Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XLIV. Vasitthis Vermächtnis

Und es waren die letzten, die ich auf Erden vernahm. Meine Lebenskraft war erschöpft, das Fieber umnebelte meine Sinne. Wie flüchtige Traumbilder sah ich noch Gestalten um mich her – Medinis Gesicht war oft dem meinigen nahe. Dann wurde Alles dunkel. Plötzlich aber war es mir, als ob ein kühles Bad meinen Fieberbrand lösche. Nein, ich fühlte mich, wie ein Wanderer, in der Sonnenglut an einem Teiche stehend, sich wohl vorstellen mag, daß die Lotuspflanze sich fühlen muß, die, gänzlich in quellenkühles Naß getaucht, ihre Labung mit allen Fasern einsaugt. Gleichzeitig hellte es sich nach oben auf, und ich sah dort über mir eine große schwimmende, rote Lotusrose; und über ihren Rand neigte sich dein liebes Gesicht hervor. Da stieg ich von selber aufwärts und ich erwachte neben dir, im Paradiese des Westens!«

»Und gepriesen seist du,« sagte Kamanita, »daß du, von deiner Liebe gelenkt, jenen Weg nahmst. Wo wäre ich wohl jetzt, wenn du dich mir dort nicht zugesellt hättest? Zwar weiß ich nicht, wohin wir uns aus den Trümmern dieses schrecklichen Weltunterganges retten können – doch du flößest mir Zuversicht ein, denn du scheinst von diesen Schrecknissen so unerschüttert zu sein, wie der Sonnenstrahl vom Sturm.«

»Wer das Größte gesehen hat, mein Freund, den bewegt das Geringere nicht. Geringfügig aber ist ja dies, daß Tausende und Abertausende von Welten vergehen, im Vergleich damit, daß ein vollendeter Buddha in das Nirvana eingeht. Denn alles dies, was wir rings um uns sehen, ist nur eine Veränderung, und alle diese Wesen werden wieder ins Dasein treten. Jener hunderttausendfache Brahma, der sich zornglühend gegen das Unabänderliche sträubt und wohl gar uns neidisch ansieht, weil wir noch ruhig leuchten: der wird auf irgend einer niedrigeren Stufe wieder erscheinen, während vielleicht ein hochstrebender Menschengeist als der Brahma entsteht; jedes Wesen aber wird sich dort befinden, wo sein innerster Herzenswille und seine Geisteskraft es hinführt. Im ganzen jedoch wird Alles sein wie es war, weder besser noch schlimmer; weil es eben gleichsam aus demselben Stoff gemacht ist. Deshalb nenne ich dies geringfügig. Und deshalb ist es nicht nur keineswegs schrecklich, sondern sogar erfreulich, diesen Weltuntergang zu erleben. Denn wäre diese Brahmawelt ewig, dann gäbe es ja nichts Höheres.«

»So weißt du denn ein Höheres als diese Brahmawelt?«

»Diese Brahmawelt ist, wie du siehst, vergänglich. Aber es gibt ein Unvergängliches, ein Ungewordenes. ›Es gibt,‹ sagt der Herr, ›eine Stätte, wo nicht Erde noch Wasser ist, nicht Licht noch Luft, weder Raumunendlichkeit noch Bewußtseinsunendlichkeit, weder Vorstellung noch Nichtvorstellung. Das heiße ich, ihr Jünger, weder Kommen noch Gehen, weder Sterben noch Geburt; das ist des Leidens Ende, die Stätte der Ruhe, das Land des Friedens, das unsichtbare Nirvana.‹«

»Hilf mir, du Heilige, daß wir dort, im Lande des Friedens, auferstehen!«

»›Auferstehen‹ – hat der Herr gesagt – ›das trifft dort nicht zu; Nichtauferstehen, das trifft dort nicht zu. Womit du bezeichnend irgend etwas greifbar machen und erfassen kannst – das trifft dort nicht zu.‹«

»Was soll mir aber das Ungreifbare?«

»Lieber frage: was greifbar ist, ist das noch wert, die Hand danach auszustrecken?«

»Ach, Vasitthi, wahrlich, ich glaube, einst muß ich einen Brahmanenmord oder ein ähnliches Verbrechen begangen haben, das mich mit seiner Vergeltung so grausam in dem Gäßchen Rajagahas traf. Denn wäre ich dort nicht jäh ums Leben gekommen, so hätte ich dem Erhabenen zu Füßen gesessen, ja gewiß wäre ich auch wie du bei seinem Nirvana zugegen gewesen. Und ich würde sein wie du bist. – Aber wohlan, Vasitthi – während uns noch Gedanken und Vorstellungen gehören, tue mir dies zu Liebe. Beschreibe mir den Vollendeten genau, auf daß ich ihn im Geiste sehe und somit das erreiche, was mir auf Erden nicht vergönnt war: gewiß wird das mir den Frieden geben.«

»Gern, mein Freund,« antwortete Vasitthi. Und sie schilderte ihm die Erscheinung des Vollendeten, Zug um Zug, auch nicht das Geringste vergessend.

Aber mißmutig sagte Kamanita:

»Ach, was helfen Beschreibungen! Was du da sagst, das könnte alles ebensogut auf jenen alten Asketen passen, von dem ich dir erzählt habe, daß ich mit ihm zusammen zu Rajagaha in der Halle eines Hafners die Nacht zubrachte, und der wohl nicht ganz so töricht war, wie ich geglaubt habe, denn er hat doch, wie ich jetzt merke, manches Richtige gesagt. Wohlan, Vasitthi, sage mir nichts mehr, sondern stelle dir im Geiste den Vollendeten vor, bis du ihn siehst, wie du ihn zuletzt von Angesicht zu Angesicht gesehen hast; und infolge unserer geistigen Gemeinschaft werde ich dann vielleicht an dieser Vision teilnehmen.«

»Gern, mein Freund.«

Und Vasitthi stellte sich den Vollendeten vor, wie er im Begriff war, in das Nirvana einzugehen.

»Siehst du ihn, mein Lieber?«

»Noch nicht, Vasitthi.« »Ich muß dies Phantasiebild versinnlichen,« dachte Vasitthi.

Und sie sah sich im unermeßlichen Räume um, wo die Brahmawelt im Erlöschen begriffen war.

Gleichwie etwa ein großer Erzgießer, wenn er die Form eines herrlichen Götterbildes fertiggestellt hat, und es ihm an Erz gebricht um diese Form zu füllen, sich nun in seiner Werkstatt umsieht; und was da alles umhersteht an kleinen Götterbildern, Figuren, Vasen und Gefäßen, sein ganzes Eigentum, das Werk seines Lebens, – das wirft er alles gern und willig in den Schmelzofen, um dies eine herrliche Götterbild vollkommen gießen zu können:

also sah Vasitthi sich im unermeßlichen Räume um:

und was da alles noch von erblassendem Licht und zerfließenden Formen dieser Brahmawelt übrig war, das zog sie durch ihre Geisteskraft an sich, den ganzen Raum entvölkernd, und bannte diese ganze Masse von Astralstoff in die Formen ihrer Phantasie und schuf so im Räume ein kolossales leuchtendes Bild des Vollendeten, wie er im Begriff war, in das Nirvana einzugehen.

Und wie sie dies Bild sich gegenüber erblickte, erhob sich in ihr keine Neigung, keine Wehmut.

Denn selbst der große Heilige Upagupta, als er durch die Zauberkunst Maras, des Bösen, die Gestalt des längst gestorbenen Buddha zu sehen bekam, da erhob sich in ihm Neigung, so daß er sich vor der Trugerscheinung anbetend niederwarf und von Wehmut übermannt klagte: »Wehe über diese erbarmungslose Unbeständigkeit, daß sie auch so herrliche Gestalten auflöst! Denn der so herrliche Körper des großen Heiligen unterlag der Vergänglichkeit und ist der Vernichtung anheimgefallen.«

Nicht aber so Vasitthi.

Unbewegt, gesammelten Geistes betrachtete sie die Erscheinung, wie ein Künstler sein Werk, nur darauf bedacht, dieselbe Kamanita mitzuteilen.

»Jetzt fange ich an, eine Gestalt zu sehen,« sagte dieser. »O halte sie fest, laß sie noch deutlicher aufleuchten!«

Da blickte Vasitthi sich wieder im Raume um.

In seiner Mitte war noch der rotglühende, zornesblitzende Glanz des hunderttausendfachen Brahma geblieben.

Und Vasitthi riß durch ihre Geisteskraft diese höchste Gottheit aus ihrer Stätte und bannte sie in die Form der Buddhaerscheinung hinein. Da erleuchtete sich diese und belebte sich, wie Einer, der einen stärkenden Trank genießt.

»Jetzt seh' ich sie schon deutlicher,« sagte Kamanita.

Da schien es Vasitthi, als ob der Buddha zu ihr spräche:

»So bist du denn gekommen, meine Tochter. Bist du mit deinem Spruch zu Ende?«

Und wie man seinem Traumbilde antwortet, entgegnete Vasitthi:

»Ich bin damit zu Ende, Herr.«

»Recht so, meine Tochter! Und der lange Weg hat dich nicht gemüht? Noch bedarfst du der Hilfe des Vollendeten?«

»Nein, o Herr, ich bedarf nicht mehr der Hilfe des Vollendeten.« »Recht so, meine Tochter! Bei dir selber hast du Zuflucht genommen, in deinem eigenen Selbst ruhest du, Vasitthi.«

»Mein Selbst habe ich kennen gelernt, o Herr. Wie man die Blattscheiden eines Pisangstammes aufrollt und findet darin kein Kernholz, aus dem eine feste Stütze zu zimmern wäre; also habe ich da mein Selbst kennen gelernt: ein Haufen wechselnder Gestaltungen, in denen nichts Ewiges ist, worin man ruhen könnte. Und ich gebe dies mein Selbst auf: ,das bin ich nicht, das gehört mir nicht' – also urteile ich darüber.«

»Recht so, meine Tochter! Nur an der Lehre hältst du dich noch fest.«

»Die Lehre, o Herr, hat mich zum Ziel gebracht. Wie einer, der mittelst eines Flosses einen Strom durchquert hat, wenn er das jenseitige Ufer betritt, das Floß nicht festhält, nicht mit sich schleppt: also halte ich mich nicht mehr an der Lehre fest, lasse die Lehre fahren.«

»Recht so, meine Tochter! Solcherweise nirgend anhänglich haftend, wirst du bei mir am Orte des Friedens auferstehen.«

»›Auf erstehen,‹ hast du gesagt, o Herr, ›das trifft nicht zu. Nichtauferstehen, das trifft nicht zu.‹ Und auch diese Lehre, daß weder Auferstehen noch Nichtauferstehen zutrifft – auch die trifft nicht mehr zu. Nichts trifft mehr zu, und am wenigsten trifft das Nichts zu. Also hab' ich es jetzt verstanden.«

Da lächelte die Buddhaerscheinung ein leuchtendes Lächeln.

»Jetzt werde ich auch die Züge gewahr,« sagte Kamanita. »Wie ein Spiegelbild in fließendem Wasser erkenne ich sie undeutlich. O, halte sie fest, stätige sie, Vasitthi!«

Vasitthi sah sich im Raume um.

Der Raum war leer.

Da, warf Vasitthi ihre eigene Körperlichkeit in die Astralmasse der Erscheinung hinein.

Kamanita merkte, wie Vasitthi entschwand. Wie aber ein Sterbender ein Vermächtnis hinterläßt, so hatte Vasitthi ihm jetzt das Buddhabild vermacht, das mit ihm allein im Raume zurückblieb, und das er jetzt deutlich erkannte.

»Jener alte Asket, mit dem ich in Rajagaha übernachtete und den ich töricht schalt, das war ja der Vollendete! O über mich Toren! Gab es je einen größeren Toren als mich? Was ich als das höchste Heil, als die Erlösung selber ersehnte, das hab' ich ja schon seit Milliarden von Jahren besessen!«

Da näherte sich ihm die Erscheinung wie eine heranziehende Wolke und hüllte ihn in einen glänzenden Nebel ein.


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