Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XLI. Der leichte Spruch

Ich war nun Ordensscnwester geworden und begab mich jeden Tag früh morgens mit meiner Almosenschale nach Kosambi, wo ich von Haus zu Haus ging, bis sie gefüllt war – obwohl Satagira mir diesen Bettelgang nur zu gern erspart hätte.

Eines Tages stellte ich mich auch am Eingange seines Palastes hin, weil die ältesten Nonnen mir geraten hatten, mich auch dieser Prüfung zu unterziehen. Da trat Satagira gerade in den Torweg, wich mir aber scheu aus und verhüllte traurig sein Antlitz. Gleich danach kam dann der Hausmeier und bat mich weinend, doch ja zu gestatten, daß Alles, wofür ich Gebrauch habe, mir täglich zugeschickt werde. Ich aber antwortete ihm, daß es mir gezieme, der Ordensregel nachzukommen.

Wenn ich von diesem Gange zurückgekehrt war und das Gespendete verzehrt hatte, womit dann für den ganzen Tag die elende Nahrungsfrage erledigt war, wurde ich von einer der älteren Nonnen unterrichtet, und abends lauschte ich in der Versammlung den Worten des Erhabenen oder auch denen eines großen Jüngers, wie Sariputta oder Ananda. Nachher aber geschah es wohl, daß eine Schwester die andere aufsuchte: »Entzückend, Schwester, ist der Sinsapawald, herrlich die klare Mondnacht, die Bäume stehen in voller Blüte, himmlische Düfte, meint man, wehen umher. Wohlan, laß uns Schwester Sumedha aufsuchen. Sie ist eine Hüterin des Wortes, ein Hort der Lehre. Ihre Rede dürfte wohl diesem Sinsapawalde doppelten Glanz verleihen.« Und wir brachten dann den größten Teil einer solchen Nacht mit sinnigen Gesprächen zu.

Dies Leben in der freien Natur, diese fortwährende Geistestätigkeit und der rege Gedankenaustausch, wodurch keine Zeit für trübes Hinbrüten über eigenen Schmerz oder für müßige Träumereien übrig blieb, endlich die Erhebung und Läuterung des Gemütes durch die Macht der Wahrheit – all dies stärkte mir Körper und Geist wunderbar. Ein neues und edleres Leben tat sich vor mir auf, und ich genoß ein ruhiges, heiteres Glück, von dem ich mir wenige Wochen vorher nichts hätte träumen lassen.

Als die Regenzeit kam, stand schon das Gebäude für die Schwestern bereit, mit geräumiger Halle zum gemeinsamen Aufenthalte und mit Zellen für jede einzelne. Mein Gemahl und einige andere reiche Bürger, die Verwandte unter den Nonnen hatten, ließen es sich nicht nehmen, diese unsere Heimstätte mit Matten und Teppichen, Stühlen und Ruhebetten auszustatten, so daß wir reichlich mit Allem versehen waren, was zur vernünftigen Bequemlichkeit des Lebens gehört, und seiner Üppigkeit um so lieber entrieten. So ging denn auch diese Zeit der Eingeschlossenheit leidlich genug dahin, im regelmäßigen Wechsel von gemeinsamen Unterhaltungen über religiöse Fragen und von Selbstdenken und Vertiefung. Gegen Abend aber begaben wir uns, wenn das Wetter es erlaubte, nach der großen Halle der Mönche, um dem Meister zu lauschen, oder es kam auch der Erhabene oder einer der großen Jünger zu uns herüber.

Als nun aber der Wald, den der Meister lobt, erfrischt und verjüngt, in hundertfacher Blätterfülle und Blumenpracht uns wieder einlud, unter sein freies Obdach unsere einsame Gedenkenruhe und unsere gemeinsamen Versammlungen zu verlegen, da traf uns die betrübende Kunde, daß der Erhabene sich jetzt bereit mache, seine Wanderung nach den östlichen Gegenden anzutreten. Aber freilich hatten wir ja nicht hoffen dürfen, daß er immer in Kosambi bleiben werde; auch wußten wir, wie töricht es ist, über etwas Unvermeidliches zu klagen, und wie wenig wir uns des Meisters würdig zeigten, wenn wir uns von Trauer überwältigen ließen.

So begaben wir uns denn in später Nachmittagsstunde gefaßt und ruhig nach dem Krishnatempel, um zum letzten Male für lange Zeit den Worten des Buddha zu lauschen und dann von ihm Abschied zu nehmen.

Auf den Stufen stehend, redete der Erhabene vom Vergehen alles Entstandenen, von der Auflösung alles dessen, was sich zusammengesetzt hat, von der Flüchtigkeit aller Erscheinungen, von der Wesenlosigkeit aller Gestaltungen. Und nachdem er gezeigt hatte, wie nirgends in dieser oder in jener Welt, soweit die Daseinslust keimt, nirgendwo in Raum und Zeit eine feste Stelle, ein bleibender Zufluchtsort zu finden ist, sprach er jenes Wort, das du mit Recht »weltzermalmend« nanntest, und das sich jetzt rings um uns verwirklicht:

»Bis in den höchsten Lichthimmel drängt das Leben sich und zerfällt; –
Wisset, einmal erlischt gänzlich auch der Glanz einer Brahmawelt.«

Es war uns Schwestern von einem der Jünger gesagt worden, daß wir nach dem Vortrage eine nach der anderen zum Erhabenen gehen sollten, um von ihm Abschied zu nehmen und einen Geleitspruch für unser weiteres Streben von ihm zu empfangen. Da ich eine der jüngsten war und mich geflissentlich zurückhielt, gelang es mir, die letzte zu werden. Denn ich gönnte es keiner anderen, nach mir mit dem Erhabenen zu reden, und meinte auch, daß mir dadurch eine ruhigere, längere Unterredung ermöglicht würde, als wenn andere hinter mir warteten.

Nachdem ich mich nun ehrfurchtsvoll verneigt hatte, blickte mich der Erhabene an mit einem Blicke, der mich bis ins Innerste durchleuchtete, und sprach:

»Und dir, Vasitthi, gebe ich an der Schwelle dieses zerfallenden Heiligtums des sechzehntausendeinhundertfachen Bräutigams zum Meingedenken und zum Durchdenken unter dem Laubdache dieses Sinsapawaldes, von dem du ein Blatt am Herzen und einen Schatten im Herzen trägst – folgenden Spruch: › Überall, wo Liebe entsteht, entsteht auch Leid.‹«

»Ist das Alles?« fragte ich törichterweise.

»Alles und genug.«

»Und ist es, o Herr, gestattet, wenn ich mit dem Spruche zu Ende bin, wenn ich mir den Sinn völlig zu eigen gemacht habe, zum Erhabenen zu pilgern, um einen neuen Spruch zu empfangen?«

»Es ist gestattet, wenn du noch das Bedürfnis hast, den Erhabenen zu fragen.«

»Wie sollte ich nicht das Bedürfnis haben? Du bist ja, o Herr, unsere Zuflucht.«

»Nimm deine Zuflucht zu dir selber, nimm deine Zuflucht zur Lehre!«

»Das will ich. Doch du, o Herr, bist ja das Selbst der Jünger, bist die lebendige Lehre. Und du hast ja gesagt: es ist gestattet.«

»Wenn dich der Weg nicht müht.«

»Kein Weg kann mich mühen.«

»Der Weg ist weit, Vasitthi! Weiter ist der Weg als du dir denkst, weiter, als Menschengedanken es auszudenken vermögen.«

»Und führte der Weg auch durch tausend Leben, über tausend Welten: kein Weg wird mich mühen.«

»Schon gut, Vasitthi! Gehab dich wohl, und gedenke deines Spruchs.«

In diesem Augenblick nahte der König mit großem Gefolge, um vom Erhabenen Abschied zu nehmen.

Ich zog mich in die hinterste Reihe zurück, von wo aus ich ein ziemlich zerstreuter Zeuge der weiteren Vorgänge dieses letzten Abends war. Denn ich kann nicht leugnen, daß ich mich durch den so sehr leichten Spruch, den mir der Erhabene gegeben hatte, etwas enttäuscht fühlte. Hatten doch mehrere der Schwestern ganz andere schwierige Sprüche zur geistigen Verarbeitung vom Erhabenen zugeteilt bekommen: die eine den Spruch vom Entstehen aus Ursachen, die andere den vom Nichtselbst, eine dritte den von der Vergänglichkeit der Erscheinungen. So meinte ich denn, eine Zurücksetzung erfahren zu haben, was mich sehr betrübte. Wie ich aber weiter darüber nachdachte, kam mir die Vermutung, daß der Erhabene vielleicht bei mir etwas Selbstüberhebung bemerkt habe und sie auf diese Weise dämpfen wolle. Und ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein, um nicht durch Eitelkeit und Selbstgefälligkeit in meinem geistigen Wachstum gehindert zu werden. Bald würde ich mich ja rühmen können, mit dem Spruche zu Ende zu sein, und durfte mir dann einen neuen von den Lippen des Erhabenen selber holen.

In dieser Zuversicht sah ich früh am nächsten Morgen den Buddha mit vielen Jüngern von dannen wandern – unter diesen selbstverständlich auch Ananda, der ja des Meisters wartete und immer um ihn war, und der mir stets auf seine milde Art so besonders wohlwollend begegnet war, daß ich fühlte, ich würde auch ihn und seinen aufmunternden Blick sehr vermissen, noch mehr als den weisen Sariputta, der durch seine scharf zergliedernden Auseinandersetzungen mir in manchem schwierigen Punkt geholfen hatte. Nun war ich meinen eigenen Kräften überlassen.

Sobald ich von meinem Almosengange zurückgekehrt war und mein Mahl verzehrt hatte, suchte ich mir einen schönen Baum aus, der in der Mitte einer kleinen Waldwiese stand – das wahre Urbild jener »mächtigen, lärmentrückten Bäume«, von denen es heißt, daß Menschen darunter sitzen und denken können.

Das tat ich nun, indem ich meinen Spruch ernstlich vornahm. Als ich gegen Abend nach der Versammlungshalle zurückkehrte, brachte ich, als Ausbeute meiner Tagesarbeit, eine innere Unruhe mit mir und eine leise Ahnung, was für eine Bewandtnis es mit diesem Spruche haben mochte. Als ich aber am folgenden Abend nach beendigter Gedenkenruhe zurückkehrte, wußte ich schon genau, was der Erhabene gemeint hatte, als er mir diesen Spruch gab.

Ich hatte ja geglaubt, auf dem graden Wege zum vollkommenen Frieden mich zu befinden und meine Liebe mit ihren leidenschaftlichen Erregungen weit hinter mir zu haben. Aber jener unvergleichliche Herzenskenner hatte gar wohl gesehen, daß die Liebe keineswegs von mir überwunden war, sondern daß sie nur durch den mächtigen Einfluß des neuen Lebens verscheucht, sich in einen innersten Winkel zurückgezogen hatte, um dort ihre Zeit zu erwarten. So wollte er denn, daß ich dadurch, daß ich meine Aufmerksamkeit auf sie richtete, sie aus diesem Schlupfloche hervorlocken solle, um sie dann zu überwinden.

Und freilich kam sie auch hervor, aber mit solcher Macht, daß ich mich sofort mitten in schweren, ja zerrüttenden Seelenkämpfen befand und einsah, daß mir kein leichter Sieg beschieden sei.

Die überraschende Kunde, daß mein Geliebter damals nicht getötet worden war und aller Wahrscheinlichkeit nach noch mit mir diese Erdenluft atmete, war jetzt freilich mehr als ein halbes Jahr alt. Als aber durch die Erscheinung auf der Terrasse jenes Wissen so plötzlich in mir auftauchte, wurde es sofort wieder durch die stürmischen Gemütswellen, die es selber aufregte, gleichsam überschwemmt und tauchte fast wieder in ihren Strudel unter. Haßgefühl, Rachegedanken, Brüten über Verbrecherpläne wechselten in einem wahren Dämonenreigen – dann kam Angulimalas Bekehrung, der überwältigende Eindruck des Buddha, das neue Leben, der Tagesanbruch einer neuen, gänzlich ungeahnten Welt, deren Elemente in der Vernichtung aller Elemente der alten bestanden. Nun aber war der erste Sturm des Neuen vorüber, der große Meister dieses heiligen Zaubers war aus meinem Gesichtskreis entschwunden, und ich saß einsam da, meinen Blick auf die Liebe – auf meine Liebe gerichtet. Da tauchte jene Kunde nun wieder klar hervor und eine grenzenlose Sehnsucht nach dem fernen, noch lebenden Geliebten erfaßte mich. Aber lebte er denn auch noch? – Und liebte er mich denn noch?

Solche Fragen regten durch ihre bange Ungewißheit meine Sehnsucht nur noch mehr auf, und mit der Überwindung meiner Liebe, mit der Aneignung des Spruches wollte es nicht vorwärtsgehen. Immer dachte ich über die Liebe nach und kam nicht zum Leid und zur Leidensentstehung.

Diese meine immer aussichtsloseren Seelenkämpfe blieben den anderen Schwestern nicht verborgen. Ich hörte wohl, wie sie von mir sprachen:

»Vasitthi, die frühere Ministersgattin, die doch selbst der strenge Sariputta wegen ihrer schnellen und sicheren Auffassung auch schwieriger Punkte der Lehre uns des öfteren gepriesen hat, sie kann jetzt mit ihrem doch so leichten Spruch nicht fertig werden.«

Dadurch wurde ich noch mehr entmutigt. Scham und Verzweiflung bemächtigten sich meiner und zuletzt glaubte ich, diesen Zustand nicht mehr ertragen zu können.


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