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Orthodoxie und Pietismus

Daß Luther betonte, die Lehre sei wichtiger als das Leben, erweckte ihm seit den Tagen des unglücklichen Staupitz Gegner. Es hat etwas Einleuchtendes, wenn man sagt, die Kenntnis christlicher Lehrsätze mache keinen Christen, und es scheint ungereimt, das Bekenntnis höher zu veranschlagen als die Verwirklichung des Bekenntnisses. Ja, könnte man sagen, das heißt die Wurzel der Frucht vorziehen; aber ohne die Wurzel gäbe es keine Frucht.

Luther, der in der mittelalterlichen Kirche aufgewachsen war, hatte noch teil an ihrer glücklichen Ganzheit, die in einem reichen kirchlichen Leben, in altüberlieferten Gebräuchen, die jeden einbezogen, in der gleichen Denkweise aller sich darstellte. Obgleich er es war, der diese Ganzheit denkend trennte, hatte er doch ein einheitliches Bild der Welt in sich, die vor ihm lag wie eine Landschaft, hinter deren Bergen und Tälern der Himmel lag, die ewige Heimat, zu der man hinwandert. Was er lehrte und überhaupt äußerte, strömte aus einer großen Anschauung der göttlichen und menschlichen Dinge, fügte sich von selbst ineinander und überzeugte deshalb unwiderstehlich. Er konnte die unzähligen Fragen, die ihm gestellt wurden, aufklärend beantworten, alle Bibelstellen sinnvoll deuten, über jedes Ereignis aus vollem Herzen predigen, weil die Lehre ihm als ein Ganzes vorschwebte, weil sie eins mit seinem Glauben war, die Wärme und Lebendigkeit des Glaubens hatte. Von seinem Verstande und seiner Phantasie beleuchtet, war die Welt auf einmal durchsichtig geworden; es war der bedeutungsvolle Augenblick, wo die abendländische Menschheit eine neue Bewußtseinsstufe betrat, von der sie das Geglaubte auch erkennen und bald nicht glauben wollte, was sie nicht erforscht und erkannt hatte. War Luther anfangs glücklich im unbefangenen Durchschweifen der biblischen Glaubenswelt, so sah er doch bald die Notwendigkeit ein, ihr durch unantastbare Lehrsätze ein festes Gerüst zu geben, damit der Glaube sich nicht verflüchtige, verwirre und verwildere. Der Kirche, die er bekämpfte, mußte er darin folgen, daß er ein Gebäude von Dogmen errichtete, um dem menschlichen Wahn, der menschlichen Willkür und Selbstgefälligkeit ein Ziel zu setzen. Denn es zeigte sich bald, daß er nicht nur mit Gläubigen zu tun hatte, sondern mit alltäglichen Menschen, die belehrt und bekehrt werden mußten, mit Gleichgültigen, mit Widerstrebenden, mit Toren, mit Besserwissern. Zwar unterschied Luther selbst das bloße Fürwahrhalten vom Glauben; aber da nur wenige den Glauben hatten, mußte man sich inzwischen mit dem Fürwahrhalten der Lehre begnügen und es fordern. Denn aus irgendeiner Ansicht des Lebens, aus einer Ansicht von der Bestimmung des Menschen fließt doch das menschliche Tun, sofern es ein Tun genannt werden kann und nicht bloß durch äußeren Zwang oder durch den natürlichen Trieb der Selbstsucht bestimmt ist.

Luthers Nachfolger, die evangelischen Geistlichen des 17. und gar die des 18. Jahrhunderts befanden sich in einer von der seinigen ganz verschiedenen Lage. Sie waren in den wissenschaftlichen Betrieb der Zeit eingeordnet, waren Gelehrte, Fachleute, das Aufspalten der Glaubenssätze in Begriffszellen, sie zu schleifen und zu walzen war ihr Beruf. Da es zu ihren Aufgaben gehörte, das Bekenntnis gegenüber Andersgläubigen zu verteidigen und festzustellen, suchten sie seine Gültigkeit womöglich mathematisch zu beweisen. Mathematik war mit Wissenschaft fast gleichbedeutend geworden. Von diesem Zeitgeist waren sie so erfüllt, daß sie die Beweise selbst am liebsten zur Mathematik gemacht hätten. Die wunderbaren Sinnbilder des Glaubens schwankten seltsam anschlußlos in der mechanisierten Welt. Ohne zu bedenken, daß die wissenschaftlich formulierten Begriffe nur von den Fachleuten verstanden wurden, brachten die Geistlichen sie auch auf die Kanzel und bedrängten die nach Trost und Erhebung sich sehnenden Zuhörer mit unfruchtbarem Gezänk.

Wohl gab es unter den Orthodoxen auch gute Hirten ihrer Gemeinde; aber die vielen Streitsüchtigen, Gehässigen, Verfolgungswütigen machten die Laien mißtrauisch gegen ein Christentum, einen Liebesglauben, der auf so bissige Art vorgetragen wurde. Angewidert von der Dürre der evangelischen Kirche wendeten sich viele Protestanten wieder dem Katholizismus zu, wo freilich das veränderte Bewußtsein der Zeit sich auch, obschon in anderer Weise bemerkbar machte. Immerhin herrschte dort Einmütigkeit in der Lehre, die überhaupt weniger durch das Wort als durch die sakramentalen Vorgänge in das tägliche Leben eindringt.

Der Versuch, dem verknöcherten Luthertum neues Leben einzuflößen, wurde gegen das Ende des 17. Jahrhunderts von einem bedeutenden Theologen gemacht, der aus dem Elsaß stammte. Philipp Jakob Spener, 1635 geboren, war zuerst von einer frommen Frau, der Gräfin Agathe von Rappoldstein, später durch das kirchliche Leben von Straßburg und Genf beeinflußt worden. Die Mitwirkung der Gemeindeglieder bei kirchlichen Dingen, die er in Genf kennengelernt hatte, hatte ihm Eindruck gemacht, ebenso die Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat, die in so wohltuendem Gegensatz stand zu der Unterwürfigkeit der evangelischen Pfarrer im Verhältnis zu den Fürsten im Reich. In der Einsicht, wie sehr die Untertanenanhänglichkeit der evangelischen Kirche schadete, hat er gelegentlich gesagt, man würde es einer heidnischen Obrigkeit gegenüber leichter haben. Er griff auf die Lehre vom Priestertum aller Christen zurück, der auch Luther angehangen hatte, bis er um der Ordnung und Sicherheit seiner Kirche willen sie den Fürsten untergeordnet hatte. Wollte Spener die Gemeinde heranziehen, mußte er sie vor allen Dingen durch eine andere Art der Predigt, überhaupt eine andere Art der Religiosität gewinnen. Seinem eigenen Gefühl entsprechend, vermied er alles Streiten über Lehrfragen, suchte vielmehr auf das Gemüt zu wirken und das Leben zu bessern. Er versammelte die Willigen im kleinen Kreise, las mit ihnen die Bibel, vertiefte sich mit ihnen in ihre Geheimnisse und regte religiöses Leben in ihnen an. Um die Bibel zu verstehen, sagte er, bedürfe es keiner Gelehrsamkeit, sondern der Erleuchtung durch den Heiligen Geist, die jedem zuteil werden könne. Das Christentum sei keine Lehre, die in den Kopf gehämmert werden könne, sondern eine lebendige Kraft, die das Gemüt ergreife und sich im Leben betätige. Auch der gelehrteste Theologe sei kein wahrer Christ, wenn er nicht wiedergeboren sei.

Wie lebhaft im Volke die Sehnsucht nach religiöser Erhebung war, zeigte sich in dem Entgegenkommen, das Speners Bemühung fand. Auch viele Theologen stimmten ihm zu. Es erwuchs eine nach allen Seiten um sich greifende Bewegung, die man Pietismus nannte; es war, als sei ein belastender Stein von den Gemütern abgewälzt, und der befreite Quell des Glaubens springe freudig hervor. Allmählich aber hängte sich allerlei Unrat an die neue Richtung. Weniger die echten Gläubigen, die zurückhaltend zu sein pflegten, drängten sich dazu, als die Nichtigen, die hier Gelegenheit fanden, sich hervorzutun, ihre Gefühle zu ergießen, ihre Sünden zu bekennen, sich als Erweckte zu gebärden und bewundern zu lassen. Adlige Herrschaften und Handwerksgesellen schwelgten in einer frommen Verbundenheit, die im Leben keine Folgen hatte. Da nur die Wiedergeburt den wahren Christen mache, hielten viele Pietisten das Studium und schließlich auch den Pfarrer und den Kirchenbesuch für überflüssig. Manche glaubten ihren Widerwillen gegen die Gelehrsamkeit und ihr Erleuchtetsein durch ein kindisch läppisches Gebahren am besten beweisen zu können. Es gab wohl Pietisten, die, wie Spener, ihr Leben im Lichte der Ewigkeit leben wollten; aber im allgemeinen führte die Meinung, es komme nicht auf die Lehre, sondern auf das Leben an, zu einer ängstlichen Abwehr aller natürlichen Lebenslust, zu duckmäuserischem und kopfhängerischem Wesen. Es wiederholte sich eine Entwicklung, wie sie einst Luther mitangesehen hatte, und wie er, so entschlossen sich auch seine Nachfolger, sie zu bekämpfen. Es erinnert an die Ketzermacherei der alten katholischen Kirche, wenn die Wittenberger Fakultät Spener 283 Irrtümer nachrechnete. Ein solcher Angriff war ohnmächtig wie ein plumper Saurier inmitten einer neuen, geschwinderen Welt, Spener brauchte ihn nicht zu fürchten. Seine Wirkung auf die Zeitgenossen war außerordentlich und das religiöse Leben erfrischend, aber doch auch auflösend, wie denn die vorherrschende Richtung seiner Zeit alle Bewegungen für sich auszunützen weiß. Ein Schüler Speners war Gottfried Arnold, der Verfasser der Kirchen- und Ketzerhistorie, deren Grundgedanke war, daß das wahre Christentum zu jeder Zeit bei den Ketzern und Mystikern, nicht bei der Kirche gewesen sei.

Den Standpunkt und das Recht des orthodoxen Luthertums erkennt man am besten aus dem Verhalten und den Ausführungen eines lutherischen Theologen, der etwa 40 Jahre jünger als Spener war, des Valentin Ernst Löscher. Er entstammte einem Geschlecht, das seit langer Zeit in der Gegend von Zwickau ansässig war. Ihm war die Neigung zu wissenschaftlicher Beschäftigung angeboren, und zwar interessierte er sich hauptsächlich für Geschichte und Altertumskunde; nur der Wunsch seines Vaters bewog ihn, Theologie zu studieren. Auch als Theologe suchte er möglichst viel Zeit für seine Lieblingsfächer zu erübrigen. Er war einsichtsvoll, billigdenkend und gründlich. Als ihm allmählich klar wurde, wie vereinzelt und gefährdet die Kirche Luthers war, beschloß er, die Ursachen davon gründlich kennenzulernen, um sie gegen alles, was sie zu zerstören drohte, verteidigen zu können. Nach langem Studium tat er es in klarer und bestimmter Weise.

Drei Gegnern sah er sich gegenüber und suchte sie zu entwaffnen: den Pietismus, die Mystiker und den Rationalismus. Dem Pietismus war er anfangs nicht feind gewesen, er trat sogar für die Herrnhuter ein, eine pietistische Sekte, die sich infolge der Vertreibung der mährischen Brüder und ihrer Ansiedlung in Sachsen gebildet hatte; erst später wandte er sich von ihnen ab. Als Grundirrtum des Pietismus bezeichnete Löscher, daß er Leben und Lehre als Gegensätze einander gegenüberstellte, während sie eins sein sollten, so daß das Leben aus der Lehre hervorgehe. Es war ein Streit wie über den Glauben und die guten Werke. Allerdings sei die Erkenntnis das den Menschen als edelstes Geschöpf Bezeichnende, aber der Wille müsse von ihr befruchtet werden. Was er ferner dem Pietismus vorwarf, faßte er nicht in 283, sondern in einige Punkte zusammen. Die Behauptung, nur der Wiedergeborene sei der wahre Christ, führe dazu, daß die Pietisten sich innere Erlebnisse vorgaukelten, daß sie sich zerfaserten, um Spuren des Erwecktseins zu finden, und daß sie in Verzweiflung fielen, wenn ihnen das nicht glückte. Daß sie in der Meinung, der Glaube müsse sich durch heiliges Leben erweisen, die natürliche Welt verdammten, die Teilnahme an Tanz, Spiel und jeder Lustbarkeit für sündhaft erklärten, widerspreche der Lehre, die die Liebe zur Kreatur gestatte. Ein Irrtum sei es, nur die Kirche für die wahre zu halten, die lauter vollkommene Glieder habe. Irrtümlich sei die Meinung, daß das sündhafte Leben eines Geistlichen die Gnadenwirkung des von ihm verkündeten Wortes aufhebe. Der Prediger müsse ordentlich berufen sein und richtig lehren, das Amt als solches sei das Organ der Gnade Gottes. Ein Irrtum sei die Verachtung der Kirche; sie sei nicht göttlich, aber doch zu verehren.

Setzte sich Löscher dem Pietismus gegenüber für den Wert von Wissenschaft und Vernunft ein, so bekämpfte er ebenso nachdrücklich die Gleichsetzung der menschlichen Vernunft mit Gott durch den Rationalismus. Die Annahme der Vernunft als höchstes Prinzip, die Christian Wolff zur Grundlage seiner Philosophie machte, war um so gefährlicher, als diese Philosophie eine Stütze des Christentums sein sollte. In der Tat wurde sie rasch zur Weltanschauung der gebildeten Protestanten. Wolff übernahm Leibnizens Lehre vom zureichenden Grunde und verknüpfte durch das eiserne Netz der Kausalität alle Erscheinungen zu einer von der Notwendigkeit beherrschten Einheit. Löscher selbst hatte einmal, als er die katholische Kirche bekämpfte, die Unhaltbarkeit ihrer Lehre mit mathematischer Genauigkeit nachweisen wollen. »Mathematisch soll der Beweis geführt werden«, hatte er damals, der Neigung seiner Zeit folgend, gesagt. Diese Anwandlung hatte er überwunden durch die Einsicht, daß es falsch sei, mathematisches Denken auf die Religion anzuwenden. Die Art, wie er dartut, daß die Wolffsche Philosophie sich mit der christlichen Religion nicht vereinigen läßt, ist von leuchtender Überlegenheit. Die Religion, sagt er, könne ohne Geheimnisse, die in diesem Leben nicht zu ergründen seien, nicht bestehen und sich infolgedessen mit einer Philosophie nicht vertragen, die alles mathematisch demonstrieren wolle. Daraus, daß Gott in der Natur alles nach Zahl, Maß und Gewicht geordnet habe, folge nicht, daß man alles erklären könne. Es gehe wohl vieles mechanisch zu, aber nicht alles und nicht nur mechanisch. Es habe nicht alles einen von der menschlichen Vernunft zu begreifenden Grund, Gott habe wohl alles weise geordnet, aber nicht immer für uns erkennbar. Die wahre Religion setze Freiheit des Menschen voraus und ein Gewissen des Menschen als Regel seines Handelns, das nicht ein Naturtrieb, sondern von Gott gegeben sei. »Es ist und bleibt«, sagt er, »eine höhere Ordnung in der Welt über der mechanischen, welche die mechanische nicht ausschließt, sondern durchdringt, zugleich in sich schließt und beherrscht.« In der Wolffschen kausalen Welt habe das Gebet keine Stelle. Wohl könne der Philosoph sagen, es sei so geordnet, daß die Erhörung des Gebetes in notwendiger Folge mit dem Gebet zusammenhänge; aber das wahre Gebet ringe mit Gott um die Erhörung. Mit untrüglichem Scharfblick verwarf er auch Leibnizens Lehre von der besten Welt, und daß die Sünde zur Vollkommenheit der Welt gehöre wie das Triebrad zum Uhrwerk. Von der Philosophie überhaupt sagte Löscher, sie solle nicht systematisch sein, denn unser Wissen sei Stückwerk.

Aus Löschers Verhältnis zum Rationalismus geht hervor, daß er für die Mystiker Verständnis hatte; nur verlangte er, wie Luther, sie sollten nicht faseln und ins Bodenlose ausschweifen, was man damals Schwärmen nannte, sondern sich an den Geheimnissen der Heiligen Schrift genügen lassen.

Löscher war tief genug in das Denken Luthers eingedrungen, um den Zeitgenossen seine religiösen Anschauungen erklären zu können; aber er besaß weder die Glaubenskraft Luthers noch seine magische Persönlichkeit. Er sah mit Schrecken die Zunahme der Gleichgültigkeit und auch Abneigung gegen die christliche Religion, die Verkennung ihres Wesens auch bei denen, die eine Art von Anhänglichkeit an sie bewahrt hatten; denn selbst die Geistlichen fingen an, die Prinzipien der Wolffschen Philosophie in die Theologie einzuführen. Die Zeit werde kommen, sagt er, wo die Vernunftgläubigen das Schwert gegen die Religiosität kehren und die Religion mit Füßen treten würden. Quo ruitis? nannte er eine Schrift, die er im Jahre 1735 veröffentlichte. Seht ihr nicht, daß ihr dem Abgrunde zueilt? Aber weder das grimmige Ausdreschen der Glaubenssätze, wie die Orthodoxen es nach wie vor betrieben, noch das standhafte Behaupten und Erklären der Lehre, wie Löscher es tat, konnten den Gebildeten des 18. Jahrhunderts den Glauben an Dogmen erhalten, zu denen sie den Weg verloren hatten. Sie hatten die Sprache verlernt, in der sie ausgedrückt waren, und kein Lehrer konnte sie lehren, weil sie das Organ dazu verloren hatten.


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