Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XX. Das unvernünftige Kind

Nachdem der Erhabene seine Belehrung also beschlossen hatte, blieb der Pilger Kamanita lange Zeit stumm und regungslos sitzen, in widerstreitenden und zweifelnden Gedanken befangen. Endlich sagte er: »Du hast mir da, Ehrwürdiger, gar vieles davon gesagt, wie der Mönch dem Leiden schon bei Lebzeiten ein Ende macht, aber nichts davon, was aus ihm wird, wenn dann sein Leib im Tode zerfällt und zu den Elementen zurückkehrt, ausgenommen, daß von da ab weder Menschen noch Götter, noch die Natur selber ihn sehen. Aber von einem ewigen Leben, von höchster Wonne und himmlischer Seligkeit – davon habe ich nichts vernommen. Hat denn der Erhabene darüber nichts offenbart?«

»So ist es, Bruder, so ist es. Der Erhabene hat darüber nichts offenbart.«

»Dann heißt das so viel, als daß der Erhabene von dieser wichtigsten Frage nicht mehr weiß als ich selber,« versetzte Kamanita unmutig.

»Meinst du? So höre denn, Pilger. In jenem Sinsapawalde bei Kosambi, wo du und deine Vasitthi euch ewige Treue und Wiedersehen im Paradiese des Westens zugeschworen habt, weilte auch zu einer Zeit der Erhabene. Und der Erhabene trat aus dem Walde, ein Bündel Sinsapablätter in der Hand, und sprach zu den Jüngern: ›Was meint ihr, ihr Jünger, ist mehr, diese Sinsapablätter, die ich in die Hand genommen habe, oder die anderen Blätter droben im Sinsapawalde?‹ Und ohne sich lange zu besinnen, antworteten sie: ›Die Blätter, Herr, die der Erhabene in die Hand genommen hat, sind wenige, und viel mehr sind jene Blätter droben im Sinsapawalde.‹ ›Ebenso auch, ihr Jünger,‹ sprach der Erhabene, ›ist das viel mehr, was ich erkannt und euch nicht verkündet, als das, was ich euch verkündet habe. Und warum, ihr Jünger, habe ich euch jenes nicht verkündet? Weil es nicht heilsam, nicht urasketentümlich ist, nicht zur Abkehr, nicht zur Wendung, nicht zur Auflösung, nicht zum Erwachen, nicht zum Nirvana führt.«

»Wenn der Erhabene im Sinsapawalde vor Kosambi also gesprochen hat,« antwortete Kamanita, »dann dürfte die Sache noch schlimmer stehen. Denn er hat dann über diesen Punkt geschwiegen, um die Jünger nicht zu entmutigen, oder gar abzuschrecken, indem er ihnen die letzte Wahrheit enthüllte: nämlich die Vernichtung. Diese scheint mir denn auch als notwendige Folge aus dem hervorzugehen, was du mir auseinandergesetzt hast. Denn nachdem alle Gegenstände der fünf Sinne und des Denkens als vergänglich, wesenlos und leidvoll abgewiesen und verneint sind, bleiben eben keine Bestimmungen übrig, mittelst welcher irgend etwas zu fassen wäre. Und so verstehe ich denn, Ehrwürdiger, die mir von dir dargelegte Lehre dahin, daß ein Mönch, der alle Unreinheit von sich abgetan hat, wenn sein Leib zerbricht, der Vernichtung anheimfällt, daß er vergeht, daß er nicht mehr ist jenseits des Todes.«

»Sagtest du mir nicht, Pilger,« fragte dann der Buddha, »daß du binnen eines Monats zu Füßen des Erhabenen im Waldparke Jetavana bei Savatthi sitzen würdest?«

»Das hoff ich sicher zu tun, Ehrwürdiger; warum fragst du mich?«

»Wenn du nun also zu Füßen, des Erhabenen sitzest, was meinst du dann, Freund – die Körperform, die du dann siehst, die du mit den Händen berühren kannst – ist die der Vollendete, siehst du es also an?«

»Das tue ich nicht, Ehrwürdiger.«

»Wenn nun aber der Erhabene mit dir spricht,– das Bewußtsein, das dann zum Vorschein kommt, mit seinen Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen – ist denn das der Vollendete? Siehst du es also an?«

»Das tue ich nicht, Ehrwürdiger.« »So sind wohl, Freund, der Körper und das Bewußtsein zusammengenommen der Vollendete?«

»Auch so sehe ich es nicht an, Ehrwürdiger.«

»Ist denn der Vollendete geschieden von dem Körper? oder vom Bewußtsein? oder von beiden? Siehst du es so an, Freund?«

»Er ist insofern von ihnen geschieden, als sein Wesen durch diese Bestimmungen noch nicht erschöpft ist.«

»Welche Bestimmungen hast du denn nun, Freund, außer denen der Körperlichkeit mit allen ihren sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften und dem Bewußtsein mit seinem ganzen Inhalt von Empfindungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen – welche Bestimmungen hast du noch außerdem, mittelst welcher du das noch nicht Erschöpfte im Wesen des Vollendeten erschöpfen kannst?«

»Solcher anderer Bestimmungen, Ehrwürdiger, habe ich freilich keine.«

»So ist also, Freund Kamanita, schon hier in der Sinnenwelt der Vollendete nicht in Wahrheit und Wesenhaftigkeit für dich zu erfassen. Hast du da also ein Recht, zu sagen, daß der Vollendete – oder der Mönch, der alle Unreinheit von sich abgetan hat – wenn sein Leben zerbricht, der Vernichtung anheimfällt, daß er nicht ist jenseits des Todes; lediglich, weil du kein Mittel besitzest, um ihn dort in Wahrheit und Wesenhaftigkeit zu erfassen?«

Solchermaßen befragt, saß der Pilger Kamanita eine Weile, gebeugten Rumpfes, gesenkten Kopfes, schweigend da. »Wenn ich auch kein Recht habe, das zu behaupten,« sagte er schließlich, »so scheint es mir doch deutlich genug eben aus jenem Schweigen des Vollendeten hervorzugehen. Denn gewiß hätte er nicht geschwiegen, wenn er etwas Erfreuliches mitzuteilen gehabt hätte, was ja der Fall wäre, wenn er wüßte, daß den Mönch, der dem Leiden ein Ende gemacht hat, nach dem Tode keineswegs Vernichtung, sondern ewiges, seliges Leben erwartet. Denn eine solche Mitteilung könnte ja die Jünger nur anspornen und ihnen in ihrem rechten Streben förderlich sein.«

»Wähnst du, Freund? Wie nun aber, wenn der Vollendete als letztes Ziel nicht die Vernichtung des Leidens hingestellt hätte – ebenso wie er mit dem Leiden selbst anfing – sondern noch darüber hinaus ein ewiges, seliges Leben jenseits des Todes gepriesen hätte? Und gar viele von den Jüngern hätten an dieser Vorstellung Gefallen gefunden, hingen ihr anhänglich an, ersehnten ihre Erfüllung mit heißer Sucht, die alle Heiterkeit der Gedenkenruhe trübte: hätten sie sich dann nicht wieder unversehens in das gewaltige Fangnetz der Lebenslust verstrickt? Und indem sie sich an ein Jenseits hielten, hierfür aber notwendigerweise alle Farben vom Diesseits nähmen, würden sie da nicht, je mehr sie dem Jenseits nachjagten, eben am Diesseits festkleben? Gleichwie etwa ein Kettenhund, der an einen festen Pfahl gebunden ist und loszukommen versucht, sich um diesen Pfahl im Kreise dreht: – ebenso würden jene lieben Jünger aus Abscheu vor dem diesseitigen Leben sich gerade um das diesseitige Leben im Kreise drehen.« »Wenn ich auch diese Gefahr zugeben muß,« gab Kamanita zur Antwort, »so halte ich doch das andere Übel, die durch das Schweigen hervorgerufene Unsicherheit, für viel gefährlicher, weil es von vornherein den Eifer lähmt. Denn wie kann wohl der Jünger entschlossen und mutig mit allen Kräften streben, dem Leiden ein Ende zu machen, wenn er nicht weiß, was darauf folgt – ob ewige Seligkeit oder Nichtsein?«

»Was meinst du, Freund, wenn da ein Haus wäre, das vom Feuer ergriffen würde, und der Diener liefe, den Herrn zu wecken: ›Steh auf, Herr! Flieh! Das Haus brennt! Schon flammen die Balken, und das Dach will einstürzen‹ – würde wohl dann der Herr erwidern: ›Geh, mein Lieber, und sieh nach, ob es draußen regnet und stürmt, oder ob es eine liebliche Mondnacht ist; und ist letzteres der Fall, dann wollen wir uns ins Freie begeben.‹«

»Wie könnte wohl, Ehrwürdiger, der Herr also antworten? Denn der Diener hat ihm ja angstvoll zugerufen: ›Flieh, Herr! Das Haus brennt! Schon flammen die Balken, und das Dach will einstürzen‹.«

»Freilich hat der Diener ihm das zugerufen. Wenn nun aber dennoch der Herr antwortete: ›Geh, mein Lieber, und sieh nach, ob es draußen regnet und stürmt, oder ob es eine liebliche Mondnacht ist; und ist letzteres der Fall, dann wollen wir uns ins Freie begeben‹ – würdest du dann nicht daraus schließen, daß der Herr gar nicht richtig gehört hat, was ihm der getreue Diener zurief? daß es ihm keineswegs klar geworden ist, welche tödliche Gefahr über seinem Kopfe schwebt?«

»Freilich müßte ich ja diese Schlußfolgerung ziehen, Ehrwürdiger, da es anderenfalls undenkbar wäre, daß der Mann eine solche törichte Antwort geben könnte.«

»Ebenso nun auch, Pilger – wandere, als ob dein Haupt von Flammen umgeben wäre! denn das Haus brennt. Und welches Haus? Die Welt! Durch welches Feuer entflammt? Durch der Begierde Feuer, durch des Hasses Feuer, durch der Verblendung Feuer. Die ganze Welt wird von Flammen verzehrt, die ganze Welt ist von Rauch umwölkt, die ganze Welt erbebt.«

Solchermaßen angerufen, zitterte der Pilger Kamanita, wie ein junger Büffel zittert, wenn er zum erstenmal aus dem Dickicht den Ruf des Löwen vernimmt. Gebeugten Rumpfes, gesenkten Kopfes, das Gesicht von brennender Röte übergössen, saß er eine Weile schweigend da. Dann sagte er mit mürrischer, obwohl etwas bebender Stimme:

»Das will mir aber dennoch nicht gefallen, daß der Erhabene darüber nichts offenbart hat, wenn er etwas Verheißungsvolles darüber hätte mitteilen können. Und auch wenn er geschwiegen hat, weil das, was er wußte, eben trostlos und abschreckend ist, oder weil er überhaupt nichts wußte: so will mir das auch nicht gefallen. Denn des Menschen Sinnen und Trachten geht auf Glückseligkeit und Wonne, was auch in der Natur begründet ist und nicht anders sein kann. Und so habe ich ja auch die Brahmanischen Priester verkünden hören:

›Gesetzt, es sei ein Jüngling, ein wackerer Jüngling , ein lernbegieriger, der schnellste, kräftigste, stärkste, und ihm gehörte die ganze Erde mit all ihrem Reichtum: so ist das eine menschliche Wonne. Aber hundert menschliche Wonnen sind eine Wonne der himmlischen Genien. Und hundert Wonnen der himmlischen Genien sind eine Wonne der Götter. Und hundert Wonnen der Götter sind eine Wonne des Indra. Und hundert Wonnen des Indra sind eine Wonne des Prajapati, und hundert Wonnen des Prajapati sind eine Wonne des Brahman. Dies ist die höchste Wonne, dies ist der Weg zur höchsten Wonne!‹«

»Gleichwie, o Pilger, wenn da ein unerfahrenes Kind wäre, der vernünftigen Erwägung unfähig. Dieses Kind empfände in einem Zahne brennenden, stechenden, bohrenden Schmerz; und es liefe zu einem kundigen, bewährten Arzt und klagte ihm seine Not: ›Wolle, Ehrwürdigster, durch deine Kunst schaffen, daß ich in diesem Zahn anstatt des Schmerzes ein wonniges Hochgefühl empfinde.‹ Und der Arzt antwortete: ›Liebes Kind, meine Kunst befaßt sich nur damit, den Schmerz zu beseitigen.‹ – Aber das unvernünftige Kind finge an zu klagen: ›Habe ich doch, ach! in diesem Zahne nun so lange brennenden, stechenden, bohrenden Schmerz empfunden; wie billig ist es da, daß ich jetzt statt dessen ein wonniges Gefühl, süße Lust darin genösse. Auch gibt es ja, habe ich gehört, kundige, bewährte Ärzte, deren Kunst so weit reicht, und ich glaubte, daß du ein solcher wärest!‹ Und dies unvernünftige Kind liefe nun zu einem Heilzauberer, einem Wunderarzt aus dem Lande der Gandarer, einem Marktschreier, der durch einen öffentlichen Ausrufer zum Schall von Trommeln und Muschelhörnern auf den Straßen verkünden ließe: ›Gesundheit ist das höchste Gut, Gesundheit ist des Menschen Ziel. Blühende, üppige Gesundheit, wohliges, wonniges Hochgefühl in allen Gliedern, in allen Adern und Fasern des Körpers, wie es die seligen Götter genießen, kann auch der Kränkste um eine geringe Opfergabe durch meine Hilfe erlangen.‹ Zu diesem Wunderarzt liefe das Kind und klagte ihm seine Not: ›Wolle, Ehrwürdigster, durch deine Kunst schaffen, daß ich in diesem Zahn anstatt des Schmerzes ein wohliges, wonniges Hochgefühl genieße.‹ Und der Zauberer antwortete: ›Liebes Kind, gerade darin besteht meine Kunst.‹ Und nachdem er das ihm vom Kinde dargereichte Geld eingestrichen, berührte er den Zahn mit seinem Finger und brächte eine magische Wirkung hervor, wodurch ein wonniges Lustgefühl sofort den Schmerz verdrängte. Und das unvernünftige Kind liefe erfreut und hochbeglückt nach Hause. – Nach einer kurzen Weile aber ließe das Lustgefühl nach, und der Schmerz stellte sich wieder ein. Und warum? Weil ja die Ursache des Übels nicht beseitigt war.

Aber, o Pilger, ein verständiger Mann empfände in einem Zahn brennenden, stechenden, bohrenden Schmerz. Und er ginge zu dem kundigen, bewährten Arzt und klagte ihm seine Not: ›WoIle, Ehrwürdigster, durch deine Kunst mich von diesem Schmerz befreien.‹ Und der Arzt antwortete: »Wenn du, mein Lieber, nichts weiter von mir verlangst, so viel vertraue ich meiner Kunst.‹ ›Was könnte ich wohl weiter verlangen?‹ fragte der verständige Mann. Und der Arzt untersuchte den Zahn und fände die Ursache des Schmerzes in einer Entzündung an der Zahnwurzel. ›Geh nach Hause, mein Lieber, und lasse dir an dieser Stelle einen Blutegel setzen. Wenn er sich vollgesogen hat und abfällt, dann lege diese Kräuter auf die Wunde. Dann wird der Eiter und das ungesunde Blut entfernt sein, und der Schmerz wird aufhören.‹ Und der verständige Mann ginge nach Hause und täte, wie der Arzt ihm gesagt. Und der Schmerz verginge und kehrte nicht wieder. Und warum nicht ? Weil ja die Ursache des Übels beseitigt war

Als nun der Erhabene nach Beendigung dieses Gleichnisses schwieg, saß der Pilger Kamanita verstummt und verstört, gebeugten Rumpfes, gesenkten Hauptes, das Antlitz von brennender Röte Übergossen, wortlos da, und der Angstschweiß tröpfelte ihm von der Stirn herab und rieselte ihm aus den Achselhöhlen herunter. Fühlte er sich doch von diesem Ehrwürdigen mit einem unvernünftigen Kinde verglichen und ihm gleichgestellt. Und da er trotz aller Anstrengung keine Antwort zu finden vermochte, war er dem Weinen nahe.

Endlich, als er seine Stimme beherrschen konnte, fragte er kleinlaut:

»Hast du, Ehrwürdiger, dies alles aus dem Munde des Erhabenen, des vollendeten Buddha selber?«

Selten geschieht es, daß Vollendete lächeln. Bei dieser Frage jedoch umspielte ein Lächeln die Lippen des Erhabenen.

»Das freilich nicht, Bruder.«

Als der Pilger Kamanita dies vernahm, richtete er freudig seinen Körper empor, blickte leuchtenden Auges auf und sprach mit frisch belebter Stimme:

»Dachte ich's doch! O, ich wußte ja, daß dies nicht die ureigene Lehre des Vollendeten sein könne, sondern nur deine eigene mißverständlich ergrübelte Auslegung derselben. Heißt es ja doch, daß die Lehre des Buddha im Anfange beseligend, in der Mitte beseligend und am Ende beseligend sei. Wie aber könnte jemand das von einer Lehre sagen, die mir nicht ein ewiges, seliges Leben in höchster Wonne verheißt? Nun, in wenigen Wochen werde ich ja zu Füßen des Vollendeten sitzen und von seinen eigenen Lippen die Heilslehre empfangen, wie ein Kind aus der Mutterbrust seine süße Nahrung saugt. Und auch du wirst da sein und richtig belehrt von deiner irrigen, verderblichen Auffassung zurückkommen. Aber sieh, jene Streifen des Mondlichtes haben sich fast bis zur Schwelle der Halle zurückgezogen; wir müssen tief in der Nacht sein. Wohlan, wir wollen uns jetzt schlafen legen.«

»Wie es dir, Bruder, belieben mag,« antwortete der Erhabene freundlich.

Und sich fester in seinen Mantel hüllend, legte der Erhabene sich auf der Matte in der Stellung des Löwen hin, auf den rechten Arm gestützt, den linken Fuß auf dem rechten ruhen lassend.

Und der Stunde des Erwachens gedenkend, schlief er sofort ein.


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