Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVII. In die Heimatlosigkeit

Welch ungekannte Stille umfing mich jetzt, o Bruder, als ich, nachdem ich den Leuten ihre Posten angewiesen hatte, wieder ins Haus trat! Daß ich die Stimmen meiner Frauen nicht hörte – das war es nicht allein, sondern daß ich diese Stimmen sich zum Torweg hinaus hatte entfernen hören, daß keine Möglichkeit da war, aus irgend welchen Ecken plötzlich die keifenden Stimmen zu vernehmen, bis sie, gegenseitig sich steigernd, sich schließlich zu einem mißtönigen Zankduett vereinigten oder vielmehr entzweiten: – das war es, was meinem Hause eine für mich fast unbegreifliche und unsagbar wohltuende Ruhe verlieh.

So erschien mir nun mein von weiten Parkanlagen umfriedeter Palast herrlicher denn je, und ich zitterte bei dem Gedanken, daß diese Herrlichkeit in wenigen Stunden durch verruchte Räuberhände vernichtet werden sollte. Weit weniger kümmerte mich die Angst um mein eigenes Leben, als die beständige, lebhafte Vorstellung, wie diese wohlgepflegten Baumgänge verwüstet, diese kunstfertig ausgehauenen Marmorsäulen gestürzt werden würden, und daß all dies, dessen Herrichtung mir so viele Überlegung und so langwierige Mühe gekostet, dessen Vollendung mir so große Freude gemacht hatte, ein Trümmerhaufen sein würde, wenn die Sonne wieder aufging. Denn nur zu gut kannte ich ja die Spuren Angulimalas.

Indessen war nun für mich nichts anderes mehr zu tun als zu warten; und bis zur Mitternacht blieben noch mehrere Stunden.

Nun hatte ich aber stets in einer immerfort rollenden Kette von Vergnügungen und Geschäften gelebt, so daß ich nie zur Besinnung kam; und wie ich hier, ohne irgend etwas zu tun zu haben, allein in einem nach der Säulenhalle und dem Garten sich öffnenden Zimmer, mitten im totenstillen Palast, dasaß, erlebte ich gewissermaßen seit meiner frühesten Jugend die ersten Stunden, die gänzlich mir selbst gehörten. Da fingen nun auch meine freigelassenen Gedanken an, sich zum erstenmal auf mich selber zu richten; und mein ganzes Leben zog an mir vorüber. Und indem ich es so gleichsam als ein Fremder betrachtete, konnte ich keinerlei Gefallen daran finden.

Diese Betrachtungen unterbrach ich ein paarmal, um einen Gang durch Haus, Hof und Garten zu machen und mich so zu vergewissern, daß die Leute wachten. Als ich zum dritten- oder viertenmal zwischen die Säulen hinaustrat, bemerkte mein durch so viele Karawanenfahrten geübtes Auge am Stande der Sternbilder, daß es nur noch eine halbe Stunde bis Mitternacht war. Ich machte eilig die Runde und ermahnte meine Leute zur äußersten Wachsamkeit. Ich selbst fühlte mein Blut in allen Adern hämmern, und die Kehle wollte sich vor angstvoller Spannung zusammenschnüren. Nach dem Zimmer zurückgekehrt, setzte ich mich nieder wie zuvor. Aber kein Gedanke wollte sich regen; ich spürte einen starken Druck vor der Brust, und bald war es mir, als ob ich ersticken müßte.

Ich sprang auf und trat, um Luft zu schöpfen, zwischen die Säulen hinaus. Ein weichfächelnder Hauch strich mir plötzlich über die Wange und gleich danach ertönte das Geschrei einer Eule; in demselben Augenblick wehte mir von den Gartenteichen ein starker Duft von Nachtlotusblüten entgegen. Ich hatte den Blick erhoben, um wiederum nach den Sternen die Zeit zu bemessen: da sah ich quer über dem tiefblauen Ausschnitt des Himmels zwischen den schwarzen Baumwipfeln den mild leuchtenden Streifen der Milchstraße.

»Die himmlische Ganga,« murmelte ich unwillkürlich. Da war es auf einmal, als ob jener Druck vor der Brust sich auflöste und in einer warmen Welle emporstiege, um sich schließlich in einem heißen Tränenstrom durch die Augen zu ergießen.

Wohl hatte ich vorher, als mein Leben an meinem inneren Blicke vorüberzog, auch an Vasitthi und an die Zeit meiner Liebe gedacht – aber wie an etwas Fernes und Fremdes, das mir fast wie ein törichter Traum erschien. Jetzt aber dachte ich nicht mehr daran, sondern erlebte es wieder; ich war auf einmal ich selber von damals und ich selber von jetzt, und mit wahrem Entsetzen wurde ich den ganzen Unterschied inne. Damals besaß ich nichts außer mir selbst und meiner Liebe; wie wären die zu trennen gewesen? Jetzt – o, was besaß ich jetzt nicht alles! Frauen und Kinder, Elefanten, Rosse und Rinder, Zugochsen, Diener und Sklaven, reich gefüllte Warenhäuser, Gold und Juwelen, einen Lustpark und einen Palast, um die mich meine Mitbürger beneideten – wo aber war ich selber geblieben? Wie in einer mißratenen Frucht war der Kern eingetrocknet, verschwunden, und Alles war zur Schale geworden! ...

Wie erwachend sah ich mich um.

Der weitgedehnte Park, der seine schwarzen Baumkronen gegen den sternenbesäten, von der Milchstraße durchzogenen Nachthimmel erhob, und die stolze Halle, wo alabasterne Lampen zwischen den Säulen leuchteten: sie erschienen mir jetzt in einem ganz neuen Licht; feindselig und drohend umgaben sie mich, wie prächtig schimmernde Vampyre, die schon fast mein ganzes Herzblut ausgesogen hatten und begierig gähnten, um sich noch an den letzten Tropfen zu laben und nur den dürren Leichnam eines verfehlten Menschenlebens übrig zu lassen.

Ein ferner undeutlicher Lärm – Murmeln oder Tritte, wie mir schien – schreckte mich auf. Das entblößte Schwert in der Hand, sprang ich ein paar Stufen hinunter, und blieb dann stehen, um zu lauschen. Die Räuber! – Doch nein! Alles war still, Alles blieb still; weit und breit rührte sich nichts. Es war nur einer jener unergründlichen Laute der Nachtstille, die mich so oft am Wachtfeuer der Karawane hatten aufspringen lassen. – Draußen war nichts! Aber was war das in mir? Das war nicht mehr Angst, was mir jetzt das Blut in den Schläfen pochen ließ; und auch der Mut der Verzweiflung war es nicht; nein, das war frohlockender Jubel:

»Willkommen, ihr Räuber! Nur her, Angulimala! Verwüstet, äschert ein! Das sind ja meine Todfeinde, die ihr vernichtet! Was mich erdrücken würde, nehmt ihr von mir! Her zu mir! Die Schwerter in mein Blut getaucht! Das ist ja mein ärgster Feind, den ihr durchbohrt, dieser Leib, der der Wollust ergebene, der Völlerei verfallene! Das ist ja mein schlimmster Besitz, dies Leben, das ihr mir nehmt. – Willkommen, Räuber, gute Freunde, alte Kameraden!«

Es konnte ja nicht lange dauern; Mitternacht war vorüber. Und wie freute ich mich jetzt auf den Kampf! Angulimala würde mich suchen: ich wollte doch sehen, ob er mir auch diesmal das Schwert aus der Hand schlagen könnte! O, wie süß würde das sein, zu sterben, nachdem ich ihn durchbohrt – ihn, der allein die Schuld an meinem ganzen Unglück trug. »Es kann nicht mehr lange dauern« – wie oft mag ich mir in jenen Nachtstunden diesen Trost wiederholt haben!

Jetzt – endlich! Nein, es war ein Rauschen der Baumwipfel, das in der Ferne dahinstarb, um sich wieder zu erheben. Es klang als ob ein großes zottiges Tier sich schüttelte. Immer wieder geschah es, und einmal ertönte der kurze Schrei irgend eines Vogels.

Waren das nicht Zeichen des herannahenden Tages ?

Mir wurde kalt vor Schrecken. War es möglich, daß ich enttäuscht werden sollte? Ja, ich zitterte jetzt bei dem Gedanken, daß die Räuber schließlich nicht kämen. Wie greifbar nahe war mir das Ende erschienen – ein kurzer, aufregender Kampf und dann der Tod, kaum gespürt. Nichts schien mir nun so trostlos, als die gemeine Aussicht, am Morgen hier angetroffen zu werden, in der alten Umgebung, selbst wieder der alte und dem alten Leben verschrieben. Sollte das wirklich geschehen? – Kämen sie nicht, die Befreier! Es mußte sicher die höchste Zeit sein – ich wagte nicht einmal nachzuforschen. Aber wie war das möglich? War ich am Ende doch das Opfer einer Sinnestäuschung geworden, als ich in jenem Asketen Angulimala erkannte? Wieder und wieder warf ich diese Frage auf, jedoch ich konnte das nicht glauben. Dann aber mußte er ja noch kommen – ohne Zweck hatte er sich doch gewiß nicht in dieser sehr geschickten Verkleidung bei mir eingefunden, um sofort wieder zu verschwinden, als ob ihn die Erde verschlungen hätte. Denn ich hatte Nachforschungen angestellt und wußte, daß er nirgends sonst um Almosenspeise vorgesprochen hatte.

Das schlaftrunkene Krähen eines jungen Hahnes im nahen Hofe weckte mich aus meinem Grübeln. Das Sternbild, das ich suchte, konnte ich kaum mehr finden; einige seiner Sterne waren schon hinter die Baumwipfel gesunken, und die Gestirne hatten, mit Ausnahme der am höchsten stehenden, ihr klares Funkeln eingebüßt. Es war kein Zweifel: das Tagesgrauen kündigte sich schon an, und ein Angriff Angulimalas war völlig ausgeschlossen.

Von allem Wunderlichen, was ich in dieser Nacht erlebte, kam aber jetzt das Wunderlichste.

Diese Erkenntnis war nämlich von keinem Gefühl der Enttäuschung begleitet, noch weniger freilich von einer Erleichterung durch das Verschwinden aller Gefahr. Sondern ein neuer Gedanke war da und erfüllte mich ganz:

»Was habe ich denn auch diese Räuber nötig?

Ihre Fackeln und Pechkränze wollte ich, um von der Last dieses prächtigen Besitztums befreit zu werden. Aber es gibt ja Männer, die freiwillig sich ihres Besitzes entäußern und als Pilger umherziehen. Wie ein Vogel, wohin er auch fliegt, nur mit seinen Fittichen versehen fliegt, ebenso ist auch der Pilger mit dem Gewände zufrieden, das seinen Leib deckt, mit der Almosenspeise, die sein Leben fristet. Und ich habe sie ja preisend sagen hören: ›Ein Gefängnis, ein Schmutzwinkel ist die Häuslichkeit, der freie Himmelsraum ist die Pilgerschaft.‹

Und die Schwerter der Räuber rief ich an, um diesen Leib zu töten. Wenn aber dieser Leib zerfällt, bildet sich ja ein neuer, und aus diesem Leben geht ein neues als seine Frucht hervor. – Was für eins würde wohl aber aus dem meinigen hervorgehen? Freilich haben wir ja, Vasitthi und ich, uns bei jener himmlischen Ganga, deren Silberwellen die Lotusteiche des westlichen Paradieses speisen, feierlich zugeschworen, uns in jenen seligen Gefilden zu finden – und mit jenem Schwur hat sich, wie sie sagte, dort im heiligen, kristallklaren See für jeden von uns eine Lebensknospe gebildet; durch jeden reinen Gedanken, jede gute Tat müsse sie wachsen, alles Böse und Nichtswürdige aber werde wie ein Wurm an ihr nagen. Ach, längst muß ja die meinige zernagt sein! Ich habe ja auf mein Leben zurück geblickt: nichtswürdig hat es sich gestaltet, Nichtswürdiges würde aus ihm hervorgehen. Was hätte ich denn durch einen solchen Tausch gewonnen?

Nun gibt es ja aber Männer, die schon in diesem Leben jede irdische Wiedergeburt vernichten und die unerschütterliche Gewißheit ewiger Seligkeit gewinnen. Und das sind eben dieselben Männer, die, Alles hinter sich lassend, frei umherpilgern.

Was sollen mir also die Brandfackeln der Räuber, was ihre Schwerter?«

Und ich, der ich zuerst vor den Räubern angstvoll gezittert und nachher mich ungeduldig nach ihnen gesehnt und meine Hoffnung auf sie gesetzt hatte – ich fürchtete mich weder vor ihnen, noch erhoffte ich von ihnen irgend etwas; von Furcht und Hoffnung frei, empfand ich eine große Ruhe. In dieser Ruhe kostete ich aber einen Vorgeschmack der Wonne, die denjenigen zu eigen ist, die das Ziel der Pilgerschaft erreicht haben; denn wie ich den Räubern gegenüberstand, so mögen sie wohl allen Mächten der Welt gegenüberstehen: weder fürchten sie solche, noch hoffen sie etwas von ihnen, sondern verharren in Frieden.

Und ich, der ich noch vor vierundzwanzig Stunden mich scheute, eine kurze Reise anzutreten wegen der Strapazen und der kargen Kost des Karawanenlebens, ich beschloß jetzt, ohne Zagen und Wanken, bis an das Ende meiner Tage obdachlos zu Fuß zu wandern, mein Leben fristend »so wie es eben kommt«.

Ohne auch nur noch einmal in das Haus zurückzukehren, ging ich geradenwegs nach einer zwischen Garten und Hof gelegenen Scheune, wo allerlei Geräte aufbewahrt wurden. Dort nahm ich den Stock eines Ochsentreibers und schnitt die Spitze ab, um ihn als Wanderstab zu benutzen, und eine Kürbisflasche, wie die Gärtner und Feldarbeiter sie bei sich tragen, hängte ich um.

Am Brunnen im Hofe füllte ich die Flasche.

Da trat der Hausmeier an mich heran.

»Angulimala und seine Räuber kommen wohl jetzt nicht mehr, o Herr?«

»Nein, Kolita, sie kommen nicht mehr.«

»Aber wie, o Herr? Gehst du schon aus?«

»So ist es, Kolita, ich gehe aus, und eben davon wollte ich mit dir sprechen. Denn ich gehe jetzt den Weg, den sie den Weg der höchsten Zugvögel nennen. Von diesem Weg, Kolita, gibt es aber für einen, der auf ihm ausharrt, keine Rückkehr. Keine Rückkehr nach dem Tode in diese Welt, wieviel weniger während des Lebens nach diesem Hause. Dies Haus aber gebe ich in deine Obhut, denn du hast dich treu bewährt bis in den Tod. Verwalte Haus und Vermögen, bis mein Sohn das Mannesalter erreicht. Grüße meinen Vater und meine Frauen, und gehab dich wohl!«

Nachdem ich also gesprochen, und meine Hand, die der gute Kolita mit Küssen und Tränen bedeckte, frei gemacht hatte, schritt ich dem Tore zu. Und beim Anblick des Pfostens, an dem die Gestalt des Asketen gelehnt hatte, dachte ich: wenn ihre Ähnlichkeit mit Angulimala nur eine Erscheinung war, so habe ich nun diese Erscheinung richtig gedeutet.

Schnell, ohne mich umzusehen, durchschritt ich den Vorort mit seinen Gärten; und vor mir erstreckte sich, wie in die Unendlichkeit fortlaufend, im ersten Schimmer des Tagesgrauens, die öde Landstraße.

So bin ich, Ehrwürdiger, in die Heimatlosigkeit gegangen.


 << zurück weiter >>