiligen politischen Situation behaupten kann. Das erweist sich in dem Zeitabschnitt nach der Teilung des fränkischen Reiches (843). Diese Teilung des Reiches bedeutet Aufteilung des früher einheitlichen Machtbezirkes und damit Minderung der staatsbildenden Idee, Beginn des Separatismus, Egoismus der Einzelherrscher. Das Lehenswesen gewinnt an Macht und schafft innerhalb des aufgeteilten Reiches wieder einzelne, kleinere Machtgebiete, in denen Grafen und Bischöfe die Gewalt haben. Diese kleinen Herrscher sind daran interessiert, ihren Bezirk nach Kräften fruchtbar zu machen. Die Juden bekommen, besonders in Südfrankreich und Deutschland, völlig freie Möglichkeit der Betätigung. Dafür wird natürlich aus ihnen herausgepreßt, was möglich ist, ohne sie zu ruinieren. Selbst für die Bischöfe besteht bei solcher Lage der Dinge ein religiöses Problem nicht mehr. Der Bischof Rüdiger von Speyer ist nicht der einzige, der sich um den Besitz von Juden ausdrücklich bemüht. Mit der Absicht, am Rhein ein neues Industriezentrum zu errichten, überläßt er den Juden besonderes Land zur Ansiedlung (1084). Er erklärt dabei, daß dies »der Gegend nur zu größerem Ruhm gereichen könne«.

Gleichwohl haben schon zu dieser Zeit die Judenverfolgungen als Ergebnis der kirchlichen Einwirkung eingesetzt. Unter dem Regime der Kapetinger werden in Frankreich (1007) schon 357 Juden ermordet und zwangsweise zur Taufe geführt, weil man ihnen vorwarf, sie hätten den Kalifen Hakim dazu angestiftet, Kirchen in Palästina zu zerstören. 1065 ziehen in Südfrankreich Freischärler gegen die spanische Grenze und ermorden Juden. Wenn man dem ersten Anstoß zu solchen Vorfällen nachgeht, trifft man fast ohne Ausnahme auf die verursachende Tätigkeit von Mönchen oder Priestern. Aber für sich allein genommen bedeuten solche Vorfälle nichts. Es ist vielmehr das Charakteristikum dieser ganzen mittelalterlichen Epoche, daß auf den Juden immer die Gesamtheit der Lebensverhältnisse aus der Umgebung her drückt, nie ein abgesonderter Teil davon. Das hat eine doppelte Folge. Es erschwert die Orientierung des Juden in der Umwelt außerordentlich. Die Kräfte, die mit politischer oder wirtschaftlicher oder religiöser Motivierung gegen ihn ausgespielt werden, kommen zuweilen aus ganz anderen Bezirken, und es ist nie sicher, ob die gleiche Konstellation in der Umgebung auch die gleiche Wirkung auf die Juden zeitigt. Aber was schlimmer ist: es macht den Juden wehrlos.

Nach innen, im Gefüge des Mittelalters, entwickelt sich zwar eine vielfache Schichtung. Es bildet sich die Lehensverfassung in ihrer letzten Konsequenz heraus, der Feudalismus wächst, es entstehen die Handelsgilden und die Zünfte. Aber dieser Schichtung im Gefüge des mittelalterlichen Lebens steht keine Differenzierung im Anschauungsvermögen des mittelalterlichen Menschen gegenüber, folglich keine Vergleichsmöglichkeit und keine Einsicht und kein Fortschritt. Das Leben des Mittelalters war seiner Potenz nach durchaus bereit, neue Formungen zu erzeugen und die Anfänge zu überwinden, in denen alles noch stak, Wirtschaft wie Politik wie Religion. Aber es war dem Menschen nicht vergönnt, diese Dinge zu erleben und zu gestalten, sie als ein Stadium oder als eine Stufe der Entwicklung zu begreifen. Wohin er sich auch wandte, trat ihm überall der gleiche Gedanke entgegen: der Staat steht unter der Kirche. Ist das der Fall, dann ist auch alles, was das 358 staatliche Gefüge aus sich entläßt, alle Politik und alle Wirtschaft, vom Religiösen gestreift, ist Erscheinungsform des Religiösen und ist als Religiöses hinzunehmen. Im Religiösen aber, wie es das Christentum dem mittelalterlichen Menschen vermittelte, war dem Dogma wie der Idee nach alles auf den Dualismus abgestellt: Papst gegen Kaiser, Kirche gegen Staat, Himmel gegen Erde, Christus gegen Satan. Da gab es kein Ausweichen. Alles, was an natürlichen, der menschlichen und geistigen Entwicklung fähigen Kräften in den Völkern steckte, wurde von der Kirche künstlich gestaut. »Die Sitten des Volkes ersetzten die Riten der Kirche, die heiligen Schriften vertraten die Geschichte des Volkes, die Feste waren die des kirchlichen Jahres, für jede geistige Äußerung hatte das heilige Latein die Stammessprache verdrängt und für die Gemeinschaft des Stammesblutes setzte die Kirche das Blut des Erlösers.« Es wurde nur ein einziger Weg in die Auflösung des Dualismus gewiesen: eine Kirche, die katholische; ein Kaiser, der vom Papst gekrönte; ein Recht, das römische; eine Wissenschaft, die Theologie; ein Ausdrucksmittel, der gotische Stil.

In diesem Rahmen ohne Freiheit und Ausgang hatte der Mensch zu leben. Wenn er sich äußern wollte, konnte er es nur ohne jede Differenzierung tun, weil er doch keine Vergleichsmöglichkeit hatte. In allem, was geschah, äußerte sich alles, was da zusammengepreßt lag. Und das ist den Juden zu einem grauenhaften Schicksal geworden.

Sie begriffen zunächst nur einzelne Wirtschaftsvorgänge in der Umgebung. Durch den Feudalismus wurden sie von Grund und Boden verdrängt. Durch die Zünfte wurden sie vom Handwerk ausgeschlossen. Durch die Handelsgilden wurde ihnen die kaufmännische Betätigung gemindert. Das alles waren Einzelerscheinungen, die sie nach besten Möglichkeiten auszugleichen suchten. Aber gegen das, was mit den Kreuzzügen über sie hereinbrach, waren sie völlig ohne Waffen. Es war nichts anderes als die Explosion von Menschen, die unter einem 359 übermäßigen Druck standen. Für den äußeren Anschein allerdings handelt es sich um eine Manifestation des christlichen Fanatismus. Aber das Christentum war hier nur Medium, wenn auch ein in hohem Maße verantwortliches. Es ist eine verhängnisvolle Verkettung, daß das Morden aus den Instinkten eines halb barbarischen Volkes hier und oft in der Folge im Namen des Christentums geschah.

Die Proklamation der Kreuzzüge geschah zur Befreiung Jerusalems von den Muselmanen. Man sagte ihnen nach, sie hätten die heiligen Stätten entweiht. Man verbreitete Gerüchte von massenhaften Opfern des muselmanischen und des jüdischen Fanatismus. Wer sich bereit erklärte, das Kreuz zu nehmen, galt als unverletzlich. Alle Sünden, auch die zukünftigen, waren ihm vergeben. Die Richtung dieses Unternehmens, dem Osten zu, gab ihm eine besondere Stoßkraft. Die religiöse Unruhe, die noch die gleiche war wie bei den Griechen, als sie den Zusammenbruch ihrer Götterwelt gewahrten, bekam ein Ventil. Die östlichen Elemente der christlichen Religion wurden wach, und der suchende Trieb wollte sie an ihrer Quelle aufspüren. Frömmigkeit und Enthusiasmus bekamen eine Wirkungsmöglichkeit. Die harte Glanzlosigkeit des mittelalterlichen Lebens sehnte sich nach der warmen, farbigen romantischen Auflockerung. War dem Frommen die Sündenvergebung wesentlich, so war es dem Bauern die Möglichkeit, sich vom Frondienst freizumachen; dem Ritter, sich Ruhm, Abenteuer und Beute zu verschaffen; dem Abenteurer und Verbrecher, sich ungefährdet und hemmungslos in Raub und Mord zu ergehen; und dem Klerus, seine politische Macht zu erweitern. Im ganzen waren die Kreuzzüge die Möglichkeit zu einer grandiosen Entfesselung von Ort, Zeit und Lebensdruck. Dabei werden auch die primitiven Instinkte entfesselt, das unsublimierte Tier im mittelalterlichen Menschen.

Noch ehe die Sammlung des Heeres beendet ist, bilden sich unter der Führung von Mönchen, Rittern und Abenteurern 360 Trupps und Scharen, die sengend, plündernd und mordend in Schwaben, Lothringen und an den beiden Rheinufern den inneren Kreuzzug eröffnen. Von Frankreich her, wo sie in Rouen die Juden totschlagen, die nicht die Taufe annehmen wollen, fallen irreguläre Kreuzfahrer über Flandern her in die Rheinprovinz ein. Zusammen mit einheimischen Christen überfallen sie zunächst die Juden von Speyer. Eine Reihe von Juden, die sich weigert, das Christentum anzunehmen, wird kurzerhand erschlagen. (3. Mai 1096.) Dann wird Worms angegriffen. Ein Teil der Juden erkauft sich vom Bischof Adalbert das Recht, sich in seinem Schlosse zu verteidigen. Gegen die anderen, Ungeschützten, Waffenlosen entlädt sich das Gemetzel. Die wenigen, die sich taufen lassen, werden verschont. Der Rest wird erbarmungslos massakriert, sofern er es nicht vorzieht, der Wahl zwischen einem grauenhaften Tod und einem mit Gewalt aufgezwungenen Glauben dadurch zu entgehen, daß er sich vorher selber umbringt. (18. Mai 1096.) Einige Tage darauf erklärt der Bischof den Juden in seinem Schloß, er könne sie nicht mehr schützen. Er rät ihnen, die Taufe zu nehmen. Die Juden erbitten Bedenkzeit. Wie die Frist verstrichen ist und die Tore geöffnet werden, stellt man fest, daß sich fast alle gegenseitig umgebracht haben. Den Rest metzeln die Kreuzfahrer nieder und schleifen die Leichen als Trophäen durch die Straßen. (25. Mai 1096.) Am nächsten Tage stehen Kreuzfahrer vor Mainz unter dem Grafen Emmerich. Der Bischof Ruthard verspricht den Juden Schutz in seiner Burg. Über 1300 Juden übergeben ihm ihr Vermögen und kommen vertrauensvoll zu ihm. Wie der Graf vor der Burg erscheint, weigern sich die Wachen, gegen die Kreuzfahrer zu kämpfen. Der Bischof sucht das Weite. Die Kreuzfahrer können eindringen. Ein Teil der Juden wird getötet. Der größere Teil, Männer, Frauen, Kinder, tötet sich gegenseitig. Der Bischof und der Graf teilen sich das Vermögen der Juden. (27. Mai 1096.)

Am 30. Mai wird Köln angegriffen. Aber die Bürger und der 361 Bischof (Hermann III.) verbergen die Juden. Die Kreuzfahrer müssen sich mit der Zerstörung der jüdischen Häuser begnügen. Wie einige Wochen darauf die Zufluchtsstätten der Juden entdeckt werden, beginnen neue Massenmorde und Zwangstaufen. Die Zahl der Selbstmorde steigt erschreckend. (24. Juni bis 1. Juli 1096.)

In Deutschland rührt sich keine Hand gegen diese Vorgänge. Die meisten Chronisten verschweigen sie. Vielleicht schämten sie sich.

Die Morde pflanzen sich ungestört mit dem Zug der Scharen fort. Aufzeichnungen darüber liegen vor aus Metz, Regensburg, Prag und anderen Orten Böhmens. Albert von Aachen, einer der wenigen christlichen Chronisten über diese Vorgänge, vermerkt: »Und nun setzten, beladen mit der jüdischen Beute, Emicho, Clarebold, Thomas und diese ganze unerträgliche Gesellschaft von Männern und Weibern ihre Fahrt nach Jerusalem fort . . .« Sie wurden erst an den Grenzen Ungarns von dem König Koloman als Räuber und Plünderer zurückgeschlagen und zerstreut.

Insgesamt sind in der Zeit von Mai bis Juli 1096 in den Rheinprovinzen rund 12 000 Juden getötet worden. Schon einer wäre zu viel gewesen. Aber es kommt nicht auf die Zahl an. Die Juden sind größere Zahlen gewohnt. Wichtig ist vielmehr, festzustellen, welche Einwirkung auf die seelische Verfassung von lebendigen Menschen diese Vorgänge gehabt haben; und insbesondere: welches der innere Zustand eines Menschen gewesen sein muß, der sich lieber selbst umbringt, ehe er sich von einem christlichen Kreuzfahrer auch nur anrühren läßt. Denn diese massenhaften Selbstmorde, dieses grauenvolle Schlachten mit dem Messer, von Mensch zu Mensch, von der Mutter am Kind vollzogen, dieses In-die-Flammen-Springen, dieses Sich-ins-Wasser-Stürzen, einen Stein um den Hals gebunden, ist ein seelisches Phänomen. Zwar der mittelalterliche Mensch war nicht verantwortlich dafür, daß man seine Instinkte 362 aufpeitschte und jeden Beginn menschlicher Haltung in das Tierische zurückriß. Aber vor der Begegnung mit dieser Tierhaftigkeit weicht der Jude in den Selbstmord aus. Diese Selbstmorde sind wie eine Gebärde übermäßigen Ekels vor der Berührung mit Mordbrennern, die das Signum des Kreuzes auf dem Gewande tragen. Doch war das nur die eine Reaktion, die aus dem Gefühl und von den Nerven her. Es gab eine andere, die tiefer begründet lag. Der Talmud schreibt dem Juden vor, daß er wegen dreier Hauptsünden, die ihm aufgezwungen werden sollen, den Märtyrertod erdulden müsse: wegen Götzendienst, wegen Unkeuschheit und wegen Mord. Daran hat sich der Jude gehalten. Für ihn war das Christentum Götzendienst. Die Anbetung von Bildern, die Verehrung toter Gegenstände als Reliquien war für ihn heidnischer Kult, und selbst das Beten zu Heiligen begriff er nur aus dem Vergleich mit der Anbetung heidnischer Heroen und Halbgötter. Da war im übrigen in den Äußerungsformen der christlichen Kirche nichts, was ihn zu objektiver Vergleichung oder auch nur zum Respekt hätte zwingen können. Sollte es etwa Eindruck auf ihn machen, daß der Papst Völker vom Eide gegen ihre Obrigkeit entband, daß er sie zum Kaisermord aufforderte? Sollte ihm diese ungebildete, habsüchtige und in ihrer Lebensführung weitgehend verkommene Geistlichkeit Achtung abnötigen? Oder etwa eine kirchliche Erziehung, die nicht verhindern konnte, daß im Namen der Religion der Liebe Mord und Leichenschändung geschahen? Und sollten sie wirklich einsehen können, daß man für den Tod Jesu ein Jahrtausend lang das Gesetz der Blutrache in Geltung halten müsse und jeder Gassenjunge Vollstrecker eines religiösen Auftrags werden dürfe? Niemand stirbt willig für eine Sinnwidrigkeit; und es ist sinnwidrig, Jesu Tod als notwendigen und wichtigen und erlösenden Akt in einer Glaubenslehre zu verankern und gleichwohl für diesen Akt, mit dem das Lehrgebäude steht und fällt, immer wieder durch Jahrhunderte Menschen zu ermorden. 363

Alldem hat der Jude nur eines entgegenzusetzen: die Treue. Er besiegelt seine Treue zu Gott durch den Opfertod. Er tut es für den Kiddusch ha'schem, um der Heiligung des Namens Gottes willen. Er tut es willig, wenn auch nicht freudig. Denn mit dieser Katastrophe ist der letzte Funke von Lebensfreude im Juden erschlagen. Es wächst ein dumpfes, verängstigtes Geschlecht heran, das immer mißtrauisch nach dem nächsten Unheil ausspäht. Es meldet sich mit den Vorbereitungen zum zweiten Kreuzzug. Das »Königreich Jerusalem«, dieses unorganische Produkt einer religiösen Politik, war in Gefahr. Man brauchte eine neue Armee, um es zu schützen. Papst Eugen III. erläßt eine Bulle und verspricht den Teilnehmern, daß sie ihren Gläubigern für entliehene Kapitalien keine Zinsen zu zahlen brauchten, wenn sie das Kreuz nähmen. Damit ist ein mehrfach gottgefälliges Werk getan, denn er gewinnt nicht nur Streiter für die heilige Sache, sondern schädigt auch die Juden. Aber nach der Richtung hin überbietet ihn der Mönch Peter von Cluny. Er schlägt vor, das gesamte Vermögen der Juden für die Finanzierung des Kreuzzuges einzuziehen. Es ist nicht dazu gekommen. Trotzdem hat der Kreuzzug, noch ehe er begann, die Juden den größten Teil ihres Vermögens gekostet. Zwar kam es nicht mehr zu solchen generellen Metzeleien wie beim ersten Kreuzzug. Die Könige in Frankreich verhinderten aus Gründen der Staatsräson derartige, besonders für die königliche Schatzkammer schädliche Unruhen. Auch in Deutschland wehrte sich Konrad III. dagegen; aber er besaß keine Autorität. Die wirkliche Herrschaft über das Volk hatte der Mönch. Der wirksamste Vertreter war der Mönch Rudolph. Er zieht im Lande umher und predigt Ausrottung der Juden oder ihre Bekehrung. 1146 setzen infolge seiner Tätigkeit am Rhein wieder Überfälle gegen die Juden ein. Die Juden erkaufen sich von den feudalen Herren gegen Zahlung ungeheurer Summen das Recht, sich in festen Plätzen gegen das Totgeschlagenwerden zu verteidigen. Aber wer von ihnen auf den Landstraßen 364 angetroffen wird, wird niedergemacht. Die Propaganda des Mönchs Rudolph steigert sich so, daß selbst die Kirche sich endlich veranlaßt sieht, ihm seine Tätigkeit zu untersagen. Sie hat trotzdem nicht verhindern können, daß es im Februar 1147 zu Metzeleien und Zwangstaufen in Würzburg kam. Ihr Protest gegen Rudolph hatte nur ein geringes Gewicht gegen die Saat, die sie seit Jahrhunderten ausgestreut hatte. Sie muß sich also auch die böse Ernte anrechnen lassen.

Diese Ernte nähert sich in der Zeit zwischen dem zweiten und dritten Kreuzzug der Reife. Schon taucht die Blutanschuldigung auf. Das, was früher die Römer den Christen vorwarfen, daß sie das Blut von Heiden beim Abendmahl benützten, wirft jetzt der Christ dem Juden vor: er nehme Christenblut für das Passahmahl. In Blois beginnt es. Ein Jude wird von einem Knecht beschuldigt, die Leiche eines christlichen Knaben in den Fluß geworfen zu haben. Der Richter prüft die Anklage genau: er setzt den Ankläger in einen mit Weihwasser gefüllten Kahn. Der Kahn geht nicht unter. Dadurch ist die Schuld des Juden bewiesen. Da die Juden es ablehnen, sich taufen zu lassen, werden (am 26. Mai 1171) 38 Juden in einen hölzernen Turm gesperrt und verbrannt. Dieser Fall sei mitgeteilt als Paradigma für alle anderen und späteren. Sie unterscheiden sich voneinander nur durch Details in der Grauenhaftigkeit der Ausführung. Daß solche Blutbeschuldigungen entstehen konnten, beruht zwar sicherlich auf der niedrigen Kulturstufe des mittelalterlichen Menschen und hat vielleicht seine Wurzel in einer erotischen Variante altheidnischer Vorstellung vom Opfertode; aber die Betätigung dieses Triebes und die Zielrichtung kommen aus dem religiösen Haß, den die christliche Kirche gezüchtet hat. Sonst hätten die Ritualmordprozesse nicht bis in das 20. Jahrhundert hinein gedauert.

Dieser Haß verfolgt die Juden, wohin sie auch kommen. Mit ihm verpflanzt sich die Blutbeschuldigung auch nach England. Dorthin sind die Juden in größerer Zahl nach der 365 normannischen Eroberung (1066) ausgewandert. Die Kreuzzüge lassen weitere Scharen folgen, zumal hier eine wirtschaftliche Möglichkeit lockt. Die normannischen Eroberer wünschten ihren Tribut in barem Gelde zu erhalten. In einer Bevölkerung, die sich in feudale Herren und Leibeigene aufteilte, fehlte aber die vermittelnde und realisierende Finanzkraft. Darum wurde die Einwanderung der Juden begünstigt. Sie bekommen von Heinrich I. (1100–1135) einen sehr weitgehenden Freibrief, müssen dafür aber dem König von jedem Handels- und jedem Kreditgeschäft eine Abgabe zahlen. Zuweilen erpreßt er auch große Summen von ihnen, so im Jahre 1130 die Summe von 80 000 £ heutigen Wertes. Stirbt ein Jude, dann beerbt ihn der König. Die gewaltigen Anforderungen der Regierung muß der Jude durch enorme Zinsen ausgleichen. Je mehr die Könige sie ausplündern, desto mehr plündern sie ihre Schuldner aus, bis sie dem Volke nur noch als die verhaßten Geldgeber erschienen.

Auch diese wirtschaftliche Spannung wird auf das religiöse Gebiet geleitet, wie die Normandie, Anjou, Maine und Bretagne an England fallen und der französische Klerus so die engere Fühlung mit dem englischen aufnehmen kann. Plötzlich ist auch die Blutbeschuldigung da. Ist nicht aufzuklären, wie ein Mensch umgekommen ist, so hat es der Jude getan. Der Tote wird zum Märtyrer. Reliquien entstehen und neue Andachtsstätten. Das religiöse Geschäft blüht.

Wirtschaftliche Spannungen und kirchliche Hetze ergeben dann bei der Krönung Richards I. Löwenherz (3. September 1189) und bei seinem Auszug zum dritten Kreuzzuge die ersten systematischen und großangelegten Judenmassaker und Judenselbstmorde. Damit ist das Niveau der übrigen Länder auch in England erreicht.

Für die deutschen Juden verläuft der dritte Kreuzzug ohne besondere Erschütterung. Friedrich Barbarossa hatte die rheinischen Juden vorsichtshalber bis zum Abzug der heiligen 366 Streiter in verschiedenen Burgen untergebracht. Selbstverständlich kostete das die Juden ein Vermögen. Das Verhalten Barbarossas lag im übrigen im Rahmen seines Kampfes gegen die Kirche um die Freiheit des Staates von der kirchlichen Bevormundung. Wieder spielt, wie schon zur Zeit der Karolinger, die Frage hinein, ob die Juden dem Staate oder der Kirche unterständen. Barbarossa erhebt den staatlichen Anspruch unter Benützung und Ausbau der Idee, daß schon die römischen Kaiser die Vormundschaft über die Juden ausgeübt hätten und dieses Amt auf die deutschen Kaiser als Rechtsnachfolger der römischen übergegangen sei. Die Juden sind also nicht Untertanen, sondern Mündel, Schützlinge. Sie stehen nicht unter dem Gesetz, sondern unter Protektion. Sie gehören, wie Barbarossa sagt, »unserer Hofkammer« an. Daher leitet sich die Bezeichnung Kammerjude ab. Es ist der Beginn der Verdinglichung, wie Friedrich II. sie vollendet hat. Die Juden waren Gegenstand geworden.

Sie hatten dafür kein Gefühl. Die juristische Konstruktion ihres Daseins interessierte sie nicht. Es interessierte sie nur die Frage, wie dieses mörderische Unglück über sie hatte kommen können. Man hat versucht, die Ereignisse der deutschen Kreuzzüge als Schuld der Juden umzudeuten, als Folge ihres Geldhandels. Das trifft nicht zu. Dafür bestand in ihrer damaligen Wirtschaftslage weder ein Anhalt noch ein Anlaß. Und sie waren schließlich auch in aller relativen Freiheit noch Objekte, nicht Subjekte des Geschehens. Aber sie selbst nahmen die Schuld auf sich, in einem ganz anderen und viel tieferen Sinne. Die Völker sind verschieden begabt, um auf Unglück zu reagieren. Die einen antworten mit dem Ressentiment und mit dem Haß auf die Urheber; die anderen antworten mit Einkehr in sich selbst. Zu jenen gehören die Deutschen; zu diesen die Juden. Sie begreifen erneut: Unglück ist Schuld; nicht Schuld gegen den anderen, sondern gegen sich selbst oder gegen die religiöse Verpflichtung, gegen Gott. Vor dieser Erkenntnis ziehen sie sich immer tiefer in den Bezirk des Gebetes und der Buße 367 zurück. Eine vermehrte Frömmigkeit engt das Leben ein. Es konnte keine fröhliche, keine innerlich heitere Frömmigkeit werden, sondern eine düstere, mit Schwermut behangene, mit Askese belastete, eine Frömmigkeit der Elegien, eine Selbstgeißelung durch verschärfte, umschnürende und abgrenzende Gesetze. Sie flüchten in den Talmud. Sie berauschen sich am Pilpul und an der Kasuistik; sie nähern sich, da ihr Gefühl keinen Eingang mehr findet in das Leben des Alltags, den mystischen Bezirken. Nur da, wo sie ihren Toten, den wahren Märtyrern, in den Martyrologien ein Denkmal setzen, bricht in der Erinnerung an das unmenschliche Morden die geschändete Kreatur in Worte ohnmächtigen Hasses aus. So werden ihre Dichtungen ohne Schönheit; aber dafür sind sie von einer grauenvollen Tatsächlichkeit.

Was konnte ein solches Volk mit solcher seelischen Grundstimmung an kulturellem Gut aus sich entlassen? Weder etwas Neues noch etwas Originäres. Von keiner Kultur der Umgebung gebunden und angeregt, aber tausendfach unter dem Druck der sie umgebenden Unkultur, versuchen die deutschen und die französischen Juden unter sich eine kulturelle Einheit herzustellen. Frankreich wird das geistige Zentrum auch für Deutschland. Während Südfrankreich noch von dem freien Leben Spaniens profitieren kann, werden Mittel- und Nordfrankreich Stätten vermehrten talmudischen Studiums. Wie einstmals über der Mischna die Gemara erwuchs, aus Deutungen, Auslegungen und Ergänzungen, so entlassen die französischen Talmudschulen aus sich Zusätze zur Gemara, Tossafoth. Man nennt sie daher Tossafisten. Aus diesen Schulen einer extremen konservativen Haltung gehen zahlreiche Rabbiner für Frankreich, Deutschland und England hervor. Sie werden zu Trägern eines engen, bedrückten, wenn auch scharfsinnigen Geistes; eines Geistes, an den ein von der Welt zurückgeschreckter Jude sich klammern und in dem er eine unstörbare Fiktion der Welt finden konnte. 368

Freilich: für das Gemüt konnte dieser Geist keine Kraft freimachen. Die ewige Zweiteilung zwischen Halacha und Haggada, zwischen Gehirn und Herz, tritt verdoppelt auf. Volkstümliche Schriften kommen auf, wunderliche Mischungen von Religiosität und Aberglaube, von Lebensweisheit und Dämonenfurcht, von hoher Sittlichkeit und Gespenstergeschichten. Solche Bücher werden zur Lieblingslektüre des mittelalterlichen Juden. Sie zeigen, wie verschlossen und verängstigt und verwirrt er war . . . und wo er sich Trost suchte. Aber in einem verborgenen Winkel seiner Seele hauste doch ein Vorwurf gegen Gott. Aus dem Hymnus: »Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?« wandelt er das Wort »unter den Göttern«: ba'elim, zu ba'ilmim, und nun heißt es: »Wer ist wie du, Herr, unter den Stummen . . .«

 


 << zurück weiter >>