Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XXI. Mitten im Laufe

Als der Erhabene beim ersten Morgengrauen erwachte, sah er, wie der Pilger Kamanita emsig seine Matte zusammenrollte, seine Kürbisflasche umhängte und sich nach dem Stabe umsah, den er nicht gleich in der Ecke bemerkte, weil er umgefallen war. Dabei hatte er in allen seinen Bewegungen das Gepräge eines Menschen, der es sehr eilig hat.

Der Erhabene setzte sich auf und grüßte ihn freundlich.

»Willst du schon aufbrechen, Bruder?«

»Freilich, freilich,« rief Kamanita erregt. »Denke dir, es ist wirklich kaum zu glauben – rein zum Lachen, und doch so wunderbar – ein wahres Glück! Vor wenigen Minuten erwachte ich und fühlte mich, nach dem vielen Reden von gestern, recht trocken im Halse. Ich sprang sofort auf und lief zum Brunnen – unter den Tamarinden, quer über den Weg. Dort stand schon ein Mädchen und schöpfte Wasser. Und was meinst du wohl, was ich von ihr höre? – Der Vollendete ist gar nicht in Savatthi! Und wo ist er denn, glaubst du? Gestern ist er, von dreihundert Mönchen begleitet, hier in Rajagaha angekommen! Und er weilt jetzt in seinem Mangohaine jenseits der Stadt. In einer Stunde, in weniger vielleicht, werde ich ihn gesehen haben – ich, der ich glaubte, noch vier Wochen pilgern zu müssen! Was sage ich – in einer Stunde? – Es ist nur eine gute halbe Stunde bis dahin, sagte das Mädchen, wenn man nicht durch die Hauptstraßen geht, sondern durch die Gäßchen und Höfe nach dem Westtor läuft ... ich kann mir's kaum denken! Mir brennt der Boden unter den Sohlen – leb' wohl, Bruder! Du hast es gut mit mir gemeint, und ich werde nicht unterlassen, auch dich zum Erhabenen zu führen – jetzt aber kann ich mich wahrlich keinen Augenblick mehr aufhalten.«

Und der Pilger Kamanita stürzte aus der Halle hinaus und lief die Straße dahin, so schnell ihn die Beine nur tragen wollten. Als er aber das Stadttor Rajagahas erreichte, war es noch nicht geöffnet, und er mußte eine kleine Weile warten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam und seine Ungeduld aufs höchste steigerte.

Indessen benutzte er die Zeit, um von einer alten: Frau, die einen Korb voll Gemüse nach der Stadt trug und, wie er selbst, dort warten mußte, genaue Erkundigungen über den kürzesten Weg einzuziehen – wie er durch jene Gäßchen, rechts an einem Tempelchen und links an einem Brunnen vorübergehen müsse und dann einen Turm ja nicht aus den Augen verlieren dürfe, so daß er die vor der Stadtmauer verlorene Zeit vielleicht innerhalb derselben einholen könne.

Als nun das Tor sich geöffnet hatte, stürzte er unaufhaltsam in der ihm bezeichneten Richtung fort. Manchmal rannte er ein paar Kinder über den Haufen, rempelte eine Frau an, die am Rinnstein Geschirr spülte, so daß eine Schüssel ihr klirrend davonrollte und zerbrach, oder er stieß mit einem Wasserträger zusammen. Aber die Schimpfworte, die hinter ihm herflogen, erreichten verschlossene Ohren, so ganz war er von dem einen Gedanken erfüllt, daß er bald, ganz bald den Buddha sehen würde.

»Welches Glück!« sagte er zu sich selber. »Wie viele Geschlechter leben dahin, ohne daß ein Buddha auf der Erde mit ihnen zusammen wandert; und von dem Geschlecht, das einen Buddha zum Zeitgenossen hat – o wie so wenige sind es, die ihn sehen! Mir aber ist jetzt dies Glück gewiß! – Immer habe ich ja gefürchtet, daß auf dem weiten, gefahrvollen Wege wilde Tiere oder Räuber mich um dies Glück bringen könnten, jetzt aber kann es mir nicht mehr geraubt werden!«

Während er so dachte, war er in ein sehr enges Gäßchen eingebogen. In seinem törichten Vorwärtsstürmen sah er nicht, daß vom anderen Ende her eine Kuh, die aus irgend einem Grunde scheu geworden war, ihm entgegenstürzte, bemerkte auch nicht, wie ein paar Leute vor ihm sich eiligst in ein Haus flüchteten, und andere sich hinter einem vorspringenden Mauerstück verbargen; er hörte nicht den Ruf, durch den eine auf einem Söller stehende Frau ihn warnen wollte – er spähte nur hinauf nach den Turmzinnen, die ihn am Verfehlen des Weges hindern sollten.

Erst als es zum Ausweichen zu spät war, sah er entsetzt, gerade vor sich, die dampfenden Nüstern, die mit Blut unterlaufenen Augen und das blanke Horn, das ihm unmittelbar danach tief in die Seite drang.

Mit einem lauten Schrei fiel er an der Mauer nieder. Die Kuh stürzte weiter und verschwand in einer anderen Straße.

Sofort eilten nun Leute herbei, teils aus Neugier, teils um zu helfen. Das Weib, das ihn gewarnt hatte, brachte Wasser, um die Wunde zu reinigen. Man zerriß seinen Mantel, um ihm einen Verband anzulegen und womöglich das Blut zu stillen, das wie ein Quell hervorbrach.

Kamanita hatte fast keinen Augenblick das Bewußtsein verloren. Es war ihm sofort klar, daß dies seinen Tod bedeute. Aber weder diese Vorstellung, noch die Schmerzen quälten ihn so sehr, wie die Angst, daß er den Buddha jetzt nicht zu sehen bekäme. Mit bewegter Stimme flehte er die Umstehenden an, ihn nach dem Mangohaine zum Buddha zu tragen:

»So weit bin ich gepilgert, ihr lieben Leute! – So nahe war ich schon am Ziel! O, habt Erbarmen mit mir, zögert nicht, mich dahin zu tragen! Denkt nicht an die Schmerzen, fürchtet nicht, daß ich ihnen unterliege – ich werde nicht sterben, bevor ihr mich dem Vollendeten zu Füßen niedergelegt habt, und dann werde ich selig sterben, selig auferstehen.«

Einige liefen nun, Stangen und eine Matratze zu holen. Eine Frau brachte ein stärkendes Getränk, von dem Kamanita ein paar Löffel voll nahm. Die Männer waren uneinig, welcher Weg zur Versammlungshalle im Mangohaine der kürzeste sei, da es wohl auf jeden Schritt ankommen konnte. Denn es war jedem klar, daß es mit dem Pilger bald zu Ende ging.

»Da kommen Jünger des Vollendeten!« rief einer der Umstehenden, das Gäßchen hinanzeigend, »die werden uns das am besten sagen können.«

Wirklich nahten sich einige Mönche aus dem Orden des Buddha, in gelbe Mäntel gehüllt, die den rechten Arm frei ließen, und die Almosenschale in der Hand. Die meisten waren jüngere Leute; aber zuvörderst schritten zwei ehrwürdige Gestalten: ein Greis, dessen ernstes, etwas strenges Gesicht mit dem durchdringenden Blick und dem kräftigen Kinn unwillkürlich die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, und ein Mann in mittleren Jahren, aus dessen Zügen eine so herzgewinnende Milde leuchtete, daß er dadurch fast das Aussehen eines Jünglings bekam. Auch konnte ein erfahrener Beobachter in seiner Haltung und in den etwas lebhaften Bewegungen, wie auch im feurigen Blicke, die unveräußerlichen Merkmale der Kriegerkaste entdecken, während die bedächtige Ruhe des Älteren den geborenen Brahmanen verriet. An hohem Wuchs und fürstlichem Anstand kamen aber beide einander gleich.

Als diese Mönche bei der Gruppe, die sich um den verwundeten Mann gebildet hatte, Halt machten, erzählten ihnen viele redselige Zungen sofort, was vorgefallen war, und daß man im Begriff sei, diesen verwundeten Pilger auf einer Bahre – die gerade gebracht wurde – nach dem Mangohaine zum Buddha zu tragen, um dadurch seinen sehnlichen Wunsch zu erfüllen; – ob nicht einer der jüngeren Mönche mit zurückkehren wolle, um ihnen den kürzesten Weg nach der Stelle zu weisen, wo der Erhabene sich augenblicklich aufhielt?

»Der Erhabene,« antwortete der Greis mit dem strengen Gesicht, »ist nicht im Mangohaine, und wir wissen selbst noch nicht, wo er sich aufhält.«

Bei dieser Antwort entrang ein verzweifeltes Stöhnen sich der wunden Brust Kamanitas.

»Aber freilich kann er nicht weit von hier sein,« fügte der Jüngere hinzu. »Der Erhabene hat gestern die Mönchsgemeinschaft vorausgeschickt und ist allein weitergegangen. Er wird sich wohl verspätet haben und irgendwo, vielleicht im Vororte, eingekehrt sein. Wir sind jetzt unterwegs, ihn zu suchen.«

»O, suchet eifrig, findet ihn!« rief Kamanita.

»Wenn wir auch wüßten, wo der Erhabene ist, so ginge es doch nicht an, diesen Verwundeten hinzutragen,« meinte der strenge Mönch. »Denn die Erschütterung auf der Bahre würde seinen Zustand schnell verschlimmern, und wenn er es auch überstände, so würde er doch sterbend ankommen, und sein Geist würde nicht fähig sein, die Worte des Erhabenen zu erfassen. Wenn er sich aber jetzt schont, und von einem kundigen Wundarzt behandelt und sorgfältig gepflegt wird, dann ist doch immer noch Hoffnung vorhanden, daß er so weit zu Kräften kommen kann, um der Rede des Erhabenen zu lauschen.

Aber Kamanita zeigte ungeduldig auf die Bahre:

»Keine Zeit – sterben – mich mitnehmen – ihn sehen – berühren – selig sterben – mitnehmen – eilet!«

Achselzuckend wandte sich der Mönch an die jüngeren Brüder:

»Dieser arme Mann hält den siegreich Vollendeten für ein Götzenbild, bei dessen Berührung man entsühnt wird.«

»Er hat Vertrauen zum Vollendeten gefaßt, Sariputta, wenn ihm auch das tiefere Verständnis fehlt,« sagte der andere und beugte sich über den Verwundeten, um den Grad seiner Kräfte festzustellen; »vielleicht könnte man es doch wagen. Der Arme dauert mich, und ich glaube, man kann ihm nichts Besseres antun, als den Versuch zu machen.«

Ein dankbarer Blick des Pilgers belohnte ihn für seine Fürsprache.

»Wie es dir beliebt, Ananda,« antwortete Sariputta freundlich.

In diesem Augenblick kam von der Seite, von welcher auch Kamanita gekommen war, ein Hafner gegangen, der auf dem Rücken einen Korb mit allerlei Töpferwaren trug. Als er den Pilger Kamanita bemerkte, den man soeben mit großer Vorsicht, aber nicht ohne ihm heftige Schmerzen zu verursachen, auf die Bahre gelegt hatte, blieb er erschrocken stehen – und zwar so plötzlich, daß die aufeinandergetürmten Schüsseln, die er auf dem Kopfe trug, zu Boden fielen und zerbrachen.

»Ihr Götter! Was ist denn hier vorgefallen? Das ist ja der fromme Pilger, der meiner Halle die Ehre angetan hat, dort zu übernachten. In der Gesellschaft eines Mönches, der dasselbe Gewand trug, wie diese Ehrwürdigen, hat er in meinem Hause die Nacht zugebracht.«

»War jener Mönch ein alter Mann und von hoher Gestalt?« fragte Sariputta.

»Gewiß, Ehrwürdiger – und er schien mir dir selber nicht unähnlich zu sein.«

Da wußten nun die Mönche, daß sie nicht länger zu suchen brauchten, und daß der Erhabene im Hause des Hafners war. Denn »der Jünger, der dem Meister ähnelt« – also wurde ja Sariputta genannt.

»Ist es möglich?« sagte Ananda und blickte von dem Verwundeten auf, der durch die Schmerzen, die ihm das Emporheben verursacht hatte, fast bewußtlos geworden war und die Ankunft des Hafners gar nicht bemerkt hatte. – »Ist es möglich? Dieser arme Mann hätte das Glück, nach dem er so sehnlich trachtet, die ganze Nacht genossen, ohne es auch nur im geringsten zu ahnen?«

»Das ist die Art des Toren,« sagte Sariputta. »Aber gehen wir; jetzt kann er ja hingebracht werden.«

»Einen Augenblick!« rief Ananda, »die Schmerzen haben ihn überwältigt.«

In der Tat zeigte der leere Blick Kamanitas, daß er kaum bemerkte, was um ihn vorging. Es fing an, ihm schwarz vor den Augen zu werden. Aber der lange Streifen des Morgenhimmels, der oben zwischen den hohen Mauern leuchtete, drang doch noch bis zu seinem Bewußtsein durch und mochte ihm wohl als die den Nachthimmel durchquerende Milchstraße erscheinen. Seine Lippen bewegten sich:

»Die Ganga –,« murmelte er.

»Seine Sinne wandern,« sagte Ananda.

Die Zunächststehenden, die das Wort vernommen hatten, faßten es anders auf.

»Er wünscht jetzt an die Ganga gebracht zu werden, damit die heiligen Wogen seine Sünden abspülen. – Aber Mutter Ganga ist ja weit von hier – wer könnte ihn wohl dahin tragen?«

»Erst der Buddha, dann die Ganga!« – murmelte Sariputta mit dem halb verächtlichen Mitleid des Weisen einem Toren gegenüber, der unrettbar von einem Aberglauben in den anderen fällt.

Aber plötzlich belebten die Augen Kamanitas sich wunderbar. Ein seliges Lächeln verklärte seine Züge. Sein Körper wollte sich aufrichten. Ananda stützte ihn.

»Die himmlische Ganga,« flüsterte er mit schwacher, aber freudiger Stimme, und zeigte mit der rechten Hand nach dem Himmelsstreifen über seinem Haupte: »Die himmlische Ganga! – wir schwuren – bei ihren Wellen – Vasitthi – – – –«

Sein Körper zitterte, Blut quoll ihm aus dem Munde, und in den Armen Anandas verschied er. – – –

Kaum eine halbe Stunde später traten Sariputta und Ananda, von den Mönchen begleitet, in die Halle des Hafners ein, begrüßten den Erhabenen ehrerbietig und setzten sich ihm zur Seite nieder.

»Nun, mein lieber Sariputta,« fragte da der Erhabene, nachdem er ihnen freundlichen Gruß entboten, – »hat die junge Mönchsgemeinde unter deiner Führung die weite Wanderung gut und ohne Unfälle überstanden? Habt ihr Mangel an Nahrung oder Arznei für die Kranken unterwegs gehabt? Ist die Jüngerschaft fröhlich beflissen?«

»Glücklich bin ich, Ehrwürdigster, sagen zu können, daß es uns an nichts gefehlt hat, und daß die jungen Mönche voll Eifer und Zuversicht, sich nur danach sehnen, den Erhabenen von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Diese edlen: Jünglinge, Kenner des Wortes, Nachfolger der Lehre, habe ich mitgenommen, um sie schon jetzt dem Meister vorzustellen.« Bei diesen Worten erhoben sich drei junge Mönche und begrüßten den Erhabenen mit zusammengelegten Händen:

»Heil dem Erhabenen, dem vollendeten Buddha – Heil!«

»Seid mir willkommen,« sprach der Erhabene und lud sie mit einer Handbewegung wieder zum Sitzen ein.

»Und ist auch der Erhabene,« fragte Ananda, »nach der gestrigen Wanderung ohne Übermüdung oder üble Folgen gut hier angekommen? Und hat der Erhabene in dieser Halle die Nacht leidlich zugebracht?«

»So ist es, Brüder. Ich bin bei einbrechender Dunkelheit zwar recht müde, doch ohne üble Folgen der Wanderung hier angekommen und habe in der Gesellschaft eines fremden Pilgers die Nacht nicht eben schlecht zugebracht.«

»Dieser Pilger,« nahm Sariputta das Wort, »ist in den Straßen Rajagahas durch eine Kuh des Lebens beraubt worden.«

»Und nicht ahnend, mit wem er die Nacht hier zugebracht hatte,« fügte Ananda hinzu, »begehrte er sehnlich, zu Füßen des Erhabenen gebracht zu werden.«

»Bald danach freilich verlangte er, man möchte ihn nach der Ganga tragen,« bemerkte Sariputta.

»Nicht doch, Bruder Sariputta!« – berichtigte Ananda. »Denn er sprach von der himmlischen Ganga. Leuchtenden Blickes gedachte er eines Schwures und nannte dabei einen Frauennamen – Vasitthi, glaube ich – und so verschied er.«

»Irgend einen Frauennamen auf den Lippen, ging er von dannen,« sagte Sariputta. – »Wo ist er wohl wieder ins Dasein getreten?«

»Töricht, ihr Jünger, war der Pilger Kamanita, einem unvernünftigen Kinde vergleichbar. Diesem Pilger, ihr Jünger, der in meinem Namen umherzog und sich zur Lehre des Erhabenen bekennen wollte, habe ich die Lehre ausführlich und eingehend dargelegt. Und er hat an der Lehre Anstoß genommen. Auf Seligkeit und Himmelswonnen war das Sehnen und Trachten seines Herzens gerichtet. Der Pilger Kamanita, ihr Jünger, ist in Sukhavati, im Paradiese des Westens, wieder ins Dasein getreten, tausend- und abertausendjährige Himmelswonnen zu genießen.«


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