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Montesquieu und England

Die Menschen des 18. Jahrhunderts sahen mit Verachtung auf das Mittelalter herab als auf eine Zeit des Aberglaubens, der Barbarei, der Anarchie, der Pfaffenherrschaft; war das auch hauptsächlich die Auffassung der Protestanten, so hatten doch auch in den katholischen Ländern Absolutismus und französische Bildung das Verständnis für die blühende Mannigfaltigkeit des mittelalterlichen Lebens und die Harmonie der mittelalterlichen Kultur verdunkelt. Montesquieu war es, ein Franzose, der die mittelalterlichen Verfassungsformen dem gegenwärtigen Zeitalter, das in den Augen der Gebildeten die Spitze der Zivilisation erreicht hatte, als Vorbild aufstellte. Er ging von dem Satz aus, daß jeder Mensch dazu neige, die Gewalt, die er habe, zu mißbrauchen, und daß die daraus entstehende Gefahr mit der größeren Gewalt natürlicherweise immer größer werde. Der Mißbrauch der Gewalt könne nur dadurch unmöglich gemacht werden, daß der Gewalt durch eine andere Gewalt Schranken gesetzt würden. So waren die Dinge im mittelalterlichen Abendlande geordnet gewesen. Eine Fülle selbständiger Gebilde erwuchs dort, von denen jedes durch die Kraft und das Recht eines anderen gebändigt war, das selbst wieder durch ein anderes gehemmt wurde. »Die gotische Regierung«, sagt er, »war zuerst eine Mischung von Monarchie und Aristokratie. Sie hatte den Übelstand, daß das niedere Volk geknechtet war; aber es war eine gute Regierung, weil sie die Fähigkeit besaß, besser zu werden. Es kam die Sitte auf, Freiheitsbriefe zu bewilligen, und bald befanden sich die bürgerliche Freiheit des Volkes, die Vorrechte des Adels und die Macht des Königs in solchem Einklang miteinander, daß es nach meiner Meinung auf der ganzen Erde keine so wohl gemäßigte Regierung gegeben hat wie diejenige ganz Europas während der Zeit ihres Bestehens. Es ist wunderbar, daß aus dem Verfall der Regierung eines erobernden Volkes die beste Regierungsform, welche die Menschen haben erdenken können, hervorgegangen ist.«

Nach dem Verfall dieser Ordnung ist in Europa die Monarchie zur herrschenden Staatsform geworden. Sind aber die europäischen Staaten Monarchien? Zwischen den Monarchen und dem Volke muß es Zwischenglieder geben, und das sind gewöhnlich Adel, Geistlichkeit, Städte; fehlt die mäßigende Gewalt dieser Stände, so wird die Monarchie zur Despotie.

Längst waren damals die Stände entweder beseitigt oder ihrer Macht beraubt: die europäischen Staaten waren nach der Ansicht Montesquieus despotisch regiert. Einen einzigen hatte er kennengelernt, der der Verderbnis entgangen war, der sie überwunden hatte, der es verstanden hatte, der monarchischen Gewalt durch andere Gewalten Schranken zu setzen. Nachdem er festgestellt hat, daß jedes Volk seinem innewohnenden Wesen nach einen großen Zweck verfolge, daß es bei den Juden die Religion, bei den Römern die Macht gewesen sei, fährt er in einem fast feierlichen Tone fort: »Es gibt aber ein Volk in der Welt, das die politische Freiheit zum unmittelbaren Zweck seiner Verfassung gemacht hat.« Freiheit, lange nicht vernommenes Wort, lange nicht vernommener Wohlklang! Es war, als habe ein verwegener oder ahnungsloser Mund ein gefährliches Zauberwort ausgesprochen, das einst durch furchtbare Gesetze gebannt und endlich vergessen worden sei. Freiheit! Aus germanischem Geist ist sie geboren, Tacitus hat ihr edles Bild bei den Germanen gefunden und abgezeichnet. Den Grundgedanken der Freiheit haben die Engländer übernommen. »Dies schöne System ist in den Wäldern erfunden worden.« Zu den auf germanischer Grundlage erwachsenen Ländern rechnet Montesquieu auch Frankreich; er hofft für sein Vaterland eine Wiedergeburt im Sinne der altgermanischen Freiheit.

Das Mittel, wodurch England sich seine Freiheit erhalten hat und erhält, so entwickelt Montesquieu, ist die Teilung der Gewalten. Das Prinzip, das im Mittelalter aus glücklichem Instinkt sich verwirklichte, hat sich in England durch schwere Kämpfe zu einer gültigen Form gestaltet, zur Dreiteilung in gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt, die König und Parlament verkörpern. Weise ist es, daß das Parlament in zwei Häuser geteilt ist, denn so können sie sich gegenseitig in Schranken halten. Beide zusammen werden durch die ausübende Gewalt, den König, gehemmt, der seinerseits durch die gesetzgebende Gewalt des Parlamentes gebunden ist. Wo die drei Gewalten in einer Hand vereinigt sind, wie in der Türkei, sagt Montesquieu, herrscht schändlicher Despotismus. »Wie alle menschlichen Dinge ein Ende haben«, fügt er hinzu, »so wird auch der Staat, von dem wir sprechen, seine Freiheit verlieren und zugrunde gehen. Rom, Lakedämon und Karthago sind auch zugrunde gegangen. Er wird zugrunde gehen, wenn die gesetzgebende Gewalt schlechter wird als die ausführende.«

Das Werk Montesquieus, in welchem er die englische Verfassung als ein Muster für Europa schildert, heißt »Der Geist der Gesetze« und erschien ungefähr um die Mitte des Jahrhunderts, im Jahre 1748. Es bedeutete einen Einschnitt in die Entwicklung der Staaten. Es funkelte von Geist, es war voll von scharfsinnigen Bemerkungen über die Völker und ihre Zustände, es brachte viele neue Gesichtspunkte, es enthielt, ohne daß das geradezu ausgesprochen wurde, eine scharfe und stolze Kritik der Gegenwart. Zugleich aber gewährte es einen Ausblick auf bessere Zeiten, indem es auf Englands Verfassung hinwies. Die Teilung der Gewalten wurde seitdem in den Augen derer, die sich für das öffentliche Leben interessierten, das Allheilmittel für die Gebrechen der absolutistischen Regierungen.

Indessen wenn Montesquieu die Deutschen, die mit den heimischen Verhältnissen unzufrieden waren, mit einem Maßstab, einer Richtschnur ausstattete, so war er doch nicht der erste, der den Bewohnern des Kontinents die Kenntnis der meerumrauschten Insel vermittelte. Seit dem Spanischen Erbfolgekriege, in dem England den Ausschlag bei der Zurückdrängung der französischen Übermacht gegeben hatte, bestand ein lebhaftes Interesse für das bis dahin dem festländischen Europäer noch wenig bekannte Nebelland. Zuerst waren es Schweizer, die ausführliche, auf eigene Anschauung gestützte Nachrichten über England gaben: Guy Miege, dessen dickes Buch im Jahre 1708 erschien, und Beat Ludwig von Muralt, der seine Lettres sur les Anglais schon 1695 geschrieben hatte, aber erst 1725 veröffentlichte. In diesen Briefen führte er als hervorstechende Eigenschaften der Engländer Freiheitssinn an, Stolz, Mut, wilden Trotz, der zu großen Taten führt, hochgeschwelltes und rücksichtsloses Selbstgefühl, Gleichgültigkeit gegen Hofgunst, Unabhängigkeit von Gewohnheiten und Vorurteilen. Ihr Verstand sei auf das Wesentliche, Richtige, Naturgemäße gerichtet. Er hob den Reichtum an außerordentlichen, durch große Tugenden und große Fehler ausgezeichneten Charakteren hervor. Die Urteile der Deutschen, die allmählich anfingen, England zu bereisen, stimmten mit dem Muralts überein: männlich, großmütig, freigebig erschienen ihnen die Engländer. Albrecht von Haller, der Schweizer Gelehrte und Dichter, der lange in Göttingen Professor war, erklärte die englische Regierungsform für die vorzüglichste von allen in alter und neuer Zeit. Wenn er auch, als einziger einen Tadel in die Chöre des Lobes mischend, die allzu großen Vorrechte des Adels mißbilligte, so sei doch, meinte er, der Welt an Englands Erhaltung und Größe ungeheuer viel gelegen, da es allein dann und wann unterdrückten Staaten helfen und die Allmacht der großen Mächte einschränken könne. Im Jahre 1758 hob Wieland, von Montesquieu beeinflußt, als Vorzug der englischen Verfassung hervor, daß sie Freiheit mit dem Ansehn der Gesetze aufs glücklichste verbinde, die Gewalt klug zwischen Adel, König und Volk teile, er nennt sie die vollkommenste, selbst den antiken Republiken überlegene. Auch er findet, daß das Bestehen dieser Verfassung und des freiheitlichen Geistes der Briten für das Heil und die Freiheit Europas unentbehrlich sei. Sophie la Roche rühmt die »jedem Bürger zustehende Möglichkeit, für das Wohl des Staates und für das Recht des einzelnen mit allem Nachdruck öffentlich aufzutreten.« Karl Philipp Moritz schreibt einem Freunde aus England: »England ist das erste Land Europas, in welchem der dritte Stand über Angelegenheiten des Reiches mitsprechen durfte.« Noch im Beginn des 19. Jahrhunderts klang es im selben Sinne: »England«, sagte Rückert, »ist wie ein Drache, der, von seiner ewigen See umflossen, über die Freiheit der Welt wacht.« Und Ernst Moritz Arndt: »Leben, Gesetz und Gerechtigkeit blühen am reichsten da, wohin England den Fuß setzt. England hat seine Seele für Freiheit gegeben, es ist die Seele der europäischen Freiheit, die Engländer sind das größte Volk der neueren Geschichte und der künftigen Jahrhunderte. Englands Fall bedeutete den Untergang des letzten Hortes der europäischen Freiheit.« In den Göttinger Gelehrten Anzeigen stand im Jahr 1819: »Die gesammte gebildete Welt muß Großbritannien zurufen: Perpetua esto!«

Indem England gemäß seiner Politik des europäischen Gleichgewichts den Plänen Frankreichs, eine europäische Universalmonarchie aufzurichten, entgegenwirkte und sie vernichtete, verdiente es sich den Dank Deutschlands, das als Frankreichs Nachbar zunächst bedroht war. Aber nicht nur die englische Politik und nicht nur die englische Verfassung erregte damals die Bewunderung der Deutschen und namentlich der deutschen Protestanten: das gesamte Geistesleben der Engländer hatte schon vor Montesquieu begonnen, auf Deutschland einzuwirken und den französischen Einfluß zurückzudrängen. Wohl wurde an den Höfen immer noch französisch gesprochen und geschrieben, die Gebildeten aber lasen nach englischem Muster verfaßte Wochenschriften, lasen englische Romane, in denen bürgerliche Tugenden verherrlicht wurden, sahen englische Schauspiele, deren Hauptfiguren nicht griechische Helden und Könige waren, sondern bürgerliche Personen mit Schicksalen, die einem jeden begegnen konnten. Alles ergriff das Herz, alles ging ein wie alt Vertrautes, zu dem man zurückkehrt. Man besann sich auf die Verwandtschaft der Engländer mit den Deutschen. Herder nannte sie auf eine Insel verpflanzte Deutsche, ein anderer durch den Genius der Freiheit veredelte Deutsche. Schon drangen von der Harfe des alten Zauberers Shakespeare verlorene Akkorde süß und schauerlich über das Meer. Man verstand sie nicht ganz, aber man horchte ahnungsvoll.


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