Maurus Jókai
Schwarze Diamanten
Maurus Jókai

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Herr Doktor!

Am andern Tag war Sonntag. Iwan führte Felix und Herrn Rauné am frühen Morgen in die Fabrikskolonie, um ihnen die Arbeiterwohnungen zu zeigen, die ein ganzes kleines Dorf bildeten. Dieses Dorf hatte Iwans Vater gegründet. Die Gegend war von armen, zerlumpten, ihr Leben mit Kartoffeln fristenden Leuten bewohnt gewesen. Seit der Herrschaft der Steinkohle war da eine sich gut kleidende und gut nährende Bevölkerung entstanden. Jeder verheiratete Arbeiter hatte ein besonderes Häuschen und einen kleinen Obstgarten dazu.

Als sie vor dem Hause vorübergingen, in welchem Evila wohnte, waren alle drei genötigt in den Hof hineinzusehen; – erstens weil das Tor des Hauses offen stand, und zweitens weil sie Zeugen einer im Hof vor sich gehenden Szene wurden, die jeden Vorübergehenden zum Stillstehen veranlaßt hätte.

Peter Saffran schlug Evila.

Der Bräutigam hatte das lange, dichte, schwarze Haar seiner Braut um seine linke Hand gewunden und schwang mit der Rechten einen doppelt zusammengelegten Riemen, den Rücken und die Schultern des Mädchens mit laut schallenden Schlägen bearbeitend.

Das Gesicht des Burschen hatte ganz den Ausdruck, welcher den Spottnamen Menschenfresser zu rechtfertigen schien; er hatte die Augen verdreht, daß man den größten Teil des Weißen sah, seine Augenbrauen berührten einander in einer tiefen Stirnfurche, sein Gesicht war bleich vor Wut, seine weit geöffneten Lippen ließen die knirschenden Zähne sehen.

Bei jedem Streich, den er dem Mädchen versetzte, fügte er knurrend eine kurze Frage hinzu, als ob er sagte: »Widersprichst du noch? Willst du noch deinen Willen haben? Wirst du mir noch trotzen?«

Das Mädchen aber weinte nicht und bat nicht um Schonung, sie preßte nur ihre Schürze mit beiden Händen an ihre Lippen, und wenn der brutale Bursche sie heftig am Haare riß, blickte sie sanft und versöhnend mit ihren seelenvollen Augen zu ihm auf. Der Wüterich verstand die Sprache dieser Augen nicht.

»Ei seht!« rief Felix, »Aschenbrödel und ihr Bräutigam in einer verliebten Schäferstunde!«

»So ist's,« erwiderte Iwan gleichmütig.

»Aber du sollst dem Schurken nicht erlauben, das schöne Kind so zu schlagen.«

Iwan zuckte die Achsel.

»Er hat das Recht dazu; sie ist die Seine, sie ist seine Braut. Wenn ich mich einmenge, so schlägt er sie noch mehr. Außerdem sehe ich, daß der Bursche einen Branntweinrausch hat, da richtet man mit ihm nichts aus.«

»Nun, ich werde dir zeigen, daß ich mit ihm wohl etwas ausrichte,« sagte Felix. »Ich kann es nicht mit ansehen, daß er das schöne Kind so vor mir schlägt.«

»Du wirst nicht gut daran tun, hinzugehen,« warnte ihn Iwan; »diese unterirdischen Arbeiter haben vor Leuten in feinen Kleidern keinen großen Respekt.«

»Das werden wir schon sehen. Du tue mir nur den Gefallen und rufe mir zu: ,Herr Doktor!' sobald du siehst, daß ich den Arm des Zyklopen berühre.«

Hiermit sprang der elegante großstädtische Herr von der Straße zu dem tiefer liegenden Hause hinab und eilte voller Selbstvertrauen in den Hof.

Peter Saffran achtete des Hinzutretenden gar nicht und zerrte Evila noch stärker am Haare.

»Du Bursche!« rief Felix, »warum schlägst du dieses Mädchen?«

Saffran antwortete flegelhaft: »Wen geht das was an? Das ist meine Braut!«

Er roch wirklich stark nach Branntwein.

»Ah! du bist im Begriff zu heiraten?« sprach Felix zu dem herkulisch gebauten Burschen, dem er kaum bis an die Schulter reichte, ganz nahe hinzutretend; »und darfst du denn schon heiraten? bist du nicht noch militärpflichtig?«

Bei diesem Worte ließ Peter Saffran den erhobenen Riemen sinken, als ob er einen zehn Zentner schweren Hammer in der Hand hätte.

»Ich bin untauglich,« brummte er zwischen den Zähnen; »ich hab's schwarz auf weiß.«

»Was! du untauglich, der du so gut prügeln kannst! Und wer war denn der wackere, rechtschaffene Doktor, der dir das schwarz auf weiß bezeugt hat? Mit solchen Armen! da muß ich bitten!«

Bei diesen Worten tippte er mit den Fingern dem Burschen auf die hervortretenden Muskeln des Armes.

»Herr Doktor!« rief Iwan in diesem Augenblick.

Sowie Peter dieses Wort hörte und Felix' Finger an den Muskeln seines Arms fühlte, wand er Evilas Haar von seiner Hand und ließ es erschrocken frei.

»Na warte, mein Junge,« sprach Felix, ihm mit seinem Stäbchen vor der Nase herumfuchtelnd, »morgen wirst du zum zweitenmal untersucht, und da wird es sich schon zeigen, an was für einem großen Uebel du leidest, das dich untauglich macht. Darum bin ich hier!«

Peter Saffran fing augenblicklich an zu schielen.

Felix lachte ihn aus.

»O weh, mein Junge, das kann ich auch,« und schielte ihm in die Augen; »morgen visitiere ich dich.«

Peter Saffran wandte sich bei diesem Wort auf dem Absatz um, lief nach der entgegengesetzten Seite des Hofes, sprang über den Zaun und sah sich nicht um, bis er den Wald erreicht hatte.

Iwan staunte über diesen wunderbaren Erfolg. Bei all seiner Körperkraft und trotz seines Mutes hätte er sich keinen Erfolg versprochen, wenn er sich mit dem Burschen eingelassen hätte – und der andere mit der zarten, schwächlichen Gestalt jagt den Riesen in zwei Minuten über den Zaun und treibt ihn zur Flucht in die weite Welt.

Iwan war ärgerlich und schämte sich. Er sah, daß Felix es noch für gut fand, zu verweilen, und sich mit dem Mädchen in ein Gespräch einzulassen. Diese Szene wollte Iwan schon durchaus nicht mit gaffendem Munde mit ansehen.

»Gehen wir weiter,« sagte er zu Rauné, »Herr Kaulman wird uns schon finden.«

Hiermit gingen sie weiter. Sie nahmen alles Sehenswerte in Augenschein, aber Herr Kaulman traf erst nach einer guten Stunde mit ihnen zusammen, als sie schon auf dem Rückweg waren. Er sagte, er habe sie gesucht, sie aber nicht finden können.

Als Felix mit dem Mädchen in dem Hofe des kleinen Hauses allein war, fragte er in teilnehmendster vornehmer Herablassung: »Was hast du dem Menschen getan, daß er dich so geschlagen hat?«

Das Mädchen trocknete sich rasch die Augen mit der Schürze und bemühte sich zu lächeln. So eigentümlich war dieses Lächeln mitten im Schmerz, mitten in der Bitterkeit! Die umgekehrte tragische Kunst.

»O, mein Herr, das Ganze ist ein Scherz; er hat mit mir nur Spaß getrieben.«

»Ich danke für solch einen Scherz. Sieh nur die geschwollenen Striemen an deinem Hals.«

Felix hielt dem Mädchen den Spiegel seines kleinen Taschenkammes vor die Augen. Sie wurde ganz rot, als sie sich darin sah. Vielleicht entfachten die Spuren der Schläge ihren Zorn.

»Nun, sehen Sie, Herr,« sprach das Mädchen ernst, »das ist das Ganze. Ich habe einen kleinen Bruder, der ein Krüppel ist. Wir sind leibliche Geschwister. Als unser Vater gestorben war, heiratete unsere Mutter ein zweitesmal. Ihr Mann war ein Trunkenbold, der uns fortwährend schlug und bei den Haaren riß. Einmal warf er meinen kleinen Bruder, der damals erst drei Jahre alt war, vom Tisch herunter, auf welchen die Mutter das Kind gesetzt hatte. Seit damals ist mein Bruder ein Krüppel; Brust und Rücken sind ihm verkrümmt, seine Beine sind schwach, so daß er auf Krücken gehen muß, und wenn er spricht, so geht ihm bei jedem Wort fast der Atem aus. An dem allen war mein Stiefvater schuld. Nachdem das Kind zum Krüppel geworden, verfolgte und peinigte er es noch mehr. Wieviel Schläge habe ich anstatt des Kindes bekommen, besonders nachdem die Mutter gestorben war! Aber bald darauf fiel unser Stiefvater betrunken in den Schacht und brach sich das Genick. Seitdem sind wir allein geblieben. Von dem, was ich im Tagwerk verdiene, leben wir beide. Jetzt sollte der Peter mich heiraten. Er kann aber den armen kleinen Krüppel nicht ausstehen; er sagt, das Kind soll betteln gehen – ein solches auf zwei Krücken gehendes Ungetüm könnte auf Märkten und vor den Kirchentüren viel Geld zusammenbetteln! Auch heute brach der Zank darüber aus. Er kam, um mich zur Kirche zu begleiten, denn heute verkündigt man uns zum drittenmal. Ich sagte, ich werde gleich bereit sein, ich wollte nur vorher für mein Brüderchen ein wenig Erdäpfelbrei in Milch wärmen. Der Knabe saß dort auf der Schwelle und wartete auf das Essen. Was! schrie Peter, der Kröte Erdäpfel in Milch?! Gib ihm Schlempe, davon wird er auch fett werden! Hiermit ging er hin, packte ihn an den Ohren und riß ihn so heftig empor, daß ich glaubte, er werde ihm die Ohren ausreißen. Das Kind hat aber die Eigenheit, daß es nicht weint, wenn man ihm wehe tut; es verdreht nur die Augen und öffnet den Mund, wie um bitterlich zu klagen, schweigt aber still. Ich sagte Peter, er solle dem Kinde nichts zuleide tun, denn ich liebe es. Warum geht also die Kröte nicht betteln? Warum sitzt er jetzt nicht vor der Kirche? Warum geht er nicht mit dem Bettelsack von Dorf zu Dorf? Nie ist ein scheußlicherer Krüppel, als der da, von Haus zu Haus gegangen. Will er ewig zu Hause herumlungern, der Kobold?«

Dem Mädchen rannen jetzt die Tränen über die Wangen.

»Was kann aber der Arme dafür, daß er so häßlich ist? Nicht Gott, sondern mein Stiefvater hat ihn zum häßlichen Krüppel gemacht. Ich sagte Peter im guten, er soll das Kind in Ruhe lassen, denn es ist mein leiblicher Bruder; wenn er ihm wehe tut, so ist das soviel, wie wenn er's mir tut. Lieber soll er mich schlagen. Ich werde auch dich schlagen, schrie er dann, wenn du noch ein Wort sagst! Dann fing er an das Kind bei den Ohren in den Hof hinauszuschleppen. Geh du Meerkalb, setz' dich vor die Kirchentüre, sonst fresse ich dich! und dabei machte er ein Gesicht, daß das Kind vor Schreck heulte. Hierauf lief ich hin, riß ihm den Knaben aus der Hand und sagte: Peinige meinen Bruder nicht, sonst ist es aus zwischen uns! Der Knabe versteckte sich dann im Kamin; Peter aber war so zornig über mich, weil ich ihn das Kind nicht quälen ließ, daß er mich am Haar packte und mich schlug. Jetzt wird das alle Tage so sein.«

»Nein, Mädchen,« erwiderte Felix hierauf, »es wird nicht alle Tage so sein, denn der Bursche hat noch seine Kapitulation auszudienen. Das geht nicht, daß ein so muskulöser, starker Bursche sich dem Militärdienst entziehe. Wenn jedermann das tut, wer zum Teufel verteidigt dann den Kaiser und das Land? Das kann man nicht zugeben.«

»Sie sind also wirklich ein Doktor?« fragte das Mädchen halb zweifelnd.

»Wie sollte ich es denn nicht sein, wenn ich es sage?«

Ein schwacher Freudenstrahl erheiterte das Gesicht des Mädchens.

»Dann könnten Sie mir vielleicht sagen, ob mein Brüderchen noch geheilt werden könnte oder nicht?«

»Freilich kann ich das! bringe den Jungen nur her.«

Evila ging in die Küche, und erst nach vielem Bitten gelang es ihr, den Krüppel aus dem Kamin zu locken, wohin er sich vor seinem Peiniger geflüchtet hatte.

Es war in der Tat ein außerordentliches Exemplar von einem verpfuschten Menschen. Als ob der Natur der Stoff ausgegangen wäre, und sie nur aus Abfällen ein menschliches Individuum zusammengeflickt hätte. Kein Glied paßte zum andern, und alle zusammen wurden von keinem gemeinsamen Willen gelenkt.

Evila nahm den schüchternen, kränklichen Krüppel in den Schoß und ermunterte ihn, ihm die runzligen, wie mit Pergament überzogenen Wangen küssend, sich vor diesem Herrn nicht zu fürchten.

Felix betastete mit der ernsten Aufmerksamkeit eines Doktors die Gliedmaßen des Krüppels und sagte dann mit affektiertem Gelehrtenernst: »O! das Uebel kann noch geheilt werden. Es brauchte nur Zeit und Pflege. In Wien gibt es ein Institut, man nennt es orthopädische Heilanstalt, wo man aus solchen Krüppeln gut gewachsene Burschen macht.«

»Wirklich?« rief das Mädchen, Felix an der Hand fassend; »würde man Jánoska dort aufnehmen? Aber das kostet wohl viel Geld, nicht wahr? Könnte ich nicht in der Anstalt, in der man die Menschen grad' macht, dienen und für meinen Lohn mein Brüderchen heilen lassen?«

»Warum denn nicht?« behauptete Felix mit ernstem Gesicht; »besonders auf meine Empfehlung, da ich dort großen Einfluß habe. Es wird mich nur ein Wort kosten.«

»O! tun Sie's, Gott wird Sie dafür segnen, tun Sie's,« stammelte das Mädchen, fing aus vollem Herzen an zu schluchzen, warf sich Felix zu Füßen und bedeckte dessen Knie und Hände mit Küssen. »Ich werde Ihnen dienen, ich will Tag und Nacht arbeiten. Nicht einmal einen Hund sollen sie zu halten brauchen, denn ich will auch der Hund im Hause sein – nur Jánoska sollen sie pflegen, damit er ein Mensch werde und nicht vor der Kirchentüre zu betteln brauche. Ist Wien weit?«

Felix lachte.

»Du wirst doch nicht glauben, daß du deinen Bruder zu Fuß nach Wien tragen kannst? Das soll deine Sorge nicht sein. Wenn ich einmal in einer Sache mein Wort gegeben habe, so halte ich es. Ich habe meinen eignen Wagen hier; ich nehme euch beide mit, wenn du willst.«

»O! ich will beim Kutscher sitzen und Jánoska im Schoß halten.«

»Gut, mein Kind,« sagte Felix mit gnädiger Gönnermiene; »ich liebe es, den Armen Gutes zu tun. Wenn du entschlossen bist, deines Bruders wegen nach Wien zu gehen und ihn dort heilen zu lassen, so hast du die beste Gelegenheit dazu. Halte dich nur bereit, damit ich euch zeitlich in der Früh, wenn du das Posthorn hörst, aufnehmen kann. Den groben Burschen aber schlage dir aus dem Kopf, denn die nächste Woche schon wird er beim Pionierkorps assentiert sein, und vor vier Jahren wird er nicht frei. Jetzt aber nimm da ein wenig Geld, schaffe für deinen Bruder eine warme Hülle an, denn in der Nacht ist es kalt, und ich reise Tag und Nacht.«

Das Mädchen war über die erhaltene Summe so erstaunt, daß sie dafür zu danken vergaß. Es waren zwei Zehnerbanknoten – eine große Summe in der Hand eines armen Mädchens. Dieser Herr treibt keinen Scherz! Das ist ein erschrecklich großer Herr! Ein sehr wohltätiger Herr! Es fiel ihr erst dann ein für das Geschenk zu danken, als Felix schon weit weg war. Es schickte sich aber nicht, ihm auf der Gasse nachzulaufen.

Evila freute sich wie ein Kind (sie war ja auch noch ein Kind); lachend, schäkernd sprang sie mit ihrem kleinen Bruder herum, setzte ihn auf die Bank, kniete vor ihm nieder und umarmte seinen elenden Leib.

»Wir gehen fort, Jánoska, mein Herz! In einer Kutsche fahren wir nach Wien. Hotto, Pferdchen, hotto! – in einer Kutsche mit vier Pferden, die alle mit klingenden Glöckchen behängt sind. Und Jánoska wird in meinem Schoß sitzen, Jánoska wird gute, süße Medizin bekommen, und davon werden ihm Hände und Füße stark und Brust und Rücken grad' werden; er wird ebenso ein Bursche werden wie die anderen. Dann kommen wir zu Fuß nach Hause, im Wagen fort und zu Fuß zurück, und ohne Krücken!«

Zuletzt fing auch der arme kleine Krüppel an zu lachen.

Dann lief sie ins Gewölb, kaufte dort für den Knaben eine warme Winterjacke, eine Mütze und Winterstiefelchen, konnte aber nicht die Hälfte von dem erhaltenen Gelde ausgeben! Sie nahm sich vor, das übrige dem guten Herrn zurückzugeben.

Dann ging sie in die Kirche. Ihre Bekannten fragten sie, warum sie so allein komme und wo denn der Peter geblieben sei. Evila antwortete, sie habe ihn heute noch nicht gesehen. Es schickte sich zwar nicht, am Tage des Herrn und vor der Messe zu lügen; aber wenn man in der Lage ist, lügen zu müssen, wie kann man da anders! Eine Frau oder ein Mädchen, die der Mann oder der Bräutigam geschlagen hat, muß das verleugnen.

Gott verzeiht die Lüge, und die Menschen fordern sie.

Peter Saffran aber ließ sich in der Kirche nicht blicken.

Evila mußte beschämt es allein anhören, wie der Geistliche sie zum drittenmal von der Kanzel herab verkündigte. Daraus wird nichts mehr!

Nachmittag aber erfaßte sie ein Kummer darüber, daß sie diese Gegend, ihren Bräutigam, ihre Bekannten, alle gewohnten Gegenstände für immer verlassen und in die weite, weite Welt gehen solle!

Dieser Kummer flößte ihr abends den Rat ein, in den Wald zu gehen und Peter Saffran aufzusuchen.

Sie vermutete, wo sie ihn finden werde.

In der Tiefe der Wälder, auf dem Grunde eines Bergkessels befindet sich eine verborgene Hütte, wo zur Zeit der Assentierung die rekrutierungsflüchtigen Burschen sich zu versammeln und wochenlang sich aufzuhalten pflegen, bis die Kommission ihren Weg nach einer andern Gegend einschlägt. Niemand gibt sie an.

Evila ging blindlings durch das Gesträuch. Die Nacht war finster, der Wald noch finsterer. Seitwärts vom Berge her scholl das Geheul hungriger Wölfe. Das Mädchen zitterte vor Angst, war aber dennoch entschlossen, ihren Bräutigam aufzusuchen, obgleich sie wußte, daß er sie wieder schlagen werde. Auf dem Wege fand sie einen Knüttel, mit dem schlug sie vor sich in das Strauchwerk und rief: »fort, du Wolf!« – und laut pochte ihr das Herz, wenn irgendein Tier, durch das Geräusch aufgeschreckt, vor ihr floh. – Immer tiefer, immer finsterer wurde das Tal, und dennoch bebte sie nicht zurück. Endlich erblickte sie in der Dunkelheit des Tales ein beleuchtetes Fenster. Das ist die Waldhütte.

Keuchend eilte sie auf das Haus zu. Als sie näher kam, hörte sie die Klänge eines Dudelsacks und Jauchzer, die von innen herausschallten. Hier ist man lustig!

Sie schlich leise zu dem beleuchteten Fenster und schaute hinein.

Drin tanzten Burschen mit einigen bekannten Frauenzimmern, denen Evila wegen des ungewaschenen Mauls, das sie führten, aus dem Wege zu gehen pflegte. Der Dudelsackpfeifer saß auf einem Schweinetrog und blies, daß es grunzte als ob die Schweine da wären.

Evila erkannte unter den Burschen Peter Saffran. Er war guter Laune und sprang im Tanzen so hoch, daß er mit der Faust an die Zimmerdecke schlagen konnte. Er tanzte mit einer Dirne, die auf beiden Wangen runde rote Schminkflecke hatte.

Peter Saffran hatte die Dirne mit beiden Händen um die Hüfte gefaßt, schleuderte sie in die Luft, fing sie wieder auf und küßte ihr die Wangen.

Was kann er nur an den hingeschmierten roten Flecken küssen?

Evila schwankte vom Fenster fort, wandte sich um und eilte zurück durch das Gestrüpp des Waldes, wo die Wölfe um die Wette heulen; und jetzt hatte sie nicht einmal den Stock mitgenommen, um damit auf den Strauch zu schlagen und daraus den Wolf zu vertreiben.

* * *

Abends ging Felix Kaulman noch einmal zu Iwan.

»Freund, ich komme noch einmal, um dich zu fragen, ob du an meinem Unternehmen teilnehmen willst.«

»Ich wiederhole es dir, daß ich dies nicht will.«

»Du schlägst es also rundweg aus?«

»Ich pflege meine Überzeugungen nicht so leicht zu ändern.«

»Gut. Ich habe dir en bon enfant die Verbindung angeboten, und jetzt erkläre ich dir cavaliérement, daß ich, nachdem du nicht mit mir halten willst, meinen Plan ohne dich ausführen werde; doch halte ich dir stets die Türe offen, damit du jederzeit eintreten kannst, wenn du im Fall eines günstigen Erfolges beitreten willst. Bis dahin bleiben wir gute Freunde. Du wirst mir es vergeben, wenn ich die Diamanten, auf welchen du herumtrittst, auflese, und ihre zaubervollen Geheimnisse erforsche.«

»Ich stelle dir das vollständig frei.«

»Ich werde von der Freiheit Gebrauch machen, und es wird eine Zeit kommen, wo ich dich an diese Erlaubnis erinnern werde.«

Iwan runzelte die Stirne und dachte rasch bei sich: Was könnte er mir nehmen, was mein ist? Meine Kohlengrube nicht, darauf habe ich nach dem Montangesetz ein Recht. Das Schürfen im benachbarten Grunde? Nur zu! Mir genügt, was mir gehört.

»Viel Glück zu deinem Unternehmen! Für den Direktor meinen Dank.«

Hiermit schieden sie voneinander.

Am andern Tag zeitlich in der Frühe wurde Iwan auf einen Augenblick durch das Posthorn geweckt, welches Felix' Abreise anzeigte.

Er wünschte ihm eine glückliche Reise und schlief dann weiter.

Als er am Morgen aus seinem Hause ging, fand er Peter Saffran im Tore.

Der Arbeiter sah ganz entstellt aus. Jeder seiner Züge trug die Spuren einer durchschwelgten Nacht und aufgeregter Leidenschaft. Seine Augen waren blutunterlaufen, und sein Haar struppig und verwirrt.

»Na, was willst du?« fragte ihn Iwan mißmutig.

»Herr!« sprach der Bursche mit heiserer Stimme, »wie heißt der Doktor, der gestern bei Ihnen war?«

»Was hast du mit ihm?«

»Er hat Evila entführt,« brüllte der Bursche außer sich, stieß den Hut von seinem Kopfe, raufte sich die Haare und erhob dann die geballten Fäuste drohend gegen den Himmel.

Iwan empfand im ersten Augenblick ein grausames Vergnügen über diese Nachricht.

»Geschieht dir recht, du tolles Vieh! Geschieht dir recht! Wozu brauchtest du auch deine Braut zu mißhandeln, und noch dazu am Tage der dritten Verkündigung!«

»O Herr!« sprach Peter mit den Zähnen knirschend und sich mit den Fäusten auf die Stirn schlagend, »ich war ja betrunken! Was weiß ich, was ich getan habe? Und was waren denn das für Schläge? Mit einem lumpigen Riemen! Das ist bei uns gemeinen Leuten etwas Gewöhnliches. Bei uns glaubt ein Weib gar nicht, daß der Mann sie gern hat, wenn er sie nicht prügelt. Deshalb mich sitzen zu lassen! Mit einem Herrn durchzugehen!«

Iwan zuckte die Achsel und wollte weitergehn, aber der Arbeiter hielt ihn am Rockschoß zurück.

»Was soll ich jetzt tun? Was soll ich tun?«

Iwan war bitter und ärgerlich.

Er stieß Peter von sich und sagte kurz angebunden: »Geh zur Hölle! laufe ins Wirtshaus! Trinke eine Maß Branntwein! Dann wähle dir unter den lumpigen Dirnen eine andere Braut, die sich freuen wird, wenn du sie alle Tage durchwalkst!«

Peter hob seinen Hut von der Erde auf und sagte ganz ruhigen Tones: »Nein, Herr! ich trinke in meinem ganzen Leben keinen Branntwein mehr! Nur ein einziges Mal werde ich noch Branntwein trinken, ein einziges Mal! Denken Sie an das, was ich sage. Wenn Sie mir es noch einmal anriechen werden, daß ich Branntwein getrunken habe, oder wenn Sie mich aus dem Wirtshaus kommen sehen, oder wenn Sie hören, daß ich dort gewesen bin – so bleiben Sie an dem Tag zu Hause, denn an dem Tage kann niemand wissen, warum, auf welche Art und wodurch er stirbt.«

Iwan ließ den Burschen stehen und ging in sein Haus zurück, die Türe hinter sich absperrend.

Im ersten Augenblick tat die Erschütterung seinem in Apathie versunkenen Gemüt wohl; – also der elende Bauer, welchen das Mädchen ihm vorzog, hat den neidenswerten Schatz doch nicht erlangt, der Tölpel hat die Perle, die er nicht zu schätzen wußte, aus der Hand fallen lassen! Aber dann fühlte er wieder großen Schmerz bei dem Gedanken, daß diese Perle nun auch selbst ihren Wert verloren hat. Das Mädchen, das er für tugendhaft hielt, dessen Treue er bewundert, in dessen Naivität er sich verliebt hatte, fällt beim ersten schmeichlerischen Wort! Ihren Herrn, der rechtschaffen um ihre Hand anhält, der sein Haus mit ihr teilen will, weist sie zurück, weil dieser Herr selbst ein Arbeiter, ein ernster Mann, und weil sein Haus nur ein einfaches ländliches Haus ist; – aber mit dem andern Herrn läuft sie fort, weil dieser stutzerhaft aufgeputzt erscheint, verwegen schmeichelt, und ihr zwar nicht die Heirat und einen rechtschaffenen Namen, aber eine glänzende Wohnung und glänzende Kleider verspricht!

Was für eine Kreatur ist doch so ein Frauenzimmer! Wie sehr hat der Mohammedaner recht, daß er dem Weib auf dieser Erde keine Seele und in der anderen Welt kein neues Leben zuerkennt.


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