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Kosmopolitismus und Patriotismus

Der schwäbische Pfarrerssohn Reinhard war nicht der einzige Deutsche, der nach Paris ging, um die Freiheit an der Quelle kennenzulernen. Da waren der Schlesier Karl Engelbrecht Oelsner, der preußische Sonderling Graf Schlabrendorff, der mit Reinhard befreundete und zeitweise als sein Privatsekretär tätige Georg Kerner, Bruder des Dichters Justinus, der später den französischen Dienst aufgab und sich als Arzt in Hamburg niederließ, ferner der Preuße von Archenholtz, der sich früher lange in England aufgehalten und über England geschrieben hatte. Auch Archenholtz verließ Frankreich und ging nach Hamburg, behielt aber immer Sympathie für die Revolution. »So französisch werden«, schrieb der Dichter Schubart, »ist größere Wohltat, als der Deutsche begreifen kann, der sich frei träumt, wenn hinter ihm die Geißel des Despoten klatscht.« Und doch fühlte Schubart sich stolz als Deutscher, ja er war, was wir heute einen deutschen Imperialisten nennen würden. »Bleiben wir einig«, schrieb er, »so werden wir bald die erste Nation der Welt sein.« An anderer Stelle sagt er, Deutschland solle der Zentralpunkt aller europäischen Kraft und der erhabene Areopag sein, der die Fehden aller Völker schlichte. Grade die Schwaben, die mehr Rechts- und Freiheitsbewußtsein hatten als andere deutsche Stämme, litten unter dem Despotismus ihrer Fürsten, während sie doch mit tiefgewurzelter Anhänglichkeit an ihrer Heimat hingen. Bei der Ankündigung der rheinischen Thalia verkündete Schiller: »Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient&nbsp;&hellip; Früh verlor ich mein Vaterland, um es gegen die große Welt einzutauschen.« Hier sieht man deutlich, wie dem Vaterlande entsagt wird, weil es eins mit dem Fürsten geworden ist: der Weltbürger braucht keinem Fürsten zu dienen. Wenn die Württemberger im Jahre 1796 neutral zu bleiben wünschten, so war es, weil sie den Krieg zwischen Deutschland und Frankreich als einen Krieg der Fürsten gegen die Freiheit ansahen. In demselben Sinn richtete Klopstock eine warnende Ode an die Fürsten, daß sie nicht das die Freiheit stellvertretende Volk bekämpfen sollten; in diesem Krieg, sagte er, werden vergötzten Herrschern Menschenopfer gebracht.

Daß die Idee der Freiheit und des Rechts einmal laut und feierlich ausgesprochen war, schlugen viele so hoch an, daß sie auch dann noch zu der Revolution hielten, als sie durch blutige Ausschreitungen befleckt war. Es gibt einen schönen Brief Reinhards an Schiller, der sich von der anfänglich froh begrüßten Bewegung abwandte, in dem er respektvoll und doch eindringlich für das einmal hochgehaltene Ideal eintritt, obwohl er dem, was in Paris geschah, durchaus nicht kritiklos gegenüberstand. »Mich dünkt«, schrieb er, »in einem Zeitpunkt, wo der große Prozeß zwischen den Herrschern und den Beherrschten so laut zur Sprache gekommen ist, sollte von einem Manne, dessen Stimme so überwiegend ist wie die Ihrige, den Menschenrechten auch nicht ein Haarbreit vergeben werden, selbst nicht aus Furcht, ihren Mißbrauch zu begünstigen.« Und weiterhin schreibt er: »Niemals habe ich meinen Landsleuten verzeihen können, daß sie aus positiven Rechtsbegriffen ein so großartiges Unternehmen tadelten.«

Diese Franzosenfreunde waren Deutsche, weil sie gar nicht anders konnten; aber sie waren Gegner der Regierung ihres Landes und insofern Gegner ihres Landes, als das Land mit der Regierung eins war. So erklärt es sich, daß der Schwabe Reinhard als französischer Graf Reinhard starb. Er war Hauslehrer in Toulon, als die Französische Revolution ausbrach. Bereits der französischen Sprache mächtig und mit Franzosen befreundet, ergriff er die neuen Ideen mit Leidenschaft und tat, nachdem er in Paris tiefer in die Ereignisse verflochten war, den Schwur, Frankreich unverbrüchlich treu anzuhängen, zugleich aber ein guter Deutscher zu bleiben. Damals schien es leicht, Frankreich und Deutschland zugleich zu dienen; als der Traum der Weltrepublik zerronnen war, wurde es sehr schwer. Die selbstauferlegte Pflicht, Bürger zweier sich bekriegender Länder zu sein, lag wie ein unentrinnbarer Schatten über seinem Leben, grade weil er in keinem Augenblick aufhören konnte, Deutscher zu sein und sich als Deutscher zu fühlen.

Als der junge Zar Peter von Rußland die Höfe von Berlin und Hannover besuchte, interessierte sich Leibniz lebhaft für die ungewöhnliche Erscheinung und bemühte sich, von dem Zaren herangezogen zu werden, um einen Plan zur Bildung des russischen Volkes zu entwerfen. Er glaubte, es könne ein besseres Ergebnis erzielt werden, wenn ein Selbstherrscher ein vollständig ungebildetes Volk erziehe, als in langsamer natürlicher Entwicklung, was er durch den Vergleich einer im Lauf der Geschichte gewachsenen mit einer nach einem Riß erbauten Stadt erläuterte. Er war so sehr Sohn seiner Zeit, daß er das Gemachte dem Gewordenen vorzog. Wie man aber über die Absicht Peters des Großen denken mag, Leibniz hielt sie für großartig und fruchtbar und brannte vor Begierde, seine Bestrebungen dabei verwirklicht zu sehen. »Ich bin nicht von denen«, schrieb er dem Zaren, »die auff das Vaterland oder sonst auff eine gewisse Nation erpicht seyen, sondern ich gehe auff den Nutzen des gantzen menschlichen Geschlechts. Denn ich halte den Himmel für das Vaterland und alle wohlgesinnten Menschen für dessen Mitbürger, und ist mir lieber bei den Russen viel Gutes auszurichten, als bey den Teutschen oder anderen Europäern wenig, wenn ich gleich bey diesen in noch so großer Ehre, Reichtum und Ruhe sitzen, aber dabey anderen nicht viel nutzen sollte: denn meine Neigung und Lust geht aufs gemeine Beste.« Hier betont Leibniz seine Begierde, das Gute aller Nationen zu befördern, sein ganzes Leben hindurch hat er seine Liebe zu seinem Vaterlande betätigt. Das war selbstverständlich, hervorzuheben war, daß sie ihn nicht unfähig machte, die Bedeutung anderer Nationen zu erkennen und ihnen womöglich zu nützen. In Leibniz war lebendig, was man eher Reichsgefühl als Kosmopolitismus nennen könnte; das Gefühl, dem Reiche anzugehören, das der Idee nach, wenn auch nicht mehr tatsächlich, die ganze Christenheit umfaßte. Einer ähnlichen Einstellung begegnen wir bei Lessing, wenn auch zu seiner Zeit die Konzentration der Nationen sich sehr verstärkt hatte. Er sprach gelegentlich von dem Punkt, wo Patriotismus anfange ein Laster zu werden, und hat auch, wie bekannt ist, den Patriotismus eine heroische Schwachheit genannt. Er ist so selbstverständlich, wie es die Selbstsucht ist, beide sind natürlich und gut, wenn sie nicht übertrieben werden. Derselbe Lessing hat sich bemüht, eine deutsche Nationaldichtung und ein deutsches Nationaltheater zu schaffen, hat die deutsche Sprache wie ein Schwert geschliffen.

So einfach wie für die Engländer und Franzosen war allerdings für die Deutschen die Frage des Patriotismus nicht. Im Laufe des Gesprächs, das Friedrich der Große mit Gellert führte, sagte Gellert, es habe den Deutschen bisher ein Augustus oder Ludwig XIV. gefehlt, worauf Friedrich mißtrauisch und fast erschreckt fragte: »Wie? Will er denn einen Augustus in ganz Deutschland haben?« Deutschland sollte es seiner Meinung nach nicht geben, es sollte für Gellert Sachsen, für einen preußischen Untertan Preußen geben. Karl Friedrich von Moser dagegen meinte, Patriot sei, wer die Reichseinrichtungen und Reichsgesetze an seinem Ort zu verwirklichen suche, und stellte die Schweizer als Muster hin, die, obwohl in 13 Kantone geteilt, doch ein Gemeingefühl hätten. Von diesem Gemeingefühl wollten gerade die mächtigsten deutschen Fürsten nichts wissen; hatte doch Friedrich der Große in seinem Staat das übliche Gebet für den Kaiser abgeschafft. Mehrere unserer geistigen Großen, Leibniz, Klopstock, Lessing, wären gern in österreichischen Staatsdienst getreten, Herder richtete an Joseph II. die Verse: O Kaiser, du von neun und neunzig Fürsten – Und Ständen wie des Meeres Sand – Das Oberhaupt, gieb uns wonach wir dürsten – Ein deutsches Vaterland!

Hatte das Reich kaum noch Wirklichkeit, so gab es für die Gebildeten doch ein Deutschland, ein geistiges, das über die Grenzen der Territorien hinausging. Es umfaßte alle diejenigen, die die deutsche Sprache sprachen und infolgedessen deutsch dachten, auch die Schweizer, deren Schriftsteller um die Mitte des 18. Jahrhunderts einen so bedeutenden Einfluß auf das literarische Leben der Deutschen ausübten. Der Zürcher Bodmer war für die jungen deutschen Dichter der Vater, zu dem sie wallfahrteten, um seinen Segen zu erbitten, sie nannten ihn den Lehrer Germaniens. Im Jahre 1806 berichtete der französische Konsul in Hamburg nach Paris, die Hamburger hätten keine Sympathie für den preußischen Staat, aber sie wünschten trotzdem Preußen den Sieg, weil es die deutsche Sache verteidige. Man stelle ihnen vergebens vor, daß Bevölkerungen, die weder denselben Souverän, noch dieselben Gesetze, noch dieselben Interessen hätten, keine einheitliche Nation ausmachen könnten, nach ihrer Auffassung gehöre alles, was die deutsche Sprache spreche, zu ihrer Nation.

Von den Feinden des Absolutismus und Freunden der Freiheit sehr verschieden sind jene Deutschen, die sich Napoleon unterwarfen; denn sie handelten im allgemeinen aus Berechnung, sei es Hoffnung auf Vorteil oder Furcht vor Schädigung. Zu ihnen gehörten die deutschen Fürsten, die in der großen europäischen Umwälzung eine sichere Grundlage suchten und zugleich den Königstitel gewinnen und ihr Land vergrößern konnten. Wer um der Sicherheit und des Gewinns willen sein Vaterland in die Schanze schlägt, ist kein Kosmopolit, sondern ein Egoist oder Feigling, bei dem Gewissen, Grundsätze, natürliches Gefühl ungenügend entwickelt sind. Ebensowenig kann man es Kosmopolitismus nennen, daß die Fürsten von jeher geneigt waren, vom Kaiser abzufallen oder sich gegen ihn zu verschwören. Auch unter den Adligen waren viele bereit, das Unglück des Vaterlandes für sich auszunützen. Glück wirkt verweichlichend. Glück im Sinne von Besitz und hoher Stellung wird aber auch mehr durch geschicktes Anpassen an die Umstände und rücksichtsloses Sich vor drängen als durch Gewissenhaftigkeit erlangt: so waren die Hochgestellten von vornherein geeignet, mit Hintansetzung edlerer Beweggründe das Vorteilhafte zu ergreifen. Unter denen, die am Hofe von Kassel den Bruder Napoleons, Jerome, umschmeichelten, waren ein Graf Schulenburg, der Minister Friedrichs des Großen, und ein Freiherr von Schlieffen, der preußischer Generalleutnant gewesen war. Diese Art Leute bedienten sich wohl gewisser Wendungen, die ihrem rohen Verhalten ein glatteres Ansehen geben sollten, wie daß Napoleon ein Gesandter, ein Werkzeug Gottes sei, dem man nicht widerstreben dürfe, oder daß Napoleon ein Weltreich gründen werde, dessen berechtigte Glieder alle Nationen sein würden. Einige Deutsche hielten wirklich für möglich und wünschbar, daß eine Weltrepublik oder ein Weltreich entstehe, in welchem die Unterschiede der Nationen verschwinden würden, es gab Deutsche, die, weil sie ihr Vaterland verloren hatten, das geworden waren, was Schubart so treffend die alles und nichts umspannenden herzlosen Kosmopoliten nannte. Unter den beinah zweitausend selbständigen Gebieten, die das Reich bildeten, gab es eine ganze Anzahl, die zu verkommen oder zu belanglos waren, als daß Vaterlandsliebe in ihnen hätte aufkommen können, und wo die Reichsgewalt zu wenig bemerkbar wurde, als daß die Reichszugehörigkeit dem einzelnen hätte zum Bewußtsein kommen können. Solche flüchteten sich wohl in ein dünnes Allverbrüderungsgefühl, das nirgends Wurzeln schlagen konnte. Diese zerflatternde Allerweltsliebe ist sehr verschieden von dem Taumel der Entzückung, der dem in seinem Volke Wurzelnden den Jubelruf entriß: Alle Menschen werden Brüder, weil sie eines Vaters Söhne sind.

Als Beispiel für den leeren Kosmopolitismus kann man Karl von Dalberg anführen. Es gehört zur Tragik des Unterganges des alten Reiches, daß eben dieser Dalberg sein letzter Erzkanzler und einer der letzten Sprossen jenes alten rheinischen Rittergeschlechtes war, das jeder neuerwählte Kaiser bei der ersten Erteilung des Ritterschlags auszeichnete, indem er rief: Ist kein Dalberg da? Dies Recht des ersten Ritterschlags kam noch bei der Krönung Leopolds II. und Franz' II. zwei Dalbergs zugute. Auch betonte Karl von Dalberg stets, daß er ein teutscher Patriot sei, und meinte damit, ganz im Sinne Mosers, unverbrüchliche Anhänglichkeit an die Reichsverfassung und an das Oberhaupt des Reichs, den Kaiser; aber seine grenzenlose Empfänglichkeit ließ ihn auch solche Verbindungen eingehen, die dem Ansehn und dem Bestände des Reiches zuwider waren. Er war kaiserlich mit dem Kaiser, preußisch mit den Preußen, Freigeist mit den Illuminaten, gläubig mit den Gläubigen, nicht wie einer, der in allem Menschlichen etwas Gutes erkennt, sondern als einer, der die Grenzen nicht unterscheidet. Er hatte das Bedürfnis, von allen geliebt zu werden, sich mit allen verbunden zu fühlen, ein Bedürfnis, das ihn zu einem liebenswürdigen und vielgeliebten Menschen machte, aber doch immer etwas Dirnenhaftes hatte. Er bediente sich gern heroischer Wendungen wie: »Im Unglück ist es schön, sich unter den Trümmern der Festung zu begraben«, oder: »Ein standhafter Mann kann Schwarzbrot essen, aber seine Pflichterfüllung verkaufen, das kann er nie.« Solche Reden liefen wie bei Friedrich dem Großen völlig bedeutungslos neben seinem Leben her; aber während Friedrich der Große sich nicht über sich selbst täuschte und im Handeln eine grade Linie verfolgte, glitt Dalberg bald hierhin, bald dorthin, von dem jeweils stärksten Magneten angezogen. Der stärkste Magnet der Zeit war Napoleon, und dem gab er sich rückhaltlos hin, wobei er sich und anderen einredete, daß er dadurch das Wohl Deutschlands befördere. Dalberg war ein Mann von Sittlichkeit und Pflichtgefühl, der Nächstenliebe wirklich ausübte; er allein dachte an die vielen, die durch die politischen Umwälzungen stellenlos und brotlos wurden, und bemühte sich darum, daß sie versorgt wurden. Indessen war er doch nicht so uneigennützig, wie er zu erscheinen liebte. Dem Fürstenbunde trat er bei, weil der Kurfürst von Mainz, dessen Koadjutor er war, es verlangte, und er sonst nicht sein Nachfolger hätte werden können, und Napoleon belohnte seine Hingebung reichlich.

Wenn es eine Reihe von Menschen gegeben haben mag, die eine so verschwommene Art zu denken und zu empfinden hatten wie Dalberg, so darf man doch behaupten, daß die Deutschen des 18. Jahrhunderts im allgemeinen keine alles und nichts umspannenden Kosmopoliten waren; dagegen ist es gewiß, daß ihre Vaterlandsliebe einen besonderen Charakter hatte, der sie durchaus unterscheidet von dem Nationalismus einer späteren Zeit. War die eigentümliche Idee des Römischen Reiches Deutscher Nation, des Gottesreiches, auch nicht mehr in der Form lebendig, wie sie im Mittelalter ausgebildet war, so hatte sie doch Geleise des Denkens hinterlassen, in denen man sich weiterbewegte. Die Auffassung war geblieben, daß Deutschland ein Reich der Vermittelung sei, empfänglich für die von anderen Ländern ausgehenden Einflüsse, dadurch aber nicht von diesen beherrscht, vielmehr befähigt, eine geistige Vormacht zu sein. Die einstige Kraft des Reiches, sich fremde Völker im Namen des Christentums anzugliedern, sollte jetzt im Namen einer idealen Bildung ausgeübt werden, die, wie das Christentum, nicht nur einem einzigen Volke angemessen, sondern menschheitlich sei. Schillers Gedicht Deutsche Größe, in dem unheilvollen Jahre 1801 entworfen, das durch den Frieden von Luneville die Auflösung des Reiches einleitete, enthält diesen Gedankengang. Was Deutschlands Wert ausmacht, sagt Schiller, ist nicht verloren, wenn Deutschland auch unglücklich gekämpft hat. Deutschlands Majestät ruht nicht auf dem Haupte seiner Fürsten, sie ist geistiger Art, und von den Deutschen über der politischen gegründet. Sie besteht, wenn auch das Imperium unterginge. Das, was den Geist bildet, muß zuletzt herrschen, wenn anders Sinn und Plan in der Welt ist. Wenn die Frucht reif ist, wird sich zeigen, daß sie deutsch ist, daß die anderen Völker nur die Blume waren, die abfällt. Dem Deutschen ist es nicht bestimmt, in Schlachten zu siegen, nach der Natur und nach dem Ideal strebend soll er das Höchste erringen. Wie er in der Mitte von Europas Völkern sich befindet, ist er der Kern der Menschheit. Die deutsche Sprache, die alles ausdrückt, das Kräftigste und das Zarteste, wird die Welt beherrschen. Schmach dem Deutschen, der seinen angeborenen Menschenadel schmäht und sich vor fremden Götzen, Frankreich oder England, beugt und ihre Wege gehen will. Denn der Deutsche hat sich das Fremde angeeignet, um an dem Bau der Menschenbildung arbeiten zu können. Jedes Volk hat seinen Tag in der Geschichte; aber der Tag der Deutschen ist die Ernte der ganzen Zeit.

Übereinstimmend mit altdeutscher Auffassung wollte Kant, daß der deutsche Staat das Recht verwirklichen solle, und ebenso träumte Fichte von einem Reich des Rechts, das die Deutschen aufrichten würden, wie die Welt es noch nicht gesehen habe; denn die Alten hätten ihr Staatswesen auf dem Unrecht der Sklaverei aufgebaut. Nicht nur die Dichter und Denker, von denen man meinen könnte, es habe ihnen das Verständnis für die politischen Erfordernisse des Staates gefehlt, auch die Historiker der Zeit wollten in Deutschland einen Friedensstaat sehen. Die Göttinger Schule pries die Kleinstaaterei Deutschlands, weil sie dem Frieden diene, und verstieg sich zu dem merkwürdigen Ausspruch: »Wehe der Freiheit des Weltteils, wenn die Hunderttausend deutscher Bajonette jemals einem Herrscher gehorchten.« Dabei war nicht an ein schwaches Deutschland gedacht; Deutschland sollte stark, aber stark zur Verteidigung, nicht zur Eroberung sein; man hielt das für die Bedingung zum Glück Europas. Grade das ist charakteristisch, daß die deutschen Denker nicht nur das Wohl ihres Landes, sondern zugleich das Wohl der benachbarten Länder, daß sie das Wohl Europas bedachten. Der Völkerbund, dessen Linien damals Kant mit so behutsamer Hand zog, bestand schon im Geiste vieler Denker. Die Föderation der europäischen Völker, sagte Adam Müller, wird gewiß kommen, und sie wird deutsche Farben tragen; denn alles Große in den europäischen Institutionen ist deutsch.

Kein geringer Platz inmitten der europäischen Völker war Deutschland zugedacht, ein herrschender vielmehr, aber ein geistig herrschender durch die universale Idee, die im Mittelalter auf der Einigkeit von Papst und Kaiser beruht hatte. Der Gedanke war in dieser Form, die Leibniz noch festgehalten hatte, untergegangen, er nahm nun den Charakter eines Rechts- und Friedensreiches an, das die Deutschen als Volk der Mitte zu verwalten hätten.

Kant forderte, daß der miles perpetuus, das stehende Heer, mit der Zeit ganz aufhören solle; denn er bedrohe andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen, er reize die Staaten dazu, sich gegenseitig an Zahl der Gerüsteten zu übertreffen, und da durch die hierauf verwendeten Kosten der Friede noch drückender werde als selbst der Krieg, führe er schließlich zu Angriffskriegen, durch die man die Last loszuwerden hoffe. Wie sehr hatte sich in hundert Jahren die Zeit gewandelt! Im Beginn der Epoche trachteten alle Fürsten nach dem miles perpetuus, um durch ihn ihre Macht zu befestigen und zu vergrößern, hundert oder hundertfünfzig Jahre später wünschte Kant seine Abschaffung samt dem Streben nach Machtvermehrung, auf der diese Einrichtung beruhte.

Freilich, die Fürsten waren nicht derselben Meinung. Und ist nicht vielleicht das ständige Streben nach Machterweiterung der Lebensatem der Nationen? Und war vielleicht das Streben nach geistiger Macht nichts als ein Umweg, den ein besiegtes Volk einschlug, um dennoch wieder zu politischer Macht zu gelangen? Oder war das Reich des Rechts und des Friedens die schöne Vision eines Volkes, das die Form, in der es Jahrhunderte hindurch sich herrlich und traulich dargestellt hatte, zerbrechen und untergehen sieht? Solche Gedanken drängen sich auf; aber die Erfahrungen jener Zeit erzeugten andere. Das Weltreich Napoleons vermehrte nur den gegenseitigen Haß der Völker und ihr Auseinanderstreben; ein anderer Weg, um die Einheit des Abendlandes herzustellen, mußte gefunden werden, der die Selbständigkeit der Nationen wahrte, wenn anders diese Einheit überhaupt festgehalten werden sollte.


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