Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Jahre 1775 erschien, von einem jungen Dichter verfaßt, die Geschichte des Ritters Götz von Berlichingen in dramatischer Form, die Geschichte eines Raubritters, der das Fehderecht für sich in Anspruch nahm, nachdem es von Kaiser und Reich förmlich aufgehoben war. Der junge Dichter, Goethe, ließ ihn als Helden auftreten, als freien deutschen Mann, der die Schwachen, Verunrechteten beschützt, die Bedränger der Armen straft. Als den Mann, den die Fürsten hassen, und an den die Bedrängten sich wenden, feiert ihn der Mönch, der den Namen Luthers trägt. Auf eingehender Kenntnis der öffentlichen Verhältnisse des späten Mittelalters aufgebaut, ist die frühlingsbrausende Dichtung ein echtes Gemälde der Zeit, in der sie spielt, und spiegelt zugleich das Geistesleben der Zeit ihrer Entstehung. Das Schwert, das im 16. Jahrhundert dem untergehenden Rittertum aus der Hand fiel, der Dichter des 18. Jahrhunderts rafft es auf und schwingt es anklagend gegen die Sieger von damals, die Fürsten, die die Tyrannen von heute geworden sind. Sie, die dem Kaiser ein Stückchen seiner Macht nach dem andern ablisteten, putzen sich mit den Fetzen seines Purpurs, machen sich selbst allmächtig, um alle anderen zu ihren Untertanen und Knechten zu machen. »So sind unsere Herren ein verzehrendes Feuer, das sich mit Untertanen, Glück, Habe, Blut und Schweiß nährt, ohne gesättigt zu werden.« Aber aus ihrem Tun selbst erwächst die Rache. »Wehe, wehe denen Großen, die sich aufs Übergewicht ihres Ansehens verlassen! Die menschliche Seele wird stärker durch den Druck.« Eh Hauch kräftigen beschwingten Lebens durchweht das Jugendgedicht, das mit sanftem Sausen und stürmischem Grollen einer Phantasie über das Wort Freiheit gleicht. Das Wort erklingt immer wieder, es erklingt wie ein Schlachtruf, wie ein stolzes Bekenntnis, wie eine feierliche Beschwörung, wie ein sehnsüchtiger Seufzer. Als der umzingelte Ritter seinen Freunden das letzte Glas Wein aus der letzten Flasche einschenkt, sagt er: »Und wenn unser Blut anfängt auf die Neige zu gehen, wie der Wein aus dieser Flasche erst schwach, dann tropfenweise rinnt – was soll unser letztes Wort sein? Es lebe die Freiheit! es lebe die Freiheit! und wenn die uns überlebt, können wir ruhig sterben.« Freiheit ist der letzte Atem, das letzte Gebet des sterbenden Gefangenen. »Setzt mich hier unter den Baum, daß ich noch einmal die Luft der Freiheit aus voller Brust in mich sauge und sterbe. Himmlische Luft! Freiheit! Freiheit!« Der Ritter Berlichingen ist zum Bilde des deutschen Volkes geworden, das im Kerker schmachtet, von den Fürsten gefesselt, seiner alten Ehren und Rechte beraubt. Von den Lippen eines Sterbenden löst sich das heilige Wort wie ein fragender Seufzer, dem die Antwort wird: »Nur droben bei dir! Die Welt ist ein Gefängnis.« Die deutsche Welt ist die Welt der entrechteten Untertanen.
Am Schluß des Egmont erscheint die Freiheit selbst, glänzend im himmlischen Gewände, von Klarheit umflossen, von Wolken getragen, und weist dem Todgeweihten als Zeichen künftigen Sieges ein Bündel Pfeile, den Stab mit dem Hut und das Blut an ihrem Saum. Wie das Meer durch die Dämme bricht, wird das Volk den Wall der Tyrannei durchbrechen. Nicht als Seufzer, als Siegesmarsch ist Freiheit das letzte Wort dieser Dichtung.
Unter dem Druck des Absolutismus besannen sich die Deutschen auf die Freiheit als auf ein Recht, das ihnen gebühre, und das ihnen einst zu eigen gewesen war. Man kann zwei Wurzeln verfolgen, aus denen ihnen das Bewußtsein, ein Recht auf Freiheit zu haben, erwuchs: das Naturrecht und das Volksrecht.
Das Naturrecht fiel ursprünglich mit dem göttlichen Recht zusammen. An den göttlichen Ursprung des Rechts glaubten das heidnische Altertum und das christliche Mittelalter. Man unterschied das ungeschriebene Recht von dem geschriebenen, das von Menschen gemacht war, ein ewiges, unveränderliches von dem veränderlichen staatlichen Recht. Cicero schildert das Recht der Natur als allen geschriebenen Gesetzen, ja dem Dasein aller Staaten vorangehend, als das gleiche in Rom, Athen und überall, ewig dauernd und unveräußerlich, aller Menschen Meister, Herr und Gott. Augustinus unterschied die lex aeterna, die göttliche Vernunft, das Wort Gottes, und die lex naturalis, die Gott in das menschliche Herz eingepflanzt hat, Thomas von Aquino die lex aeterna, das heißt die die Welt leitende Vernunft, die im göttlichen Geist ihr Dasein hat, die lex naturalis und die lex humana. In der Glosse zum Sachsenspiegel heißt es, daß das natürliche Recht auch Gottes Recht heiße, weil Gott das Recht allen Kreaturen geschenkt habe.
Die Reformatoren behielten die von den Kirchenvätern angenommene Lehre über das Naturrecht bei; doch finden wir bei einigen schon die Neigung, das Naturrecht, als in der Vernunft beruhend, von Gott und von Gottes Wort wenn nicht geradezu zu trennen, aber doch von Gott unabhängig zu machen. Gott selbst, hieß es da, könne es nicht ändern, da es Gott selbst sei. Dieser Gedanke erscheint bei Grotius wieder in der Form, daß er sagte, das Naturrecht würde zu Recht bestehen, wenn es auch keinen Gott gäbe. Dadurch wurde es tatsächlich der menschlichen Vernunft übereignet und zu einer selbständigen Macht erhoben. Auch nannte man seitdem das Naturrecht häufig in gleicher Bedeutung Vernunftrecht. Es bekam einen subjektiven und wissenschaftlichen Charakter, die Juristen bemächtigten sich seiner, es wurde an den Universitäten gelesen. Das Neminem laedere und suum cuique tribuere blieb noch Grundsatz, aber es herrschte doch mehr Willkür in dem, was jeder Lehrer aus der Vernunft folgern wollte. Im allgemeinen galt die Naturrechtslehre des englischen Philosophen Locke, der als unveräußerliches Recht des einzelnen das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum festgesetzt hatte. Es folgte daraus, daß niemand seines Lebens, seiner Freiheit und seines Eigentums beraubt werden könne, außer nach den ordentlichen Gesetzen und im ordentlichen Verfahren seines Landes. So war es in England.
Wenn man zugibt, daß die Gläubigkeit des Mittelalters, die Luther noch einmal zu hoher Flamme angefacht hatte, erloschen war und daß die Bemühungen frommer und edeldenkender Männer wie Calixt und Spener ihr nicht die frühere Kraft wiederzugeben vermochten, so wird man die Verselbständigung des Naturrechts preisen müssen. Das göttliche Recht, wenn man es auch noch hie und da im Munde führte, war fern gerückt, es bedeutete den meisten Menschen nichts mehr; im Naturrecht blieb sein Abglanz, blieb der überirdische Charakter des Rechts erhalten. Daran konnte sich das Rechtsgefühl der Menschen immer wieder entzünden, während es erlischt und verdirbt, wenn es an das gebrechliche irdische Recht gebunden ist.
Das Volksrecht hat seine Wurzel in den Rechtsbüchern und Gewohnheiten der germanischen Stämme. Wenn es auch den Freien, der das Heer bildete und den König wählte, nicht mehr gab, so war doch sein Rechtsstand unvergessen, zumal seit Montesquieu die Erinnerung an die Freiheit der germanischen Wälder neu belebt hatte. Auch war in der Stände Verfassung, die in einigen deutschen Ländern noch bestand und sogar wirksam war, der Freiheit der Untertanen so weit Rechnung getragen, daß die Vertreter dem Landesherrn ebenbürtig, ja fast besser ausgerüstet gegenüberstanden. Nicht allzuweit lag die Zeit zurück, wo den Untertanen gewisser Länder das Recht des Widerstandes zugebilligt war, im Fall der Landesherr ihre Freiheit verletzte. Die Engländer betrachteten die verschiedenen Gesetze, durch welche sie sich vor Vergewaltigung durch den Landesherrn sichergestellt hatten, als ihr Birthright, ein ihnen angeborenes Recht, dessen Quelle nach ihrer Meinung das alte sächsische Recht war, das sie aus ihrer norddeutschen Heimat auf ihre Insel herübergebracht hätten. Den Despotismus schrieben sie der normannischen Einwanderung zu, deren üble Folgen sie im Geist der alten Sachsenfreiheit überwunden hätten. Die nordischen Völker, zu denen die im Reich lebenden Niedersachsen und Friesen gezählt wurden, galten von jeher als wesentlich freiheitsliebend. Der französische Gelehrte Bodin, der im 16. Jahrhundert lebte, sagte von ihnen, daß sie sich nicht einem einzigen unterwürfen, sondern in Republiken und Wahlmonarchien lebten. Man nahm an, daß die Schweizer von den Schweden abstammten.
Der Charakter der Freiheit, die aus dem Naturrecht erwächst, unterscheidet sich von der aus dem Volksrecht erwachsenen, und ebenso der Charakter der Menschen, die den beiden Strömungen anhangen. Die volksrechtliche Freiheit beruht auf Freiheiten, die erkämpft und erworben wurden, die naturrechtliche ist eine allgemeine, allen Menschen zustehende; der jener verpflichtete Mensch bildet sich seine Überzeugung aus dem Leben, an geschichtlichen und persönlichen Erfahrungen, er fußt auf bestimmten, begrenzten Rechten, der andere bildet sich seine Überzeugung an Begriffen, die allgemeiner und schrankenloser sind. Jener ist konservativ, dieser ist radikal. Revolutionär können beide sein, aber der eine wird eher die Massen, der andere die führende Schicht ins Treffen rufen. Von den deutschen Dichtern vertritt Goethe die volksrechtliche, Schiller die naturrechtliche Dichtung. Es ist merkwürdig, daß Schiller, ein Angehöriger des Landes, dessen Stände den Despotismus so rühmlich bekämpft hatten und auch später so nachdrücklich, beinah eigensinnig auf dem alten Recht beharrten, seiner Freiheitsdichtung eine mehr naturrechtliche Grundlage gab. Daß Goethe, Sohn der alten Reichs- und Krönungsstadt, volksrechtlich und konservativ fühlte und dachte, ist verständlich.
Ähnlich wie Goethe und Schiller standen sich auf ihrem, dem staatsrechtlichen Gebiet, Justus Moser und Schlözer gegenüber. Schlözer war im Hohenloheschen geboren. Der Graf von Hohenlohe, stolz auf einen so gelehrten und berühmten Untertan, empfing ihn gern zum Besuch, nötigte ihn zu sich aufs Sofa, lud ihn zum Essen ein und setzte ihm sein Lieblingsgericht vor: Pökelfleisch und Sauerkohl. Schlözer war lebhaft, genußfähig, scharfsinnig, unermüdlich wachen und tätigen Geistes; in seiner Jugend liebte er es zu reisen und scheute dabei keine Anstrengung. Berühmt machte ihn die periodische Zeitschrift, die er, unter dem Titel Briefwechsel und Staatsanzeigen in den Jahren 1774 bis 1794 erschienen, herausgab. Er brachte darin politische, statistische, wirtschaftliche und sonst merkwürdige Nachrichten aus allen Ländern, hauptsächlich aus denen des Reichs, und erzählte alle Mißgriffe, Torheiten und Untaten der deutschen Fürsten, die zu seiner Kenntnis kamen. Mit Vorliebe schwang er seine Geißel über die geistlichen Fürsten. Der Briefwechsel machte ihn zum reichen Mann, so begierig wurde er gelesen. Seine guten Beziehungen zum Ausland bewirkten, daß er von vielen Seiten mit interessantem Stoff versehen wurde. Da berichtet er über die Einrichtungen der Bank von Hamburg, der solidesten in Europa, die ohne Bankzettel und imaginäres Geld arbeitete, über die vielen Zollstellen am Rhein, über die Toleranzedikte Josephs II., über die Intoleranz der pfälzischen Regierung, über die Borniertheit der Mainzer, welche sich der Verlegung der Friedhöfe aus der Stadt widersetzten. In der allgemeinen Öffentlichkeit sah er eines der wichtigsten Hilfsmittel für alle Gebrechen. »Ihr Helvetier«, schrieb er dem unglücklichen Pfarrer Waser, »seid bisher eine stille Polyphemshöhle. Alles geschieht hinterm Vorhang, keiner tuts Maul auf, und die Herren sprechen noch von Freiheit dabei. Heraus, wer ein gutes Gewissen hat. In Aachen, in Rom (in dem Cäsars), in London, in Württemberg, in Mecklenburg wird alles bei offener Tür verhandelt, in Ispahan, Venedig, Versailles ist alles mausestill. Publicitas ist der Puls der Freiheit.«
Die Unerschrockenheit Schlözers machte allerdings vor den Großmächten halt, besonders vor dem mit Hannover verbundenen England, unter dessen Schutz die Göttinger Professoren sich einer weitgehen den Pressefreiheit erfreuten; allein seine rüstige Feder stöberte auch sonst genug Unrat auf, den es auszukehren galt. Die Zeitgenossen verglichen ihn mit Luther. Von den vielen kleinen deutschen Souveränen drängten sich manche an ihn heran, versorgten ihn mit Nachrichten und suchten ihn von ihrer guten Gesinnung zu überzeugen. »Mein werthester Herr Professor«, schrieb der Herzog von Meiningen, »schon mehrmals haben Sie durch mich, ohne daß Sie es wußten, Beiträge zu Ihrem interessanten Briefwechsel erhalten. Die Güte und Diskretion, mit der Sie es jedesmal aufnahmen, und die nähere Kenntnis, die ich nun von Ihnen und Ihren wohltätigen Absichten habe, ermuntert mich, Ihnen hiermit zu versprechen, daß ich alles, was in meinen Kräften steht, beitragen werde, Ihnen wichtige und lesenswürdige Nachrichten mitzuteilen, um dadurch Aufklärung und Duldungsgeist zu befördern und Bosheit und Dummheit zu entlarven und zu unterdrücken. Eine Folge des letzteren ist der Aufsatz, den ich hier zu Ihrer Verfügung und zu Ihrem Gebrauch beilege. Die Geschichte hat bei uns in Franken viel Aufsehen erregt, und die Behandlung des Fürsten gegen seine Untertanen ist unerhört und recht ohne Kopf. Was wird der gute Kaiser Joseph dazu gesagt haben?! Denn es ist sogleich einer von den Grafen Löwenstein-Wertheim nach Brüssel zu dem Kaiser gereist, um ihm die Sache zu erläutern und untertänigst Vorstellung zu tun und um Hilfe und Beistand zu bitten. Sollten Sie, würdiger Mann, dieses nicht zur Ehre Deutschlands bewerkstelligen können? Ihr Briefwechsel wird überall gelesen und ist jetzt das einzige Buch seiner Art, das so allgemeinen Nutzen auftut und so manche gute Idee in dem Herzen eines wohldenkenden Regenten erweckt. O bester Mann, fahren Sie doch fort, uns so viel Gutes und Nützliches bekannt zu machen, und lassen Sie sich nie durch etwas abschrecken, Ihr Journal fortzusetzen … Ich hoffe, daß Sie mich richtig beurteilen und die Freiheit und Offenheit entschuldigen werden, mit welcher ich Ihnen schreibe. Ihre Verschwiegenheit in dergleichen Fällen läßt mich hoffen, daß Sie auch mich nicht nennen werden, und so werde ich mich im Stande sehen, Urnen noch viel große und wichtige Dinge in der Folge mitzuteilen, welche es Ihnen nicht werden gereuen machen, mit mir bekannt zu seyn.« Ein Graf Fugger hält es für strenge Pflicht, Schlözers patriotisches, unsterblichen Dank verdienendes Bemühen um Ergründung der Wahrheit nach Kräften zu unterstützen. Aber auch die Mächtigen rechneten mit dem journalistischen Wächter; wenigstens wurde erzählt, Maria Theresia habe einen Vorschlag des Staatsrates mit den Worten abgelehnt: »Nein, das geht nicht. Was würde Schlözer sagen!«
Der ungemeine Beifall, den Schlözer erntete, und die Furcht, die er einflößte, erklären sich daraus, daß seine Opposition dem Geiste der Zeit entsprach. Er war ein Aufklärer, wie es die großen absolutistischen Regenten Friedrich II. und Joseph II. waren, denen sich viele von den kleineren anschlossen. Er bekämpfte Aberglauben, Hexenprozesse, Tortur, Ungleichheit der Besteuerung, Sklaverei, alles was die allgemeine Glückseligkeit und den allgemeinen Wohlstand aufzuhalten schien. Er glaubte an den Fortschritt, an die Güte der menschlichen Natur, an die Möglichkeit, durch vernünftige Einrichtungen und Erleuchtung des Verstandes ein Paradies auf Erden zu schaffen. »Sind nicht jene Staaten die glücklichsten«, heißt es in dem Staatsanzeiger, »die die meisten glücklichen Menschen enthalten? Die glücklichsten Staaten sind auch die stärksten. Sind nicht in jenen Staaten die meisten und die glücklichsten Menschen, wo die meisten Mittel vorhanden sind, die Bedürfnisse eines jeden Individualmenschen zu befriedigen? Sind nun jene Staaten glücklicher, die viel Adel und Geistlichkeit haben? Oder jene, die viel Fabriken, Manufakturen, Handel, Handwerk, Künste, Gelehrte und Soldaten haben? Warum verwandeln die Landesherren die Klöster und Stifte nicht in Fabriken und Manufakturen? Die Adligen in Gelehrte und Soldaten? Könnte im Staate ein größeres Übel sich zutragen, als wenn viele Menschen desselben heilig werden wollten? Wozu die sogenannten Legenden, die Verstand und Herz verderben? Wozu die Pfaffen beiderlei Geschlechts, die Feinde des Staates sind und Feinde des Staates ziehen? Verträgt es sich mit der Vernunft, zu glauben, daß die Natur und der Schöpfer aller Wesen Geschöpfe derselben Klasse durch Geheimnisse necke? Und daß nicht alle Menschen gleiche Mittel haben, glücklich zu seyn? Steht für Europa, insonderheit für Deutschland Glückseligkeit zu erwarten, solange Geburt und Salbung das Monopol der menschlichen Glückseligkeit haben? Solange man glückselig seyn kann ohne nützlich zu seyn?« Schlözer selbst würde diese Ansichten verständiger, gebildeter ausgedrückt haben, aber es waren die seinigen, das Bekenntnis der Aufklärung.
Die Aufsätze Justus Mosers, die im Osnabrücker Intelligenzblatt seit 1768 erschienen und vom Jahre 1774 an von seiner Tochter gesammelt und unter dem Titel »Patriotische Phantasien« herausgegeben wurden, fanden nicht so viele Leser wie Schlözers Briefwechsel und Staatsanzeigen, aber ein kongenialer Geist wie Goethe nannte sie Goldstaub und Goldkörner, die soviel wert wie Goldbarren wären. Es war etwas Unerhörtes, namentlich für einen Protestanten, etwas dem Zeitgeist ganz Widerstrebendes, daß Moser im Mittelalter, das als die Zeit der Finsternis und Barbarei betrachtet wurde, eine Blütezeit des deutschen Volkes sah, in der sich sein Wesen vorbildlich entfaltete. Er war ein Feind der Zentralisation und der allgemeinen Begriffe, er liebte das Konkrete, das Provinziale, das Individuelle, er ging vom einzelnen Fall aus. Er war ein Feind der Beamten und des Heeres, er liebte den selbständigen Bauern und Bürger, die sich selbst verwaltende Gemeinde. »Alle sind geneigt«, schrieb er, »den fürstlichen Dienern überall große Vorzüge einzuräumen. Sollte aber der Mann, der seinen Ellbogen auf seinen eigenen Tisch stützt und von seinem Fleiß oder Vermögen wohl lebt und anderen Gutes tut, nicht ebenso gut sein, als der sich im Dienste krümmt? Soll man den Hunger nach Bedienungen, der jetzt überhand nimmt und so manchen tapferen Kerl dem Fleiße und der Handlung entzieht, noch durch Vorzüge und Ehre reizen? Ist denn das deutsche Herz so tief herabgesunken, daß es schlechterdings den Dienst über die Freiheit setzt? Und sehen die Leute nicht, daß, da sie solchergestalt allen Vorzug dem Dienste geben, kein Mann von Ehre und Empfindung der ungeehrten Freiheit treu bleiben werde?« Bei Moser hört man nichts von Fortschritt, von Gleichheit, von Glückseligkeit, und die Freiheit, die er herbeisehnte, war das Recht des einzelnen, sich als Glied seiner Gemeinde und weiterhin seiner Provinz und seines Staates selbständig, kräftig, nach eigenem Gesetz zu entfalten.
Als ein dritter Freiheitskämpfer ist Karl Friedrich von Moser zu nennen, der Sohn jenes Johann Jakob Moser, den Herzog Karl von Württemberg fünf Jahre lang auf dem Hohen Twiel gefangengehalten hatte. Ganz im Sinne seines Vaters haßte und bekämpfte er den Absolutismus. Goethe erwähnt ihn als einen Mann, der bedeutenden Einfluß auf ihn gehabt habe, und erinnert sich seiner als eines angenehmen, beweglichen und dabei zarten Mannes. Moser lebte mehr als Schlözer und Moser in den Traditionen der Reichsverfassung; er sah es als die Pflicht eines deutschen Patrioten an, die Reichsverfassung soviel wie möglich zur Wirklichkeit zu bringen. Den Absolutismus mit allen seinen Zutaten sah er als eine Entartung an, die durch Verwirklichung der Reichsverfassung überwunden werden müsse und könne. »Wir haben in Deutschland keine Könige, sondern Kurfürsten, Fürsten und Stände des Reichs, die in einer gesetzmäßigen Verbindung und Verhältnis mit dem von ihnen zum Oberhaupt und Richter gewählten Kaiser stehen, die an Gesetz und Ordnungen gebunden sind, welche sie selbst und ihre Vorfahren errichten halfen; die ihren Vasallen, Landständen und Untertanen zu pflichtmäßiger Belassung und Bewahrung ihrer Rechte, Privilegien und Freiheiten verbunden sind. Dieser aber haben sich dieselben nie begeben, und das momentane Beugen unter den Schrecken des militärischen Joches kann nimmer als eine Erlöschung der älteren und unvernichtbaren Denkmale und Urkunden der Freiheit betrachtet werden.« In dem verfallenden Labyrinth des alten Reiches, das seinem Zusammenbruch nahe war, wandelte Moser kundig und anhänglich, wie ein Führer die Herrlichkeit des Gebäudes erklärend, obwohl keine Zuhörer mehr vorhanden waren.
Sind nun auch die beiden Wurzeln des Naturrechts und des Volksrechts und sind auch ihre Anhänger untereinander verschieden, so ist das doch eine Einteilung, bei der man nicht vergessen darf, daß die Verschlungenheit der menschlichen Seelenkräfte aller Einteilungen spottet. Tatsächlich gehen Naturrecht und Volksrecht ineinander über, wie auch die Volkscharaktere und die Charaktere der einzelnen nicht scharf voneinander abzugrenzen sind. So priesen nicht nur Justus Moser und Karl Friedrich von Moser, sondern auch Schlözer England, das Land der Tradition und volksrechtlichen Freiheit, und unter den konservativen deutschen Freiheitsfreunden ist wohl keiner, der nicht auch mehr oder weniger durch die radikale Revolution Frankreichs beeinflußt worden war. Derselbe Schlözer, der unter dem Einfluß naturrechtlicher Ideen stand, bezog sich auf historisches Recht, als im Jahre 1794 Hamburg als neutral gelten wollte, um mit Frankreich weiterhin Handel treiben zu können, obwohl der Kaiser mit diesem Lande Krieg führte. Die Reichsstadt, die sich deshalb an Schlözer wandte, an ihre Pflicht mahnend, antwortete Schlözer ablehnend: »Sagen Sie mir nicht, daß die Tricerer und Bructerer für Brüder zu erklären ein altfränkischer Gedanke sei. Mir kam's selbst so vor, als ich vorige Woche in den Zeitungen die Correspondenz zwischen Brandenburg, dem fränkischen Kreise, dem Bischof von Speyer und dem Reichsfeldmarschall las. Nur Hamburg ganz vorzüglich muß ignorieren, daß der Reichsverband so lax ist, noch minder agiren, als wäre kein Reichsverband mehr. Ohne denselben wäre Hamburg nie Hamburg geworden, ohne denselben hört es auf, Hamburg zu sein, und wird in der nächsten Generation ein Nest voll reicher Sklaven.«
Das Birthright der Engländer, das eigentlich ein altsächsisches Volksrecht sein sollte, ging bei den Engländern, die in Amerika Kolonien gegründet hatten, unmerklich in ein naturrechtliches Menschenrecht über. In der berühmten Schrift des James Otes, die 1764 erschien, sagt er, es könne zwar eine Zeit kommen, wo das englische Parlament jede amerikanische Verfassung für null und nichtig erkläre, damit seien aber nicht zugleich ihre Rechte als Kolonisten, Menschen und Bürger angetastet, die sie von Natur in ihrer Eigenschaft als solche hätten. Diese würden bleiben und könnten nicht vernichtet werden, till the general conflagration – bis zum Jüngsten Gericht. Daß Steuern und Zölle ohne die Bewilligung des Volkes erhoben würden, sei nicht gegen die Gesetze des Landes, wohl aber gegen die ewigen Gesetze der Freiheit. Das von der Natur gegebene Recht ist aber immer zugleich das altsächsische Recht, das jedem Engländer als Nachkommen der Sachsen angeboren ist. An der Spitze des altsächsischen Grundrechts steht that every Englishman is born free. In schönster Bildlichkeit erscheint die Verschmelzung von Naturrecht und Volksrecht in Schillers berühmter Rütliszene, wo die Eidgenossen, der historischen Wirklichkeit entsprechend, sich auf ihre Beziehung zum Kaiser berufen und alle Schritte tun, die Reichsfreie damals unternehmen konnten, um landesfürstlichen Druck abzuwehren, zugleich aber auch auf jenes Recht, das die Natur allen Menschen gibt. Ein Spalt oder Widerspruch ist da nicht bemerkbar, höchstens vielleicht, daß die Sprache des Dichters hinreißender aufglüht, wo er die ewigen Menschenrechte verkündet. »Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden – Wenn unerträglich wird die Last, greift er – Hinauf getrosten Mutes in den Himmel – Und holt herunter seine ewigen Rechte – Die droben hangen unveräußerlich – Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.« Aber vorher hat derselbe Stauffacher versichert: »Wir stiften keinen neuen Bund, es ist – Ein uralt Bündnis aus der Väter Zeit – das wir erneuern«, und setzt ausführlich das Recht der Freien und ihre Beziehungen zu Kaiser und Reich auseinander. Das Naturrecht ist hier die letzte Zuflucht des Menschen, wenn seine historischen Rechte vergewaltigt werden.
»Der alte Urstand der Natur kehrt wieder«, läßt Schiller seinen Stauffacher sagen. Man ging im 18. Jahrhundert von der Voraussetzung aus, daß der Staat durch Vertrag entstanden sei, in welchem der einzelne auf einen Teil der Freiheit verzichtet habe, die im Naturstande herrsche, um den Schutz der Staatsgewalt im Innern und nach außen zu genießen. Auch diejenigen, welche der Staatsgewalt die allergrößte Macht einräumten, wie Hobbes, billigten doch dem einzelnen ein kleines Überbleibsel der alten Freiheit zu, welches sie die staatsfreie Sphäre nannten. Unter dem Druck des Despotismus entstand bei den deutschen Denkern und Gebildeten der Wunsch, die staatsfreie Sphäre möglichst auszudehnen. In Humboldts Aufsatz über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates sind die Grenzen dieser Sphäre so weit gesteckt, daß der Staat, in einen Winkel gedrückt, sich nicht rühren darf außer zum Schutze der Untertanen. Er ist ein notwendiges Übel, das man geduldig oder zähneknirschend trägt. Es gab wohl auch solche, für die der Staat nicht der Gegensatz zur Freiheit, sondern ihre Bedingung und Erfüllung war, das waren diejenigen, die den englischen Staat als Muster vor Augen hatten. Der absolutistische Beamtenstaat wurde abgelehnt, unter den preußischen Beamten selbst gab es solche, die danach strebten, ihn in einen Rechtsstaat zu verwandeln. Es war das Ideal, das Kant aufgestellt hatte und das mit seiner Philosophie in das deutsche Geistesleben eindrang. Carl Gottlieb Suarez war ein freisinniger Beamter dieser Art, wie sie unter Friedrich dem Großen sich entwickeln konnte. Ihre Meinung war, in einem Staat ohne Verfassung müsse dieselbe durch einsichtsvolle, freisinnige Gesetzgebung und durch die Unabhängigkeit der Richter ersetzt werden. In den Vorträgen, die Suarez dem Kronprinzen zu halten berufen wurde, suchte er diesen mit viel Freimut für seine Ansichten empfänglich zu machen. »Darin besteht«, sagte er zum Beispiel, »der große Vorzug des Menschen als eines vernünftigen Geschöpfes, daß er frei ist, das heißt, daß sein Wille nur durch das Gewicht seines Verstandes bestimmt werden, daß er unmöglich etwas glauben kann, was er für falsch, noch etwas wollen kann, was er für böse hält. Es kann also auch im Preußischen Staat, der seine Untertanen als vernünftige Menschen behandelt, keine Gesetze geben, welche vorschreiben, was jemand für wahr halten, glauben oder verlangen und wünschen soll. Gesetze, welche Denk- und Gewissensfreiheit auf irgendeine Art verbieten wollen, sind keine wirklichen Gesetze, sondern bloße Äußerungen despotischer Willkür.« Nicht einmal die öffentliche Beurteilung und Bestreitung wirklicher Landesgesetze könne der Staat verbieten; denn auch Gesetze könnten fehlerhaft und schädlich sein, und dem Staat widerfahre eine Wohltat, wenn denkende und unparteiische Schriftsteller den König und seine Minister auf solche Fehler aufmerksam machten. Die Wahrheit könne nicht anders als gewinnen, wenn sie geprüft und angegriffen werde. Vor allen Dingen kam es Suarez darauf an, den künftigen König vor Eingriffen in die Justiz zu warnen. Der Regent dürfe nicht selbst Richter sein wollen, sagte er dem Kronprinzen, es fehle ihm dazu die nötige Kenntnis, die erforderliche Zeit, die nur durch Übung zu erwerbende Fertigkeit. Der Regent dürfe nicht durch willkürliche Verfügungen die richterlichen Erkenntnisse aufheben oder abändern. »Machtsprüche«, sagte er, »wirken weder Recht noch Verbindlichkeit. Es kann weder irgendein Minister noch ein Souverän selbst Machtsprüche tun. Diese Sätze sind die Schutzwehr der bürgerlichen Freiheit eines preußischen Untertanen. Sie unterscheiden den Bürger der preußischen Monarchie von dem Sklaven einer orientalischen Despotie.«
Friedrich Wilhelm II. hielt sich als König nicht an die Lehren die Suarez dem Kronprinzen vorgetragen hatte, sondern hantierte wieder mit Machtsprüchen, deren Friedrich der Große sich auf die Vorstellungen Coccejis hin enthalten hatte. Er suspendierte das neue Gesetzbuch hauptsächlich aus dem Grunde, daß es landesherrliche Machtsprüche als wirkungslos hinstellte. Bei einem Eingriff, den der König sich erlaubte, sagte der Kammergerichtspräsident Kircheisen zu den Kammerrichtern: Menschenfurcht sei ein Wort, das ihrem Eide und ihrer Denkungsart zuwider sei, und zum Kronprinzen: daß die gesittete Welt, dies mächtige Tribunal, übereingekommen sei, die Worte Machtspruch und Ungerechtigkeit als verschwistert zu denken. Die Erwiderung des Königs lautete: »Überhaupt muß ich Euch doch sagen, daß die Justizbedienten seit kurzem einen Ton annehmen, der mir gar nicht gefällt, denn es ist beinah, als ob sie eine Art von Parlament vorstellen wollten, welches ihnen nie gestatten, sondern sie bei aller Gelegenheit derb auf die Finger klopfen werde, sofern sie sich nicht solches bald abgewöhnen.«
Parlament, das war das Wort, das auf die Fürsten wie das rote Tuch auf den Stier wirkte, es erinnerte an die englische Verfassung, an Widerspruch und Widerstand, an Königsmord. Am Schluß dieser Epoche entstand in Preußen eine kurze, aber gehaltvolle Schrift, in der darauf hingewiesen wurde, daß das Wesen und die Kraft der englischen Freiheit nicht sowohl in der Verfassung, sondern in der Selbstverwaltung begründet sei. Der Verfasser der Schrift war der Freiherr von Vincke, ein Westfale, sie hatte den Titel »Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens« und war die Frucht eines Aufenthaltes in England und der Beobachtungen und Studien, die er dort gemacht hatte. Seit Montesquieu pflegten die Gegner des Absolutismus dieser Regierungsform die englische entgegenzustellen, die Teilung der Gewalten, das Parlament sahen sie als Grundlage eines zugleich freiheitlichen und geordneten Zustandes an. Vincke sagte, das entscheidende Merkmal der englischen Verhältnisse im Vergleich mit den festländischen sei die Selbstverwaltung, eine germanische Gepflogenheit, die sich in England erhalten habe, während in Deutschland an dessen Stelle das System besoldeter Staatsdiener, der Beamten, getreten sei. Es gebe wenig Minister, wenig Richter in dem Reich, dem die Welt den Ruhm der besten Justizpflege einräume, wenig Soldaten, keine Ministerialbüros oder General- und Landdirektoren, keine Kammerkollegien, keine Steuerräte, keine Polizeikommissare, alles was diese bei uns täten, werde in England vom Volke und einigen Männern aus demselben besorgt, welche es neben ihrem eigentlichen Beruf als Nebensache trieben, ohne alle Besoldung und ohne allen äußeren Prunk. Bei dieser die Deutschen aufs äußerste überraschenden Verwaltungsart durchreise man England mit größter Sicherheit auf den schönsten Wegen und in guten Gasthöfen. Man sehe überall Leben und Tätigkeit, Kultur und hohen Wohlstand, Wohltätigkeitsanstalten, öffentliche Anlagen, freie Wirksamkeit der Menschen, ruhigen, glücklichen Lebensgenuß in allen Klassen, die Bettler nicht ausgenommen; höchstens in den Niederlanden seien ähnliche Zustände zu finden.
Vincke gibt ein übersichtliches Bild von den Ämtern, welche im Wege der Selbstverwaltung ausgeübt werden, unter denen das wichtigste das des Friedensrichters ist, von dem ein berühmter englischer Rechtslehrer gesagt habe, die ganze Christenheit habe nichts dergleichen, wenn es richtig verwaltet werde. Es konnte anfänglich nur von Edelleuten übernommen werden, später war es an einen bestimmten Besitz gebunden. Obwohl diese Verwaltungen viel Zeit in Anspruch nehmen, werden sie nicht als Belastung, sondern als Ehre empfunden, und das Volk unterwirft sich ihren Vertretern bereitwillig. Die ausübenden Werkzeuge des Friedensrichters und des Lordlieutenants werden zum Teil besoldet. Es ist bemerkenswert, sagt Vincke, daß diese Einrichtung sich nicht nur für die früheren einfachen Zustände als tauglich erwiesen hat, sondern auch für die verwickelten gegenwärtigen des gewerbereichsten Landes mit Erfolg dient. Es ist ein System, welches sich allen Kulturstufen anpaßt, die Engländer haben es in alle ihre Kolonien mitgenommen. Auf Grund privater Tätigkeit blühen in England die Universitäten und öffentlichen Anstalten; der Ostindischen Compagnie, die sechzig Millionen Menschen regiere, dem größten Privatinstitut der Welt, sei erst in neuester Zeit ein Regierungsbeamter beigesellt, und auch das nur zur Kontrolle.
Sehr schlicht und zurückhaftend, nur hie und da durch ein betonteres Wort es beglänzend, entwirft Vincke das Gemälde des öffentlichen Lebens in England, wo im Gegensatz zu Deutschland alles durch das Volk geschieht. Daß diese Erscheinung möglich wurde, dazu gehörte, wie Vincke erklärt, der Umstand, daß die Hörigkeit in England früh aufhörte, daß es viel freie Leute gab, die keiner Patrimonialgerichtsbarkeit unterstanden, daß es viel Wohlhabende gab; vor allem aber war Bedingung das in England allgemein verbreitete Rechtsgefühl, der gesunde Menschenverstand, der wahre Patriotismus, die wahre Religiosität und Humanität, die sich mehr in Werken als in Worten äußert. Auch das englische System habe Fehler, Vincke gibt das zu, aber sie würden weit überwogen von der Unzuträglichkeit des zuviel Regierens. »Die Regierungsweise«, das ist sein Ergebnis, »ist immer die vorzüglichere, welche den Menschen am wenigsten den Druck der bürgerlichen Vereinigung empfinden läßt.« Er lobt »den leisen und einfachen, doch festen und kräftigen Gang der großen Staatsmaschine in der ganzen inneren Verwaltung des Reiches ohne sichtbare Regierungsgewalt«. Die staatsfreie Sphäre verlangt Vincke nicht, damit der einzelne sich ungestört seinen Liebhabereien, etwa der Kunst oder Literatur hingeben könnte, sondern damit er selbst die Staatsgeschäfte ausübe, die Kenntnis von den Rechten und Pflichten eines jeden Bürgers erlange und sich als selbständiges Mitglied eines großen Ganzen fühlen lerne.
Im Grunde geht die Schrift Vinckes von demselben Gesichtspunkt aus wie Goethes Götz, daß das deutsche Volk durch den Absolutismus an Mannhaftigkeit, an Rechts- und Freiheitssinn, an Würde verloren habe. Die Edlen der Nation waren des Regiertwerdens müde. Während die aufgeklärten Despoten immer mehr Gesetze und Verordnungen zur Beglückung des Volkes aufhäuften, schien es den Beglückten, als müßten sie unter dem Wust ersticken, und sie sehnten sich, ihn abzuschütteln. Als die ersten Blitze der Revolution in Frankreich fielen, atmeten viele von den Besten in Deutschland auf, wie man es bei dem ersten Anhauch eines lösenden Sommergewitters tut. »Der hohe Reichstag Galliens dämmert schon«, dichtete Klopstock, »Die Morgenschauer dringen dem Wartenden – Durch Mark und Bein: o komm, du reine – Labende, selbst nicht geträumte Sonne.« Er läßt die Geliebte des Fürsten umsonst versuchen, seine Stirne durch Lieder und Wein zu entwölken. Was blickst du so wild? fragt sie. Siehst du eine Erscheinung? eine Totengestalt? Keine Totengestalt, erwidert er, aber dennoch einen Geist, »Ha, den schrecklichen Geist der Freiheit – Weh mir, wo ist, der sich an den Hundertarmigen Riesen – Hundertäugigen Riesen sich wagt?« Im Jahre 1790 feierten angesehene Hamburger ein Freiheitsfest, bei dem auch Klopstock anwesend war und bei dem ein von dem Kaufmann Georg Heinrich Sieveking gedichtetes Bundeslied gesungen wurde, in dem es hieß: »Freie Deutsche, singt die Stunde – Die der Knechtschaft Ketten brach – Schwöret Dank dem großen Bunde – Unserer Schwester Frankreich nach. – Fünfundzwanzig Millionen – Feiern heut das Bundesfest – Das nur der Despoten Thronen – Nur die Sklaven zittern läßt.« Dem Beispiel englischer Freiheit stellte sich ein anderes, das blendende Beispiel französischer Freiheit zur Seite.
Montesquieu hat gesagt, in Despotien sei nur die Religion eine Macht und ein Schutz. Damals standen die Gebildeten der katholischen Länder auf seiten des Staates im Kampfe gegen die Kirche, die protestantische Kirche hatte sich freiwillig dem Staate untergeordnet; nicht im Namen einer Kirche, sondern im Namen des Individuums wurde die Freiheit gefordert. Das war, wurde es auch nicht ausgesprochen, doch auch Religion; denn es beruhte auf naturrechtlicher, zugleich aber auf der christlichen Anschauung, daß das Individuum in Gott wurzele und deshalb einen über das Irdische hinausgehenden Wert habe. In den Kämpfen der Reformationszeit hatte sich der Protestant auf den Spruch berufen: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen; an sein Gewissen gebunden, konnte der einzelne gegen alle Welt stehen. In den protestantischen Ländern waren im 18. Jahrhundert die religiös-kirchlichen Benennungen und Ausdrücke teils formelhaft leer geworden, teils durch den Eigensinn der Orthodoxie widerwärtig; aber als Erbteil der lutherischen Gläubigkeit war das Gefühl der Gottverbundenheit geblieben. Ohne sie hätte der Ruf nach Freiheit dünn geklungen; aber die von ihr Beseelten glichen den griechischen Helden, neben denen verhüllte Götter gingen und ihren Kampf verstärkten.