Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XXXII. Satagira

Die ganze Nacht blieb ich auf der Terrasse, eine willenlose Beute der entfesselten, mir unbekannten Leidenschaften, die mit meinem Herzen ihr Spiel trieben wie Wirbelwinde mit einem Blatt.

Mein Kamanita war noch am Leben! Er hatte in seiner fernen Heimat von meiner Heirat gehört – denn sonst wäre er ja längst gekommen. Wie treulos – oder wie erbärmlich schwach mußte ich in seinen Augen sein! Und an dieser meiner Erniedrigung war allein Satagira schuld. Mein Haß gegen ihn wurde mit jeder Minute tödlicher, und tief fühlte ich die Wahrheit in Angulimalas Worten, daß ich, wenn ich ein Mann gewesen wäre, sicherlich Satagira getötet hätte.

Dann zeigte sich wieder jene Aussicht, die Angulimala mir so unerwartet eröffnet hatte: – wenn ich frei war, konnte ich den Geliebten heiraten. Bei diesem Gedanken geriet mein ganzes Wesen in einen so stürmischen Aufruhr, daß ich glaubte, das Blut müßte mir Brust und Schläfen sprengen. Außerstande, mich aufrechtzuhalten, vermochte ich nicht einmal, nach der Bank zu wanken, sondern sank auf die marmornen Fliesen nieder, und die Sinne vergingen mir. Die Kühle des Morgentaues brachte mich zu meinem unseligen Dasein mit seinen furchtbaren Fragen zurück.

War es denn Wahrheit, daß ich mich mit einem Räuber und tausendfachen Mörder verbinden wollte, um den Mann aus dem Wege zu räumen, der mich einst um das Hochzeitsfeuer geführt hatte?

Aber ich wußte ja noch gar nicht, wann mein Gemahl fortzöge! Und wie sollte ich die Zeit seiner Abreise, wie auch den genauen Weg, den er zu nehmen beabsichtigte, erfahren, wenn er ein Geheimnis daraus machte?

»Für eine schöne Frau ist es ja nicht schwierig, dem Gemahl ein Geheimnis zu entlocken« – diese Worte des Räubers klangen mir noch im Ohre und zeigten mir die ganze Niedrigkeit einer solchen Handlungsweise. Nie würde ich mich dazu entschließen können, mich durch Zärtlichkeit in sein Vertrauen einzuschleichen, um ihn dann seinem Todfeinde zu verraten. Aber gerade dadurch, daß ich dies so deutlich fühlte, wurde es mir auch klar, daß es eigentlich nur das verräterische und heuchlerische Erschleichen des Geheimnisses war, das ich so von Grund aus verabscheute. Wäre ich aber schon im Besitz des Geheimnisses gewesen – hätte ich gewußt, wo ich hingehen und eine Tafel finden könnte, auf der Alles aufgeschrieben stand: – dann würde ich sicher die tödliche Kunde Angulimala mitgeteilt haben.

Wie mir dies nun klar wurde, zitterte ich vor Entsetzen, als ob ich schon schuldig an Satagiras Tod wäre. Ich dankte meinem Schicksal, daß keine Möglichkeit für mich vorhanden war, diese Kunde zu erlangen; denn wenn ich auch vielleicht hätte erfahren können, zu welcher Stunde sie aufbrechen würden, so konnte doch nur Satagira selbst und höchstens noch ein Vertrauter wissen, welche Wege und Stege man gewählt hatte.

Ich sah die aufgehende Sonne die Türme und Kuppeln Kosambis vergolden, so wie ich dies hinreißende Schauspiel von der Terrasse der Sorgenlosen aus so oft – aber ach! mit wie ganz anderen Gefühlen – betrachtet hatte, wenn ich selige Nachtstunden dort mit dir verbrachte. Unglücklich wie noch nie zuvor, matt und elend, als ob ich in dieser Nacht um Jahrzehnte gealtert wäre, begab ich mich in den Palast zurück.

Um nach meinem Zimmer zu kommen, mußte ich durch eine lange Galerie gehen, nach der einige Räume mit vergitterten Fenstern sich öffneten. Als ich an einem derselben vorüberschritt, vernahm ich Stimmen. Die eine – die meines Gemahls – hub gerade an:

»Gut, wir wollen also heute Nacht – eine Stunde nach Mitternacht – aufbrechen.«

Ich war unwillkürlich stehen geblieben. Die Stunde wußte ich also! Aber den Weg? Die Schamröte stieg mir ins Gesicht, weil ich den Lauscher an der Tür spielte – »fliehe, fliehe!« rief es in mir – »noch ist es Zeit!« Aber ich blieb wie angewurzelt stehen.

Satagira sprach indessen nicht weiter. Er mochte meine Schritte und ihr Aufhören an der Tür bemerkt haben; denn diese wurde plötzlich aufgerissen. Mein Gemahl stand vor mir.

»Ich hörte deine Stimme im Vorbeigehen,« sagte ich mit raschem Entschluß, »und dachte daran, anzufragen, ob ich dir einige Erfrischungen bringen sollte, da du so früh den Geschäften obliegst. Dann befürchtete ich wieder, dich zu stören und wollte weitergehen.«

Satagira sah mich ohne Mißtrauen, ja sogar sehr freundlich an.

»Ich danke dir,« sagte er, »ich bedarf keiner Erfrischungen, aber du störst mich keineswegs. Im Gegenteil, ich wollte gerade nach dir schicken und fürchtete nur, daß du noch nicht aufgestanden wärest. Du kannst mir gerade jetzt von dem größten Nutzen sein.«

Er lud mich ein, in das Zimmer zu treten, was ich mit der höchsten Verwunderung tat, sehr darauf gespannt, was für einen Dienst er wohl von mir begehrte, gerade in diesem Augenblick, wo ein tödlicher Anschlag gegen ihn mein Gemüt erfüllte.

Ein Mann, in dem ich einen Reiterführer und Vertrauten Satagiras erkannte, saß auf einem niedrigen Sitz. Er erhob sich bei meinem Eintreten und verbeugte sich tief. Satagira ließ mich neben sich Platz nehmen, winkte dem Reiteranführer, sich wieder zu setzen, und wandte sich zu mir.

»Es handelt sich, meine liebe Vasitthi, um Folgendes: Ich muß möglichst bald eine Reise antreten, um einen Dorfstreit in den östlichen Gauen zu schlichten. Nun haben sich seit einigen Wochen in den Waldgegenden östlich von Kosambi, und zwar recht nahe der Stadt, Räuber gezeigt. Es geht sogar das törichte Gerücht, ihr Führer sei kein anderer als Angulimala, indem man die unerhörte Frechheit hat, zu behaupten, Angulimala sei damals aus dem Gefängnis entflohen, und ich hätte statt seines Kopfes einen anderen, dem seinen ähnlichen, über dem Tor aufgesteckt. Über solche Märchen können wir freilich lachen. Allerdings aber scheint dieser Räuber dem berühmten Angulimala an Dreistigkeit nicht viel nachzugeben, und wenn er sich wirklich für jenen ausgibt, um durch den glorreichen Namen großen Anhang zu finden, so geht er gewiß darauf aus, irgend eine recht glänzende Tat zu vollbringen. Deshalb ist immerhin eine gewisse Vorsicht geboten.«

Auf einem kleinen, mit edlen Steinen ausgelegten Tische neben ihm lag ein seidenes Tuch. Er nahm es und wischte sich damit die Stirn. Es sei doch heute, meinte er, trotz der frühen Stunde recht heiß. Ich merkte wohl, daß es die Angst vor Angulimala war, die ihm den Schweiß aus den Poren trieb. Aber anstatt daß dadurch mein Mitleid geweckt worden wäre, fühlte ich bei diesem Anblick vielmehr nur Verachtung für ihn. Ich sah, daß er kein Held war und fragte mich verwundert, durch welchen Glücksfall er dazu gekommen wäre, Angulimala gefangen zu nehmen, Angulimala, den Räuber, der mir vorkam wie der furchtbare Bhima im Mahabharata, an dessen Seite du ja selber, mein lieber Kamanita, auf der Ebene Kurukschetra gekämpft hast.

»Nun kann ich aber,« fuhr indessen mein Gemahl fort, »nicht gut in jenen Dörfern mit einem ganzen Heere ankommen, ja ich möchte sogar nicht gern mehr als dreißig Reiter auf diese Reise mit mir nehmen. Um so mehr aber ist Vorsicht und sogar täuschende List geboten. Ich habe dies gerade mit meinem getreuen Panduka besprochen, und er hat mir einen guten Vorschlag gemacht, den ich dir auch mitteile, damit du nicht während dieser Tage in allzu großer Angst um mich bist.«

Ich murmelte etwas, das einen Dank für diese Rücksichtnahme bedeuten sollte.

»Panduka,« fuhr er fort, »wird also recht augenfällig alle Vorbereitungen treffen, als ob ich morgen früh mit einer ziemlich ansehnlichen Truppenmacht gen Osten einen Zug machen wollte, um die Räuber zu fangen. Wenn diese also – was ich nicht bezweifle – hier in der Stadt Helfershelfer haben, die sie auf dem Laufenden halten, so werden sie dadurch hinters Licht geführt. Mittlerweile breche ich mit meinen dreißig Reitern eine Stunde nach Mitternacht auf, und zwar durch das südliche Tor, und ziehe durch das Hügelland in einem großen Bogen ostwärts. Doch möchte ich auch hier gern die Hauptstraßen vermeiden, bis ich einige Meilen von Kosambi entfernt bin. Nun liegt ja aber gerade in dieser Gegend das Sommerhaus deines Vaters, und du kennst von Kind auf alle Wege und Stege dort – kannst mir also, denke ich, hier mit deinem Rate viel nützen.«

Ich war sofort dazu bereit, und während ich ihm Alles ausführlich beschrieb, ließ ich mir eine Tafel geben und zeichnete darauf eine genaue Karte von der Umgebung jenes Hauses, mit Kreuzzeichen an den Stellen, die er sich besonders merken mußte. Vor allem aber empfahl ich ihm einen Pfad, der durch eine Schlucht führte. Diese verengte sich allmählich so sehr, daß auf einer kurzen Strecke nicht zwei Reiter nebeneinander reiten konnten, dafür war aber dieser Weg so unbekannt, daß, selbst wenn die Räuber ahnen sollten, daß er einen solchen Umweg machte, gewiß niemand ihn dort suchen würde.

In dieser Schlucht aber hatte ich als ein unschuldiges Kind mit meinen Brüdern und Medini und den Kindern unseres Pächters gespielt.

Satagira bemerkte, daß meine Hand, die auf die Tafel zeichnete, zitterte, und fragte mich, ob ich Fieber hätte. Ich antwortete, daß es nur etwas Müdigkeit nach einer schlaflosen Nacht sei. Er ergriff aber meine Hand und fand besorgt, daß sie kalt und feucht sei, und als ich sie mit der Bemerkung, das habe gar nichts zu sägen, zurückziehen wollte, behielt er sie in der seinen, während er mich ermahnte, vorsichtig zu sein und mich zu schonen; und in seinem Blick und seiner Stimme bemerkte ich mit unsagbarem Unwillen, ja mit Entsetzen etwas von der bewundernden Zärtlichkeit aus jener Zeit, als er vergebens um mich warb. Ich beeilte mich zu sagen, daß ich mich wirklich nicht ganz wohl fühlte und mich gleich zur Ruhe begeben wollte.

Satagira folgte mir aber noch in die Galerie hinaus, und hier, wo wir allein waren, fing er an, sich zu entschuldigen: er habe allerdings über die Mutter seines Sohnes mich jetzt lange Zeit vernachlässigt; aber nach seiner Rückkehr sollte das anders werden; ich würde nicht länger nötig haben, die Nacht allein auf der Terrasse zuzubringen.

Wenn auch jene Zärtlichkeit, die dem Grabe einer verschollenen Jugendliebe entstiegen schien, bei der ich anerkennen mußte, daß sie sogar mit einer gewissen halsstarrigen Treue nur mir gegolten hatte, nicht umhin konnte, mein Herz etwas zu seinen Gunsten zu stimmen, so daß ich einen Augenblick in meinem Vorsatz wankte: so waren doch die letzten Worte, die mit einem süßlichen Lächeln und einer ekelhaften Vertraulichkeit vorgebracht wurden, nur zu geeignet, diese Wirkung wieder aufzuheben, indem sie mich an Rechte gemahnten, die er sich mir gegenüber durch seinen feigen Verrat erschlichen hatte.


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