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Pestalozzi und Möser

Goethe sagte einmal in bezug auf den Abt Steinmetz, den Vorsteher einer Klosterschule: »Die Welt bedarf solcher Licht- und Wärmequellen, um nicht im egoistischen Irrsal zu erfrieren und zu erstarren.« Die Worte passen in hohem Grade auf Pestalozzi.

Es fehlte dem wärmespendenden Pestalozzi nicht an der Inbrunst des Hasses, an Kampflust und Tapferkeit; aber er hatte nicht die Gabe zu herrschen, die Luther in so hohem Maße besaß. Das war sein persönliches Unglück; sein tragisches Prophetenschicksal war, daß er, im Frühling des bürgerlichen Zeitalters lebend, die Gefahren eines künftigen heranwachsen sah und zugleich die Schwächen seiner Schicht erkannte, die sie hinderte, ihnen zu begegnen.

Als armer Knabe aufgewachsen, liebte Pestalozzi die armen Kinder, ihnen gehörte sein Herz. Indem er um sein eigenes tägliches Brot und um das Geschick und die Seele der armen Kinder kämpfte, lernte er allmählich die Schäden der Zeit kennen, und suchte er Heilmittel für sie zu ergründen. Voll Mißtrauen gegen das seichte Geschwätz, das immer nur mehr Geschwätz erzeugt – er nannte es leeres Maul –, dachte er nicht an schriftstellerisches Wirken, obwohl er ein Dichter war. Gezwungen durch die Verhältnisse, tieftraurig, schrieb er sein erstes Werk, die »Abendstunden eines Einsiedlers«, dann die Erzählung »Lienhard und Gertrud«, die ihn berühmt machte. Sie erschien in Berlin in dem verschwenderischen Jahr 1781, das den Deutschen auch Schillers Räuber, Vossens Odyssee und Kants Kritik der reinen Vernunft schenkte. Wie später Gotthelf und wie einst Luther, schrieb Pestalozzi immer nur, um sein Volk auf den rechten Weg zu führen. Wäre er ein Reichsdeutscher gewesen, hätte er vielleicht den Despotismus, die Sittenlosigkeit und Hohlheit der Höfe bekämpft; als Schweizer bekämpfte er das eigensüchtige, volksfremde, verkünstelte Wesen der heimischen Aristokratie. Die Einsicht, daß Rückkehr zur Natur, zu einfachem, natürlichem Leben notwendig sei, hatte Pestalozzi nicht allein; aber der Schrei nach Natur hatte bisher nur dazu geführt, daß die Vornehmen sich als Schäfer verkleideten, daß sie sich außerhalb der Stadt Lusthäuser im Grünen erbauten, daß sie im besten Falle sich damit abgaben, die Landwirtschaft zu heben und sich für das Leben und Treiben der Bauern zu interessieren.

Im Kanton Zürich, dem Pestalozzi zugehörte, gab es gegen das Ende des 18. Jahrhunderts schon ziemlich viel Fabriken und Fabrikarbeiter, die meist eigentumslos waren. Es war vorauszusehen, daß ihre Zahl fortwährend zunehmen werde. Schon jetzt sah Pestalozzi Besitzende und Arme, voneinander getrennt, fast wie zwei feindliche Nationen, sich gegenüberstehen. Die Zeit wird kommen, das drängte sich ihm auf, wo wenig Besitzende einer Mehrzahl von Besitzlosen gegenüberstehen, einer Masse, die nicht mehr Volk ist. Die Unterscheidung von Masse und Volk ist einer von den grundlegenden Begriffen in Pestalozzis Anschauungswelt. Er unterschied sie, wie er Zivilisation und Kultur unterschied: die Kultur, sagte er, beruhe auf selbständigen Individuen, die Zivilisation auf der bloßen Zahl; die Kultur erwachse an der Natur, die Zivilisation habe die Menschen der Natur entfremdet. »Die Kraft der Kultur vereinigt die Menschen als Individuen in Selbständigkeit und Freiheit durch Recht und Kunst. Die kulturlose Zivilisation vereinigt sie ohne Rücksicht auf Selbständigkeit, Freiheit, Recht und Kunst als Masse durch Gewalt.«

Es war Pestalozzis letzte, tiefste Einsicht, daß das Göttliche sich im Individuum offenbart, durch das Individuum wirkt. Es war eine Grundauffassung des Mittelalters, daß jedes Individuum kraft seiner ewigen Bestimmung auch für den Staat in seinem Kern heilig und unverletzlich sei, und diese Auffassung rettete das Naturrecht in die neuere Zeit hinüber. »Ein jeder Mensch«, sagte Leibniz, »hat unendlich hohen, eigenartigen Wert, der dümmste ist noch unvergleichlich mehr als das gescheiteste Tier&nbsp;&hellip; denn die Individualität birgt in sich das Unendliche.« Und Pestalozzi: »Der Mensch wird nicht wie das Tier zu dem, was er sein und werden soll, geboren, er wird, was er werden soll, nur durch die Erhebung seiner Natur zur Wahrheit und Liebe. Solche Erhebung ist aber immer etwas Persönliches. Das Wertvollste im Menschen, die tiefste Menschlichkeit ist aber immer etwas Individuelles. Wenn das Menschliche in der Menschheit erstarken soll, muß es in jedem einzelnen gebildet werden. Die Ausbildung der Gemeinkraft mehrerer vereinigter Menschen führt überwiegend zur Stärkung der Kräfte, die wir mit dem Tier gemein haben.« Dem einzelnen kann sein Gewissen das Recht geben, gegen alle zu stehen, in seinem Gewissen, im Bewußtsein seiner Freiheit und Gottverbundenheit liegt seine unantastbare Würde.

Es lag Pestalozzi fern, das Individuum vereinzeln zu wollen, den Wert der Gemeinschaft zu verkennen. Im Gegenteil, er dachte sich den einzelnen immer innerhalb einer Gemeinschaft, wie im Mittelalter jeder einzelne mit der Familie, der Gilde, der Bruderschaft, der Gemeinde, der Stadt, dem Lande und schließlich der Christenheit und der Menschheit verbunden war. Die Gemeinschaft aber sollte eine natürliche, organische sein, das, was man im Mittelalter ein corpus mysticum nannte. Kant hat ein organisiertes Produkt der Natur als solches bezeichnet, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist, im Gegensatz zur Maschine. Im Organismus seien die Teile nur durch die Beziehung auf das Ganze möglich und müßten sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung wären. Der moderne Staat hatte die Neigung, maschinenmäßig zu arbeiten, wie ja auch die Staatsmänner von der Staatsmaschine zu sprechen pflegten. Er löste die sich selbst verwaltenden Korporationen entweder auf oder beraubte sie ihres Eigenlebens, um die einzelnen zu widerstandslosen Untertanen zu machen. Die alle als einzelne umfassende Gemeinschaft war der Staat, von Pestalozzi häufig die kollektive Existenz genannt. Er hielt ihn für verderblich, weil er das Individuum mißachte, und dadurch das Volk zur Masse herabwürdige. »Der Staat«, sagte er im Jahre 1803 mit besonderer Beziehung auf das napoleonische Frankreich, »erfaßt den individuellen Menschen, um ihn zu Rädern am großen Wagen zu machen.« Das Individuum gehe zugrunde, wenn die Ansprüche der kollektiven Existenz das Übergewicht gewinnen. Der Mensch müsse zwar den Staat bejahen, aber man müsse doch sich bewußt sein, daß er als organisierte kollektive Existenz die Reinheit des Menschentums gefährde. Alle Verfassungsvorzüge seien umsonst, wo es an Sorge für die Individualveredlung fehle. »Die innere Kraft der Menschennatur ist eine göttliche Kraft. Sie ist die Kraft Gottes. Ein menschlichkeitsleeres Regieren, das die Kraft Gottes nicht kennt und sich nicht auf sie als auf ihren ewigen Hintergrund stützt, ist kein menschliches, kein göttliches.« – Regieren ist etwas anderes als bloßes Machtgebot, ist etwas Heiliges. Unheiliges Regieren ist, das göttliche Wesen der Regierungskraft der ungöttlichen Form einer Gewaltskraft unterzuordnen. »Dafür dienen dann die Künste des Abrichtens vortrefflich. Sie sind auch gewöhnlich bei einem Volke in dem Grade leichter anwendbar, als es bildungslos ist.«

Pestalozzi sah mit an, wie aus teils begüterten, teils armen Bauern eigentumslose Fabrikarbeiter wurden; er nannte diese neu entstehende Schicht Gesindel. Er verabscheute das Gesindel mit seinen Lastern und seiner sittlichen Stumpfheit, aber mehr noch die Regierenden, die dem Unglück des Volkes nicht vorbeugten, die es geschehen ließen, als gehe es sie nichts an. Echte Kultur, sagte er, beruhe auf persönlichen Kräften, deren höchstes Recht und höchstes Glück es sei, Verantwortlichkeit zu tragen. Die Regierenden seien verantwortlich für die, welche sie regierten; anstatt dessen sähen sie gleichgültig zu, wie das Gesindel, Schuldige und Schuldlose, sich mehre, wie das Volk zur Masse werde.

Das einzige, das ewige Heilmittel in dieser unaufhaltsamen Verderbnis sah Pestalozzi in der Familie, der Familie, wie sie in einem einfachen und armen, aber doch nicht ganz eigentumslosen und verelendeten Volke besteht. In der Familie verehrte er die erste natürliche Gliederung des Volkes, die Keimzelle und das Vorbild aller übrigen. In der Wohnstube, wo Eltern und Kinder, Knechte und Mägde beisammen sind, wo das eine dem andren helfen, eins in das andere sich schicken muß, wo eins auch mit dem andern streitet, wetteifert und ringt, da entfaltet sich das Individuum in seiner Kraft und Eigentümlichkeit. Das Vaterhaus ist ihm die Grundlage aller reinen Naturbildung der Menschen, die Kraft dieser nächsten Beziehung ist ein Kraftquell zur Bildung aller ferneren und fernsten Beziehungen. Die Schule kommt wohl der Familie zu Hilfe; aber die erste, die beste, die unersetzliche Lehrerin zur Menschlichkeit und zur Tugend ist die Mutter. Immer wieder hat Pestalozzi geschildert, was das Walten der Mutter oder der mütterlichen Frau für das Kind, für die Gesellschaft überhaupt bedeutet; neben seiner Frau, die ihm opferwillig zur Seite stand, waren hauptsächlich einige unverheiratete Frauen in dienender Stellung seine Vorbilder.

Für notwendig hielt er auch eine Veredlung des Erwerbslebens, wie er sich ausdrückte. Mit Beziehung auf die Fabrikanstalten der Herrnhuter sagte er, Fabriken wären nicht immer verderblich, nur dürften die Arbeiter für die Fabrikanten nicht nur Mittel für wirtschaftliche Zwecke sein, sondern müßten als Glieder einer Gemeinschaft betrachtet werden, für welche sie, die Fabrikanten, die sittliche Verantwortung trügen. Überhaupt war er der Ansicht, jede Ordnung könne gut sein, wenn sie mit sittlichem Geist erfüllt würde. Die Arbeit, die der Lebensatem des Menschen sein solle, könne ihrer Aufgabe nur genügen, wenn Herz und Sinn des Arbeitenden an ihr teilnehmen. Befriedige die Arbeit den, der sie täglich tun müsse, nicht, so könne sie sogar zur Wurzel des Bösen werden. Auch dürfe Beruf und Arbeit den Menschen nicht ganz verschlingen, wozu das Fabrikwesen doch an sich geneigt wäre. »Die Routinemittel der Bildung zur Industrie, die der eigentumslose Fabrikarbeiter genießt, genügen dem Bedürfnis nicht. Der üble Einfluß dieses Umstandes wirkt auch auf die immer schwächer werdenden Überreste unseres alten Mittelstandes.«

Trüber und zweifelvoller waren Pestalozzis Gedanken über die Veredlung des Staates. Er ging von der Ansicht aus, daß die Wirksamkeit des Staates als der Organisation unserer kollektiven Existenz in einer Ordnung liege, die niemals die höchste Form unserer Lebensgestaltung sein dürfe. Es müsse daher eine Mäßigung der kollektiven Ansprüche eintreten. Das habe aber nur Aussicht auf glückliche Ausführung, wenn die Regierenden selbst im ganzen Sinne des Wortes menschlich wären. Würden sie das aber sein? Können sie es sein? Schreckliche Zweifel befielen ihn. »Allen Individuen und allen Behörden, in deren Hände die öffentliche Macht gelegt ist, klebt mehr oder weniger immer die Macht des Rohen, Niedrigen, Einseitigen der Selbstsucht unseres Geschlechts an.« Liegt nicht ein notwendiger, unvermeidlicher Gegensatz zwischen dem Staat und dem Individuum? Liegt es nicht im Wesen des Staates, das Unheilige der menschlichen Gemeinnatur über das Göttliche unseres individuellen Wesens emporzuheben? Kann die Macht sich mit der Idee des Rechts und der Sittlichkeit erfüllen, ohne ihr Wesen einzubüßen? »Als kollektive Existenz unseres Geschlechtes muß sich der Staat als selbstsüchtig aussprechen, sonst hört er auf, Staat zu sein, er hört auf, mit seiner kollektiven Existenz, mit sich selbst in Harmonie zu sein und konsequent mit dem ursprünglichen Zweck seiner Existenz zu handeln. Dieser ist nicht Veredlung des Menschengeschlechts, sondern Sicherstellung der Möglichkeit der Ruhe, der Befriedigung und Äufnung der Vorteile des Beieinanderlebens großer und kleiner Menschenhaufen.«

Dunkel sah der alte Pestalozzi, der vereinsamte, enttäuschte, die Zukunft heraufziehen mit der Gefahr der Proletarisierung, des Massewerdenmüssens, mit der Entwicklung des Machtstaates. Die Fessellosigkeit, mit der sich die Selbstsucht der Herrschenden entfalte, meinte er, habe den Begriff der Souveränitätsrechte zu einem bloßen Machtbegriff herabgesetzt. In Bonaparte sah er den Dämon, der alle früheren Menschlichkeitsansprüche zugunsten des kollektiven Lebens niedergetreten habe. Der Staat habe alle sittliche Substanz verloren und sei zu einer kalten äußerlichen Organisation geworden. Am meisten beunruhigte ihn aber doch das Zurücktreten der Persönlichkeit hinter den Bestrebungen der Masse. »Die Kunst unserer Zivilisation faßt das Menschengeschlecht immer unendlich fester und bestimmter in seiner Massengestalt, in seinen Massenbedürfnissen, in seiner Massenkraft und in seinem Massenwerk ins Auge als in den Bedürfnissen, Eigenheiten, Kräften und im Werk unserer Individualitätserscheinung.«

Zu Pestalozzis Zeit lebte im nordwestlichen Deutschland, in Osnabrück, ein Staatsmann und Denker, dessen Ansichten und Absichten in wesentlichen Fragen mit denen Pestalozzis zusammenstimmten. Pestalozzi lebte als Schweizer, Justus Moser als Bewohner des kleinen halbgeistlichen Fürstentums Osnabrück außerhalb des Absolutismus; schon das unterschied sie von der Mehrzahl der übrigen Deutschen. Niedersachsen hat wenig Dichter und Künstler hervorgebracht; aber es war von jeher die Mutter freiheitstolzer Söhne, darin der Schweiz verwandt. Die Osnabrücker, ein eigenwilliges Bauernvolk, Protestanten lange vor Luther, hatten immer einen trotzigen Unabhängigkeitssinn bekundet. Durch den Westfälischen Frieden war das Ländchen in eine staatsrechtlich sonderbare Lage geraten, die die lockeren und verwickelten Umstände der Reichsverfassung ermöglichte: es wurde abwechselnd von einem katholischen und einem protestantischen Bischof regiert, welch letzterer Kurfürst von Hannover war. Bei dieser Wechselregierung war das Interesse des jeweiligen Regenten an diesem Gebiet nicht sehr lebhaft; in der Mitte des 18. Jahrhunderts lag die Regierung fast ganz in den Händen Justus Mosers, der als Advocatus patriae die Geschäfte des Fiskus führte und zugleich Syndikus der Ritterschaft war. Es kam vor, daß er in Streitfällen zwischen Staat und Ritterschaft beide Parteien vertrat. In seinem Lebensgang und in seinem Charakter war Justus Moser ganz von Pestalozzi verschieden: ein ohne Sorge ums tägliche Brot fest und sicher in seiner bürgerlich-bäuerlichen Umwelt lebender Mann. Er hatte nicht das leicht verwundbare Bluterherz Pestalozzis, er war keiner von den Göttersöhnen, die der Himmel als Sühnopfer der Erde hingibt, aber er war ein Mann, der, wie einst Hutten und Zwingli, von sich sagen konnte, daß der gemeine Schmerz ihm weher tue als andern, daß er sich die allgemeinen Angelegenheiten wie die eigenen zu Herzen gehen lasse, ein Volksfreund und Volkserzieher wie Pestalozzi. Möser war zwanzig Jahre älter als Pestalozzi und hat die Napoleonische Herrschaft nicht miterlebt; um so bemerkenswerter ist es, daß im Zentrum seiner Anschauungen ebenso wie bei Pestalozzi die Hochhaltung der Individualität gegenüber der Masse steht. Er hat das Problem nicht so tief und nach allen Seiten durchdacht wie Pestalozzi, auch die Besorgnis vor der Vermassung nicht so ausdrücklich und häufig ausgesprochen; aber alles, was er bekämpft und empfiehlt, bezieht sich darauf im Sinne Pestalozzis. Im Individuum sieht er den Träger der sittlichen Kraft und darum den Träger des Staatswesens, und darum will er Entfaltung der individuellen Tätigkeit und Verantwortung, darum verlangt er, daß die individuelle Tätigkeit so wenig wie möglich vom Staate beschränkt werde. Dem einzelnen, sagt er, müsse Spielraum gelassen werden. Daß er für das Fehderecht eintrat, das dem einzelnen gestattete sich sein Recht zu erkämpfen, erklärt sich hieraus; während den Zeitgenossen das Verständnis dafür völlig verlorengegangen war, sah Möser darin die Selbstherrlichkeit des Individuums. Als eine Art Überbleibsel des Fehderechts lobte er das Duell; der Mensch, sagte er, habe ein angeborenes Recht, seinen Beleidiger zu strafen. Nicht nur, daß er darauf hinwies, wieviel zerstörender die Kriege seiner Zeit wirkten als die Fehden des Mittelalters, die ganze Art und Weise der gegenwärtigen Kriegführung war ihm zuwider, weil sie nicht mehr auf individueller Tüchtigkeit, sondern auf der Gewalt der Masse beruhe. »Das Kriegsrecht der jetzigen Zeit«, sagte er, »besteht in dem Recht des Stärksten&nbsp;&hellip; Es sind geschleuderte Massen ohne Seele, welche das Schicksal der Völker entscheiden&nbsp;&hellip; Eine einförmige Übung und ein einziger allgemeiner Charakter bezeichnet das Heer&nbsp;&hellip; Eine solche Verfassung muß notwendig alle individuelle Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit unterdrücken.« Der Staat, sagte er an anderer Stelle, gehe unter der Wucht stehender Heere seinen maschinenmäßigen Gang. Im Gegensatz zu fast allen Politikern seiner Zeit war er gegen die unbedingte Vermehrung der Bevölkerung. Der Österreicher Sonnenfels ging darin so weit, daß er die Gleichstellung unehelicher mit den ehelichen Kindern empfahl und den ledigen Müttern den Dank des Staates ausgesprochen wissen wollte für das Geschenk, das sie ihm gemacht haben. Möser war darin ganz anderer Ansicht: er wollte die Benachteiligung des unehelichen Kindes um der Heiligkeit der Familie willen. Abgesehen davon, daß er die Vermehrung der Volkszahl an sich für ein Glück hielt, durchschaute er auch die Absicht, die die Regierenden mit ihrer Geburtenleidenschaft verfolgten. »Die großen Herren, diese Zerstörer des menschlichen Geschlechts«, läßt er einen Edelmann des Stifts Osnabrück klagen, »denken auf nichts als auf Bevölkerung, und wir werden sicher nächstens ein philosophisches System erhalten, worin die möglichste Vermehrung der Menschen als die größte Verherrlichung Gottes angewiesen wird, bloß um eine Menge menschliches Vieh aufzuziehen, welches sie auf die Schlachtbank liefern werden.« Auch von der Arbeitsteilung, die damals als Fortschritt begrüßt wurde, wollte er nichts wissen; er nannte sie Simplifikation, deren Folge lebenslängliche Unselbständigkeit und geistige Verkrüppelung der Arbeiter sein würde. Auch hier schlug er einen materiellen Gewinn gering an gegenüber einem Verlust an individueller Kraft.

Ein Vorbild sah er, außer in der mittelalterlichen Vergangenheit, in England, wo die Tradition weniger als auf dem Festlande unterbrochen war, und zwar sah er geraume Zeit vor Vincke das Vorbildliche vor allem in der Selbstverwaltung. Nur England und Holland, sagte er, kenne den Bauern in seiner Größe, in Deutschland sei er nur ein Zerrbild. Bürger und Bauern müßten wieder Selbstbewußtsein bekommen, das Recht Waffen zu tragen müsse ihnen zurückgegeben werden. Noch kannte er nicht wie Pestalozzi die Verheerungen, die das Fabrikwesen unter den bäuerlichen und kleinbürgerlichen Schichten anrichtete; doch sagte auch er, den letzten Stoß hätten die Fabriken dem Handwerk gegeben.

Pestalozzi glaubte, daß die Wiederbelebung des Familieneinflusses vor der Gefahr der Vermassung schützen könne; auch Möser erkannte die Wichtigkeit der Familie für das Volkswohl, verweilte aber besonders bei dem Gedanken der Wiederherstellung der Korporationen. Auch die Familie ist eine Korporation, eine natürliche Gemeinschaft, diejenige, die Pestalozzi kannte, und innerhalb derer er sich betätigen konnte; Möser, der Staatsmann, erhoffte Wirkung von den Gemeinschaften, die das Individuum in eine organische Verbindung mit dem Staat bringen. »Nur in Konföderationen«, sagte er, »kann der Mensch sich vor der Masse schützen.« Während der absolute Staat seinerzeit möglichst zentralisieren, möglichst alle Einzelkräfte in seiner Hand vereinigen wollte, wünschte Möser, daß die einzelnen sich vereinigten, um soviel wie möglich sich selbst zu helfen und ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen. Die mittelalterliche Herrschaft der Gesellschaft über den Staat, das war, was er im Interesse des Individuums gegen die Masse für gut hielt. »Es würde eine größere Mannigfaltigkeit in die menschliche Tugend und eine stärkere Entwicklung der Seelenkräfte bewirken, wenn jede große und kleine bürgerliche Gesellschaft mehr ihr eigener Gesetzgeber wäre und sich minder nach einem allgemeinen Plan formte.« Er hätte es für gut gehalten, wenn jede Stadt, wie im Mittelalter, ihre besondere Verfassung, ihre eigene Verwaltung gehabt hätte. Mit Stolz und Trauer dachte er an die Großtaten der Hanse. Er verzieh es den Fürsten nicht, daß sie die Hanse bekämpft und dadurch den Aufstieg Englands ermöglicht und den Untergang der norddeutschen Seemacht bewirkt hatten. »Wäre das Los umgekehrt gefallen«, sagte er stolz, »so hätten wir jetzt zu Regensburg ein unbedeutendes Oberhaus, und die verbundenen Städte und Gemeinden würden in einem vereinigten Körper die Gesetze handhaben, welche die Vorfahren mitten in dem eifrigsten Kriege gegen die Territorialhoheit der übrigen Welt auferlegt hatten. Nicht Lord Clive, sondern ein Ratsherr von Hamburg würde am Ganges Befehle erteilen.« Nicht nur an dieser Äußerung erkennt man, daß Möser die Ohnmacht des Reiches beklagte, daß er ihm die rühmliche Stellung zurückwünschte, die es einst inmitten des Abendlandes innehatte; aber sie sollte beruhen auf einem selbständigen, seiner Ehre und seiner Verantwortlichkeit bewußten Volke. Wichtiger als die Vergrößerung und die Macht des Staates war ihm der einzelne Mensch.

Inmitten der bedientenhaften Untertanen absoluter Fürsten wünschte sich Möser diese einzelnen nicht nur tüchtig, sondern stolz, abenteuerlustig, etwas wild sogar. In einem merkwürdigen Aufsatz legte er einem Mädchen die Klage in den Mund, daß die ewige Sittenlehre, werde sie nun im weichen oder harten Ton gesungen, sie nicht mehr befriedigen könne. Der Mensch müsse durch mächtige Reize bewegt werden, große Entschlüsse müßten ihn erfüllen, damit er sich glücklich fühle. Glücklicher und besser sei sie nie gewesen, als da ihr Geliebter, ein Offizier, in den Krieg habe ziehen müssen. Sie habe dabei gelernt, daß ein Volk nicht durch bloße Vorträge belehrt, sondern in eine große Tätigkeit versetzt werden müsse, in der es seine Kräfte anspannen lerne. In dem jetzigen Leyerstande werde nur der kleinste Teil der menschlichen Kräfte verbraucht, man tanze wie Leute, die nichts dabei empfinden. Die Leidenschaft der Liebe lange nicht mehr zu heroischen Taten, die Leidenschaft der Ehre, die Patrioten, Helden und Redner bilde, finde zu wenig Arbeit. »Die Dichter mögen noch so sehr in Dithyramben rasen oder uns in ihren Bardenliedern das warme Blut aus Hirnschädeln zutrinken, es bleibt immer ein müßiges Volk, und unsere Ehrbegierde wird dadurch nicht nach ihrem Verdienste genährt.« Ihr Geliebter glaube, die Masse des Staates müsse in einer beständigen Gärung, und die Kräfte, welche seine Erhaltung wirken, in einer anhaltenden Arbeit sein, wenn seine Einwohner groß und glücklich sein sollten. »Er sieht es als eine Folge des Despotismus an, der als eine ungeheure Masse alle unteren Federkräfte niederdrückt, daß wir so ruhig und ordentlich leben, und glaubt, je freier und mächtiger alle Federkräfte in der Staatsmaschine wirkten, desto größer sei auch der Reichtum der Mannigfaltigkeit und die Privatglückseligkeit. Erfordere es gleich mehr Klugheit und Macht, die Ordnung unter tausend Löwen und Löwinnen zu erhalten, so wolle er doch lieber Futterknecht bei diesen, als der oberste Schäfer seyn, und eine Heerde frommes Vieh spielend vor sich her treiben.« Von dem Kriegsdienst und den Kriegen, die die Mächtigen seiner Zeit führten, spricht Möser oft mit so deutlicher Abneigung, daß man sieht, er hielt nicht diese für die großen Taten, zu denen ein Volk entflammt werden müsse.

Versenkt man sich in die Gedankengänge Pestalozzis und Mösers, so versteht man die scheinbare Härte, mit der sie verachtungsvoll von den Eigentumslosen als vom Gesindel sprachen. Möser wollte die bürgerlichen Rechte nur auf das Eigentum gegründet wissen, am liebsten hätte er sie auf das Landeigentum beschränkt. Er hat viele Vorschläge gemacht, um der Verarmung vorzubeugen und um die Armen zu versorgen; nur die staatsbürgerlichen Rechte sollten sie nicht ausüben können. Beide, Pestalozzi und Möser, zogen bei ihren Untersuchungen und Forderungen die Großstadt, die damals in Deutschland erst zu entstehen im Begriff war, kaum in Betracht. Ihre Weltanschauung war die eines überwiegend auf agrarischer Grundlage lebenden Volkes.


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