Maurus Jókai
Schwarze Diamanten
Maurus Jókai

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Adieu.

Die Bekannten erwarteten in Graf Stefans Wohnung die Nachricht vom Ausgang des Duells. Die Sekundanten beider Parteien hatten versprochen, gleich nach dem Duell hinzueilen.

Sämtliche Habitués der Gesellschaft waren anwesend.

Es wurden Wetten über das Resultat gemacht: – wer eine Wunde erhalten, ob auch Salista ein Denkzeichen mitbringen, ob es eine schwere Verwundung oder nur eine konventionelle Aufritzung geben werde.

Graf Stefan hatte den Mut, zehn gegen eins zu wetten, daß »auch« Salista eine Wunde erhalten werde, ja er riskierte eins gegen eins, daß gerade Salista die schwerere Wunde davontragen werde.

Darauf, daß Iwan mit heiler Haut davonkommen werde, hätte man hundert gegen eins wetten können und niemand in der Gesellschaft hätte sich auf diese Wette eingelassen.

Die Vorposten schauten fortwährend zum Fenster hinaus, um die Wagen kommen zu sehen.

Endlich blieb ein Fiaker vor dem Tor stehen.

Edmund und Géza sind angekommen! lautete die Meldung. »Dann habe ich gewonnen,« sagte Graf Stefan; »von der Partei, welche die leichtere Wunde hat, können die Sekundanten früher fortkommen.«

Graf Edmund ging die Damen benachrichtigen, während Graf Géza in die Wohnung des Grafen Stefan hinaufeilte.

Er riß die Tür auf und stürzte mit dem Triumph eines Sekundanten unter die Gesellschaft, indem er rief: »Er hat ihn in die Pfanne gehauen!«

»Wer? Wen? Iwan? Salista?« fragten sie, ihn umdrängend.

»Iwan den Marquis Salista.«

»A-a-ah!« erscholl der leugnende Aufruf des Unglaubens.

»Aber ja!« beteuerte der junge Graf; »er hat ihn zu Gulaschfleisch zerstückt.«

»Und Iwan?«

»Ist ebensowenig verwundet wie ich.«

»Ah, du machst dich über uns lustig.«

»Das ist kein Gegenstand zu Scherzen. Fragt nur Salista.«

»Wo ist aber dann Iwan?«

»Er wird gleich dasein und den Ungläubigen keine Wunde zeigen, in welche sie ihre Finger stecken könnten; er begleitet nur seinen Arzt nach Hause. An Salista haben zwei Aerzte gearbeitet, bis es ihnen gelang, ihn zusammenzuflicken.«

Hierauf erzählte er umständlich, wie alles vor sich gegangen sei. Dem Baron Eduard, der die Sache nicht begreiflich finden wollte, demonstrierte er mit Hilfe zweier Spazierstöcke den Hergang des Duells. So kam der Doppelhieb, so passierte er den Bauchhieb, so gab er den Vorderhieb, so machte er den a tempo contre coup. Ihm selbst sei kein Haar gekrümmt worden.

»Ah, das ist ein wahres Wunder!«

»Kein Wunder,« protestierte Graf Géza; »er ist ja Soldat gewesen, ein Husarenkapitän. (Er machte ihn schon zum Kapitän.) Er hat in der ganzen Revolution mitgefochten, er war in neunzehn Schlachten und schlug sich auch mit den Kosaken. Er hat auch ein Verdienstzeichen erhalten.«

Von dem allen hatte er zwar von Iwan nichts gehört, aber er dachte sich es als sehr natürliche Illustration dazu; wen man einmal liebgewonnen hat, den überhäuft man mit allen Ehren.

»Ein wunderbarer Mensch!« seufzte Baron Oskar auf; »drei Monate ist er täglich mit uns zusammen und bringt nicht ein einziges Mal seine Kriegserlebnisse vor. Er hört zu, wie andere von den 1849er Ereignissen sprechen und verrät mit keinem Wort, daß auch er etwas davon weiß.«

»Na, jetzt haben wir uns diesen Menschen schön auf den Hals geladen,« seufzte Baron Eduard; »wir wollten ihn fortsprengen und haben ihn nur in den Sattel gehoben. Jetzt bleibt er uns auf dem Hals sitzen. Jetzt soll jemand mit ihm reden!«

»Herr Gott von Sachsen!« fuhr Baron Oskar fort; »wie wird der jetzt die Nase hoch tragen, wie wird er sich über uns hinwegsetzen, wie werden die Frauen ihn bewundern und die Männer respektieren! Sacrebleu! der so schießen und fechten kann. Aber ich möchte wetten, daß ihm nur der blinde Zufall geholfen hat.«

»Und ich fürchte das Gegenteil,« sagte Graf Stefan; »ich glaube, daß Iwan euch jetzt sitzen lassen, für die Freundschaft danken und dann nie mehr den Fuß über unsere Schwelle setzen wird.«

»Ah! diese Dummheit begeht er nicht, ich wette hundert gegen eins!«

»Aber erst bezahlt mir die eben verlorene Wette.«

Baron Eduard griff in die Tasche, doch bevor er die Brieftasche herauszog, kam ihm ein rettender Gedanke.

»Wie aber, wenn Géza und sein Mitsekundant uns nur eine Komödie vorspielten? Sie haben für uns ein schönes Märchen ersonnen, und zuletzt hat das Duell gar nicht stattgefunden, sondern sie haben die Gegner miteinander ausgesöhnt und kommen jetzt vom Luncheon, wo kein Blut sondern Champagner floß.«

»Wenn du es nicht glaubst, so fahre zu Salista. Mein Wagen ist unten. Geh und überzeuge dich.«

Baron Eduard stürzte fort; während dieser sich entfernte, kam Graf Edmund von den Damen herauf. Er fragte, wohin Eduard eile.

»Er glaubt nicht, was Géza erzählt.«

»Dann ist es Géza mit euch ebenso ergangen wie mir mit den Damen. Die glauben mir auch nicht. Sie fragen, wo denn also Iwan sei, wenn ihm nichts geschehen ist. Theudelinde vergießt Tränen in Strömen und flucht uns, weil wir Iwan gewiß getötet haben. Weiß der Kuckuck, welche, aber eine der beiden Damen muß in Iwan verliebt sein. Bisher habe ich es gewußt, aber jetzt weiß ich nicht mehr, welche es ist.«

Bald darauf kehrte Baron Eduard zurück.

Er sprach nichts, sondern nahm nur die Brieftasche heraus und bezahlte Graf Stefan die Wette.

Das war eine sehr ernste Antwort.

»Nun? nun? wie geht es Salista?« fragte man ihn.

»Er ist schrecklich zugerichtet.«

Hierauf bezahlte jedermann seine verlorene Wette.

Sie taten es mit saurer Miene. Hätte doch lieber der Ritter Magnet den Kopfhieb bekommen!

Da kam Iwan an.

Die saueren Gesichter wandten sich plötzlich mit freundlichem Lächeln ihm zu und begrüßten ihn; alle schüttelten ihm nach der Reihe die Hand.

Iwans Gesicht war ernst und milde.

Zuletzt drückte ihm Graf Stefan die Hand und sagte: »Ich freue mich aufrichtig, Sie unversehrt zu sehen.«

Zwei junge Herren raunten sich einander hinter seinem Rücken zu: »Er hat leicht sich freuen, denn er hat uns bei diesem Handikap tüchtig ausgesackt.« – Aber trotzdem freuen sich auch die Verlierenden.

Alles freut sich.

Vielleicht nur Iwan selbst nicht.

»Ich danke herzlich für diese freundliche Teilnahme,« sagte Iwan ohne pathetische Deklamation. »Besonders aber danke ich Ihnen, Herr Graf, für die freundliche Aufnahme und die liebenswürdige Freundschaft, mit welcher Sie meine Wenigkeit auszeichneten. Ich werde dafür stets ein dankbares Andenken bewahren. Ich bitte, bewahren Sie mir auch ferner Ihr Wohlwollen, denn ich bin jetzt gekommen Abschied zu nehmen. Morgen reise ich nach Hause.«

Der Graf zwinkerte mit dem Auge nach Baron Eduard, als wollte er sagen: Habe ich es nicht gesagt!

Und mit keinem Wort strebte er Iwan zurückzuhalten.

»Seien Sie überzeugt,« sprach er, ihm die Hand drückend, »daß ich Sie aufrichtig schätze, und wo immer wir zusammentreffen mögen, betrachten Sie mich als Ihren alten Freund. Gott segne Sie.«

Aber Baron Eduard wollte die Sache ganz anders auffassen; er hielt Iwan mit beiden Händen am Arm fest. »Daraus wird nichts, daß du uns jetzt durchgehst. Einen so guten Kameraden lassen wir nicht so leicht los, um so weniger jetzt, wo du der Löwe der Saison bist. Du kommst von hier nicht fort, du bist jetzt unser Ehrenpräses.«

Iwan lächelte hierauf. Sanfter Sarkasmus, stiller ironischer Schmerz, männliche Bitterkeit lagen in seinem Lächeln und er sagte leise zu Eduard: »Ich danke, Kamerad, für die Ehre. Aber ich tauge nicht zum Gouverneur von Barataria. Für mich ist's besser, zu Hause zu sein. Ich gehe meinen Grison satteln und reite nach Hause.« (Wer im Don Quichotte geblättert hat, wird sich an die Scherze auf der Insel Barataria und an das rührende Zusammentreffen des Esels mit seinem Herrn erinnern.) Hiermit verneigte er sich vor der ganzen Gesellschaft und entfernte sich.

Graf Stefan ging ihm nach und trotz alles Sträubens begleitete er ihn Arm in Arm die Treppe hinab bis zu Theudelindens Tür. Ihn berührten Iwans letzte Worte nicht.

Als er zurückkehrte, fand er die ganze Gesellschaft noch in dem verdrießlichen Gemütszustande, welchen die letzte Szene hervorgerufen.

»Aber wer unter uns war es,« brach endlich Baron Eduard aus, »der ihm die Persiflage mit der Insel Barataria verraten hat?«

Alle gaben ihr Ehrenwort, daß sie es nicht getan haben.

»Der Teufel soll mich holen, wenn nicht der Herr Abt es ihm verraten hat!« sagte Graf Géza.

»Aber Freunde, dieser Mensch kommt darauf, auch ohne daß man es ihm sagt,« meinte Graf Stefan, »denn er achtet auf alles, nur verrät er nicht, daß er etwas bemerkt hat.«

»Ich schwöre darauf, daß der Pfaffe es ihm zugeraunt hat.«

(Wir schwören auf nichts, aber gewiß ist, daß Abt Samuel vor einigen Tagen aus Wien einen Brief erhielt, in welchem geschrieben stand: »Was macht ihr dort unten für Dummheiten? Du verdirbst alles! Dieser Berend söhnt die Komtesse mit dem Alten aus. Mache, daß er von dort fortkommt, denn er arbeitet gegen uns! – Felix.«)

»Ja! Den haben wir von hier fortgesprengt!« sprach Graf Edmund. »Aber meine schöne Cousine wünschte es ja, daß er gehe; und darum geht er.«

»So ist es!« sagte Graf Stefan, »aber ich sehe noch etwas anderes voraus; dieser Mensch wird dort unten bei den Damen sagen, daß er geht, und deine schöne Cousine wird aufstehen und erwidern: Dann gehen wir beide!«

»Ah! Ah!« scholl es im Ton des Unglaubens in der Gesellschaft, aber Edmund zuckte die Achsel.

»Das ist wahrhaftig möglich.«

Ist es möglich?

Edmund blickte mit der Miene eines Pontius Pilatus darein. Jetzt ist die Zeit der faits accomplis. Europa hat sich heutzutage schon in größere Eroberungen gefügt. Wenn ein Mann, der nichts als sein rotes Hemd hatte, die beiden Sizilien erobern konnte, warum sollte ein Mann im schwarzen Hemd nicht die fürstliche Herrschaft Bondavár bekommen können?

»Enfin, was wird daran Schlechtes sein?. Der Junge ist ein ganz guter Gentleman. Er war Soldat und ist von Adel. Sein Besitz grenzt an die Bondavárer Herrschaft! Er hat ein Vermögen im Wert von zweimalhunderttausend Gulden, Angela hat eine Erbschaft von zwanzig Millionen zu erwarten. Aber wenn der Himmel unseren Onkel Theobald noch zehn Jahre leben läßt und er noch weiter mit so ausgezeichnetem Erfolg wirtschaftet, so kann es noch kommen, daß zwischen den Vermögensumständen Iwans und Angelas partie égale sein wird. Was aber den Titel anbelangt – wenn das Ministerium mit unseren Adelsvorrechten noch weiter so umspringt und unter dem parlamentarischen Regime der Bauernrock noch weiter so im Kurse steigt, so werde ich darum bitten, daß man mich in den Bauernstand erhebe.«

Die Gräfinnen empfingen Iwan als intimen Bekannten in Theudelindens Privatgemach.

Als er bei ihnen eintrat, war er ungewöhnlich befangen. Blässe und der Ausdruck der Rührung machten seine harten Züge interessant.

Theudelinde ging ihm entgegen und streckte ihm schon von weitem beide Hände hin, worauf sie ihm die seinen warm drückte. Ihre Lippen zitterten, die Stimme versagte ihr, sie bemühte sich ihre Tränen zu unterdrücken, dann winkte sie Iwan stumm, am Tisch Platz zu nehmen, auf dessen Mosaikplatte ein prächtiger Blumenstrauß in einer Majolika prangte, Theudelinde setzte sich zu ihm auf das Sofa, ihr gegenüber nahm Komtesse Angela Platz.

Komtesse Angela war heute ungewöhnlich einfach gekleidet; es fiel ihr nicht einmal ein, eine Blume ins Haar zu stecken, was ihr doch sonst so gut stand. Sie war sehr ernst und erhob ihre Augen nicht zu Iwan.

»Welche Sorgen haben wir um Sie ausgestanden!« sagte endlich Theudelinde, als sie wieder sprechen konnte; »Sie können sich nicht vorstellen, welche Qual und Angst wir die zwei Tage hindurch empfanden.«

Angela schlug die Augen nieder. Auch sie war in dem Wörtchen »wir« einbegriffen.

»Ich werde es mir nie verzeihen, Gräfin,« sprach Iwan, »insofern auch ich an dieser Aufregung schuld war; die Buße wird auch sogleich folgen, die ich mir für meine Sünde auferlegt habe. Morgen verbanne ich mich ins Bondatal.«

»Ah!« seufzte die überraschte Gräfin. »Sie wollen uns verlassen? Und was wollen Sie im Bondatal tun?«

»Ich werde mein vernachlässigtes Gewerbe fortsetzen.«

»Und sind Sie gern im Bondatal?«

»Ich bin dort ruhig.«

»Haben Sie dort Verwandte?«

»Niemanden.«

»Eine Haushaltung?«

»Soweit ich sie selbst versehen kann.«

»Bekannte, nach welchen Sie sich sehnen?«

»Nur meine Arbeiter und meine Maschinen.«

»Sie leben dort also wie ein Einsiedler?«

»Nein, Gräfin, der Einsiedler ist allein.«

»Und Sie?«

»Wir sind immer unser zwei, ich und meine Arbeit.«

Die Gräfin nahm sich zu einer feierlichen Aeußerung zusammen.

»Herr von Berend! Geben Sie mir die Hand! Bleiben Sie hier!«

Iwan erhob sich von seinem Sitz und verneigte sich tief.

»Die Huld, die sich in Ihren Worten kundgibt, wird mir stets in angenehmer Erinnerung bleiben; Ihre Worte beweisen mir, wie unerschöpflich Ihre Güte ist, nehmen Sie meinen Dank dafür.«

»Also, wie lange bleiben Sie?«

»Bis morgen früh, gnädige Gräfin.«

»Ah!« sprach diese unwillig, »wenn ich Ihnen sage, daß Sie bleiben sollen!«

Und dieser Unwille war so aufrichtig, so wahrhaftig, daß es Iwan unmöglich war, auszuweichen. Theudelinde blickte auf Komtesse Angela, als ob sie erwartete, daß auch diese ihr zu Hilfe komme. Angela aber schlug ihre langen Seidenwimpern gar nicht auf, sondern zerpflückte den roten Kelch einer Rudbekkia, wie um das Blumenorakel zu befragen.

»Gräfin!« sprach Iwan aufstehend und den Stuhl auf die Seite rückend; »wenn ich auf eine so freundliche Einladung zu bleiben, antworte, daß ich dennoch fortgehe, so fühle ich wohl, daß ich dafür Gründe angeben muß, deren Gewicht es rechtfertigen kann, wenn ich von der Huld, mit welcher Sie mich überhäufen, keinen Gebrauch mache. Ihnen kann ich nicht antworten, was ich meinen übrigen Bekannten sage: daß ich zu tun habe, daß ich schon zu lange hier bin, daß ich bald wiederkomme. Ihnen muß ich sagen, daß ich fortgehe, weil ich hier nicht bleiben kann, daß ich gehe, um nicht wiederzukehren. Gräfin, das ist nicht meine Welt, das ist kein Kreis, in dem ich leben kann. Seit einem Vierteljahr bin ich in diesen Zirkeln ein täglicher Gast, ich habe mit den Mitgliedern der hohen Gesellschaft gelebt, wie sie es gewohnt sind. Ich gebe zu, daß die Mitglieder dieses Kreises ein Recht und Grund genug haben, so zu leben, wie sie es tun. Aber ich habe kein Recht dazu. Ich bin an eine andere Lebensweise gewöhnt, meine Existenz hat andere Lebensbedingungen. Sie hier oben sind für sich allein bestehende Ringe, wir in der niederen Gesellschaft sind alle zusammenhängende Glieder einer Kette. Sie macht Ihre Stellung unabhängig; darum leben Sie wie Menschen, die nur der eigne Wille leitet. Uns drängt das Leben aneinander, und ganz andere Bedingungen hat bei uns der Egoismus und die Großmut als bei Ihnen. Ich tauge nicht für diesen Kreis. Ich schäme mich, stolz zu sein denjenigen gegenüber, auf welche Sie herabsehen und kann nicht demütig meinen Kopf beugen vor denjenigen, welchen Sie huldigen. Ich kann Gott nicht dort sehen, wo Sie ihn anbeten und kann seiner nicht vergessen, wo Sie ihn verspotten. Ueber Ihren Kreisen schwebt ein Zauber, der es bewirkt, daß alles verspottet und geleugnet wird; wer sagt hier dem andern die Wahrheit ins Gesicht? und wen liebt man hier, wenn man ihn nicht sieht? Die guten Freunde rennen miteinander über Stock und Stein. Einer stürzt und bricht den Hals. Gute Nacht! Der gute Freund ist gewesen. Der andere bricht im Rennen nicht den Hals, aber er vergeudet sein Vermögen; man läßt ihn weiter mitrennen, niemand sagt ihm: Tritt aus, du gehst ja zugrunde! Einmal aber strauchelt er dann und mit ihm liegt das Vermögen und die Ehre seiner Ahnen im Staube? Gute Nacht! Man streicht seinen Namen aus der Liste des Kasinos. Der gute Freund ist nicht mehr. Wir haben zwar auch gestern gewußt, daß er zugrunde geht und so zugrunde geht; aber niemand sonst hat es gewußt, wir haben ihn mit uns rennen lassen. Heute wissen es auch andere schon, heute kennen wir ihn nicht mehr. Wenn der Kamerad sich scheut, mit uns zu kommen, wenn er zu Hause bleibt, so sagen wir, er sei feige, geizig, ein Pantoffelheld. Und was für Begriffe herrschen da von den Frauen! Welch ein Familienleben! Welche Dramen drinnen und welche Komödien nach außen! Welche Virtuosität im Sündigen! Welche Vergötterung der flüchtigen Freuden! Und wo diese aufhören, welch ein öder Lebensüberdruß, welche selbstmörderische Blasiertheit! Nein, Gräfin, ich kann in dieser Atmosphäre nicht mehr atmen. Sie haben recht, denn Sie beglückt dies alles; aber ich müßte dabei wahnsinnig werden! Darum gehe ich von hier fort, Gräfin! Vergebung für meine kühnen Worte! Ich war ungeschickt. Ich habe schonungslos gesprochen von der Physiognomie der Gesellschaft, auf deren Parkett ich noch stehe. Ich war undankbar, indem ich meinen Antipathien dort Ausdruck gab, wo andere gegen meine Fehler und Ungeschicktheiten tolerant waren und mich freundlich aus dem Kreise bis zur Tür begleiteten, in welchem ich fortwährend lächerlich war, und doch nicht ins Gesicht verspottet wurde; aber ich war gezwungen, mich auszusprechen, Gräfin, Ihre Güte hat mich dazu gezwungen, Sie haben mich mit außerordentlich großer Huld aufgefordert zu bleiben und ich mußte zeigen, daß, was mich von hier fortführt, doch ein noch gewichtigerer Grund ist.«

Auch Gräfin Theudelinde hatte sich während Iwans Rede erhoben; ihre Augen begannen zu leuchten, ihr Gesicht wurde verklärt, ihre Lippen bewegten sich, als ob sie jedes Wort nachspräche. Und als er seine Worte beendet hatte, erfaßte sie seine beiden Hände und stammelte außer sich: »Nicht wahr? – Sie sprechen so! – Sie sprechen jetzt so – wie ich vor vierzig Jahren gesprochen habe, als ich mich aus der Welt verbannte. Die Welt ist jetzt noch ebenso wie damals!«

Hiermit schüttelte sie ihm leidenschaftlich die Hand und fuhr fort: »Gehen Sie! – gehen Sie nach Hause, verbergen Sie sich unter der Erde in Ihrem Bergwerk. Gott mit Ihnen! überall ... jederzeit ... Gott mit Ihnen! – Gott mit Ihnen!«

Sie bemerkten nicht, daß auch Angela sich von ihrem Sitz erhoben hatte.

Und als Iwan Abschied nehmend sich verbeugte, sagte diese, indem sie einen Schritt vorwärts ging, mit festem, entschlossenem Ton: »Wenn Sie von hier fortgehen, so gehen Sie nicht allein; dann gehe auch ich.«

Ihr Gesicht erglühte bei diesen Worten.

Iwan stand auf der Höhe der Situation.

Von dieser schwindelnden Höhe herab sagte er mit vollständig bewahrter Geistesgegenwart zu Angela: »Sie tun, wohl daran, Komtesse! Morgen ist der Geburtstag des Fürsten Theobald. Bis morgen früh können Sie bei ihm sein, und er ist bereit, Sie in seine Arme zu schließen.«

Komtesse Angela wurde blaß wie eine Marmorstatue.

Sie sank in ihren Fauteuil. Die roten Blätter der zerpflückten Blumen lagen zu ihren Füßen ausgestreut.

Iwan verbeugte sich ehrfurchtsvoll, er küßte Theudelinden die Hand und entfernte sich.

Ah! auch außerhalb des magnetischen Reiches gibt es Menschen, die, wenn sie einmal eine Seele lieben, diese nie vergessen.

* * *

Nachdem Iwan fort war, besuchte Graf Edmund die Damen noch einmal. Die Neugierde führte ihn hin. Komtesse Angela war gemütlicher als sonst jemals. Als sie voneinander schieden, sagte sie zu ihrem Cousin: »Geh zu Salista und sage ihm, daß ich mich nach seinem Befinden erkundige.«

Graf Edmund besaß künstlerische Ruhe genug, sein Erstaunen zu verbergen, und als er über die Treppe ging, begann er Figaros Arie aus dem »Barbier von Sevilla« zu summen.

Die Falschheit der Frauen
Ergründet man nie,
Ergründet man nie.

Komtesse Angela aber schrieb noch denselben Tag an den Fürsten Theobald.

(Am andern Tag war ja der Geburtstag ihres Großvaters.)

Der Inhalt des Briefes lautete: »Ich komme nicht nach Hause. Adieu!«

* * *

Am andern Tag sprach man noch von Iwan und seinem Duell.

Am dritten Tag war er vergessen. »Adieu!«


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