Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XII. Am Grabe des heiligen Vajaçravas

Ja, sie war es. Keine Möglichkeit, sich in diesen Zügen zu täuschen, – und doch ähnelten sie sich selber nicht, und ähnelten in der Tat nichts, das ich je gesehen hatte; in einem so namenlosen, übermenschlichen Jammer schienen sie versteinert zu sein.

Als ich wieder zur Besinnung kam, zogen gerade die Letzten des Zuges vorüber. Man schrieb meine plötzliche Ohnmacht der Hitze und dem Menschengedränge zu. Willenlos ließ ich mich in die nächste Karawanserei bringen.

Hier warf ich mich in der dunkelsten Ecke nieder, das Gesicht nach der Wand gekehrt, und blieb da, in Tränen gebadet und alle Speise verschmähend, tagelang liegen, nachdem ich jenem alten Diener und Karawanenführer, der mich schon auf der ersten Fahrt begleitet, Anweisung gegeben hatte, so schnell wie möglich und selbst unter schlechten Bedingungen unsere Waren loszuschlagen, da ich zu krank sei, um mich mit Geschäften abzugeben. In der Tat konnte ich nur an meinen unfaßbaren Verlust denken; auch wollte ich mich nicht in der Stadt zeigen, um von niemand erkannt zu werden. Denn ich wollte vor allem verhindern, daß Vasitthi von meiner Anwesenheit etwas erführe.

Ihr Bild, wie ich sie zuletzt gesehen, schwebte mir fortwährend vor der Seele. Wohl war ich über ihren Wankelmut oder eher ihre Schwäche entrüstet; denn ich sah wohl ein, daß nur die letzte in Frage kam, und daß sie dem Drängen der Eltern nicht hatte widerstehen können. Daß sie dem triumphierenden Ministersohn nicht ihr Herz zugewandt hatte, davon zeugten ihre Haltung und Miene deutlich genug. Wenn ich mich aber ihrer erinnerte, wie sie im Krishnahaine leuchtenden Blickes mir ewige Treue zugeschworen hatte, verstand ich nicht, wie es möglich war, daß sie so bald nachgegeben hatte, und ich sagte mir unter bitterem Seufzen, daß auf Mädchenschwüre kein Verlaß sei. Aber immer wieder tauchte jenes Gesicht voll tiefsten Jammers vor mir auf – und sofort war dann auch jeder Groll verscheucht, nur das innigste Mitleid wallte ihm entgegen; und so beschloß ich fest, ihren Kummer nicht dadurch noch zu vermehren, daß von meiner jetzigen Anwesenheit in Kosambi ihr etwas zu Gehör käme. Nie mehr sollte sie etwas von mir erfahren; sicher würde sie dann glauben, daß ich gestorben sei, und sich in ihr Schicksal, dem es ja an äußerem Glanz nicht fehlte, nach und nach ergeben.

Ein günstiger Umstand fügte es, daß mein alter Diener unerwartet schnell die Waren sehr vorteilhaft eintauschte oder verkaufte, so daß ich schon nach wenigen Tagen in früher Morgenstunde mit meiner Karawane Kosambi verlassen konnte.

Als ich nun durch das westliche Stadttor hinausgekommen war, wandte ich mich um und warf einen letzten Blick auf die Stadt, in deren Mauern ich so Unvergeßliches an Freude und Leid erlebt hatte. Vor einigen Tagen, als ich eingezogen, war ich dermaßen von ungeduldiger Erwartung erfaßt gewesen, daß ich für nichts in der Nähe ein Auge gehabt hatte. So wurde ich denn jetzt zum ersten Male gewahr, daß nicht nur die Zinnen des Tores, sondern auch der Mauerrand zu beiden Seiten mit aufgespießten Menschenköpfen schrecklich geschmückt war?

Kein Zweifel – es waren die Köpfe der hingerichteten Räuber aus der Bande Angulimalas!

Zum ersten Male, seitdem ich Vasitthis Gesicht unter dem Baldachin gesehen, erfüllte mich jetzt ein anderes Gefühl als das der Trauer, indem ich mit unaussprechlichem Schauder diese Köpfe betrachtete, von denen die Geier längst nur das Knochengerüst übrig gelassen hatten und höchstens noch die Zöpfe oder hier und dort einen Bart, dessen Urwüchsigkeit sein Gebiet geschützt hatte. So wären sie alle unerkennbar gewesen, wenn nicht einer durch den wilden, roten Bart, ein anderer durch die nach der Art der asketischen Flechtenträger am Scheitel aufgewundenen Zöpfe sich verraten hätte. Diese beiden und zweifelsohne auch viele der anderen hatten mir oft in der nächtlichen Runde kameradschaftlich zugenickt, und ich erinnerte mich mit entsetzlicher Anschaulichkeit, wie dieser rote Bart, im Mondesstrahle sprühend, bei jenem Vortrage über die Stupidität der Nachtwächter vor Lustigkeit gewackelt hatte, ja fast vermeinte ich aus dem lippenlosen Munde noch das dröhnende Gelächter zu hören.

Aber auf der mittleren Torzinne erglänzte, etwas über die anderen erhoben, ein mächtiger Schädel im Strahle der aufgehenden Sonne und zog gebieterisch meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Wie sollte ich diese Formen nicht wiedererkennen? Der war's, der uns damals zum Lachen gebracht hatte, ohne selbst eine Miene seines Brahmanengesichtes zu verziehen. Vajaçravas' Kopf dominierte hier, während der Angulimalas zweifelsohne über dem östlichen Stadttor aufgesteckt war. Und ein sonderbares Gefühl beschlich mich bei dem Gedanken, wie gründlich er einst die verschiedenen Arten von Todesstrafen expliziert hatte – das Vierteilen, das Zerreißen durch Hunde, die Pfählung, die Enthauptung – und wie sorgfältig er dadurch begründen wollte, daß der Räuber sich nicht fangen lassen dürfe; wenn er aber schon einmal gefangen sei, versuchen müsse, durch alle Mittel zu entfliehen. Ach! Was hatte ihm seine Wissenschaft geholfen? So wenig vermag der Mensch seinem Schicksal zu entgehen, das ja nur die Frucht unserer Taten ist – sei es in diesem, sei es in einem vorhergehenden Leben!

Und mir war es, als ob er durch seine leeren Augenhöhlen mich gar ernst betrachtete und sein halb geöffneter Mund mir zuriefe: ». . . Kamanita, Kamanita! betrachte mich genau, achte wohl auf diesen Anblick! Auch du, mein Sohn, bist unter einem Räubergestirn geboren, auch du wirst die nächtigen Pfade Kalis betreten, und ebenso wie ich hier, wirst auch du einmal irgendwo enden.«

Aber seltsam genug: diese Phantasie, die so lebhaft wie eine sinnliche Wahrnehmung war, erfüllte mich nicht mit Schrecken und Schaudern. Meine vermeintlich vorgeschriebene Räuberlaufbahn, der ich noch nie einen ernsten Gedanken geschenkt hatte, stand plötzlich nicht nur in ernstem, sondern sogar in verlockendem Lichte vor mir.

Räuberhäuptling! – Was konnte mir Elenden erwünschter sein? Denn daran zweifelte ich keinen Augenblick, daß ich mit meinen vielen Fähigkeiten und Kenntnissen, und besonders mit denen, die ich dem Unterricht des ehrwürdigen Vajaçravas verdankte, eine leitende Stellung einnehmen würde. Und welche Stellung käme denn für mich der eines Räuberhäuptlings gleich? War doch selbst die eines Königs dagegen gering zu schätzen. Denn konnte die mir Rache an Satagira verschaffen? Konnte die Vasitthi in meine Arme führen? Ich sah mich selbst mitten im Walde im Kampfe mit Satagira, dem ich mit einem wuchtigen Schwerthieb den Schädel spaltete; und wieder sah ich mich, wie ich die ohnmächtige Vasitthi in meinen Armen aus dem brennenden, von Räuberstimmen widerhallenden Palast entführte.

Zum ersten Male seit jenem jammervollen Anblick schlug mein Herz wieder mutig und hoffnungsvoll einer Zukunft entgegen; zum ersten Male wünschte ich mir nicht den Tod, sondern das Leben.

Von solchen Bildern erfüllt war ich kaum tausend Schritte weiter gezogen, als ich vor mir auf dem Wege eine von der entgegengesetzten Seite kommende Karawane halten sah, während der Führer an einem kleinen Hügel unmittelbar an der Landstraße offenbar ein Opfer darbrachte.

Ich ging auf ihn zu, grüßte ihn höflich und fragte ihn, welche Gottheit er hier verehrte.

»In diesem Grabe,« antwortete er, »ruht der heilige Vajaçravas, dessen Schutze ich es verdanke, daß ich, durch eine gefährliche Gegend ziehend, heil und unversehrt an Leib und Gut nach Hause komme. Und ich rate dir sehr, es ja nicht zu versäumen, hier ein passendes Opfer darzubringen. Denn wenn du auch beim Einziehen in das waldige Gebiet hundert Waldhüter mietetest, so würden die dir keine so gute Hilfe gegen Räuber sein, wie es der Schutz dieses Heiligen ist.«

»Mein lieber Mann!« entgegnete ich, »dieser Grabhügel scheint nur wenige Monate alt zu sein, und wenn in ihm ein Vajaçravas begraben liegt, so wird das gewiß kein Heiliger sein, sondern der Räuber dieses Namens.«

Der Kaufmann aber nickte ruhig zustimmend.

»Der nämliche – gewiß .... Ich sah, wie er an dieser Stelle gepfählt wurde. Und sein Kopf steckt noch über dem Tor. Nachdem er aber so die vom Fürsten verhängte Strafe erlitten hat, ist er, dadurch von seinen Sünden geläutert, fleckenlos in den Himmel eingegangen, und sein Geist schützt jetzt den Reisenden gegen Räuber. Auch sagt man übrigens, daß er schon während seines Räuberlebens ein gar gelehrter und fast heiliger Mann gewesen sei; denn er wußte selbst geheime Teile des Veda auswendig – wenigstens heißt es so.«

»Das verhält sich wirklich so,« versetzte ich, »denn ich habe ihn sehr gut gekannt und darf mich sogar seinen Freund nennen.«

Als der Kaufmann mich bei diesen Worten etwas erschrocken ansah, fuhr ich fort:

»Du mußt nämlich wissen, daß ich einst bei dieser Bande in Gefangenschaft geraten war, und daß Vajaçravas mir bei dieser Gelegenheit zweimal das Leben gerettet hat.«

Der Blick des Kaufmanns ging vom Schrecken zu bewunderndem Neid über:

»Nun, dann kannst du dich wahrlich glücklich preisen. Stünde ich so bei ihm in Gunst, dann würde ich in wenigen Jahren der reichste Mann in Kosambi sein. Und nun, eine glückliche Reise, Beneidenswerter!«

Damit ließ er seine Karawane sich wieder in Bewegung setzen.

Ich versäumte selbstverständlich nicht, am Grabe meines berühmten und verehrten Freundes eine Totenspende niederzulegen, mein Gebet ging aber, allen anderen hier abgehaltenen entgegen, darauf hinaus, daß er mich geradeswegs in die Arme der nächsten Räuberbande leiten sollte, der ich mich dann mit seiner Hilfe anschließen wollte und deren Führung, woran ich nicht zweifelte, bald von selber in meine Hände übergehen würde.

Es sollte sich aber deutlich zeigen, daß mein gelehrter und nunmehr durch Volksmund heilig gesprochener Freund sich geirrt hatte, als er annahm, eine Räuberkonstellation habe über meiner Geburt geleuchtet. Denn auf dem ganzen Weg nach Ujjeni trafen wir keine Spur von Räubern, und doch wurde, kaum eine Woche nachdem wir einen großen Wald hart an der Grenze Avantis gekreuzt hatten, eine Karawane, der wir begegnet waren, in eben diesem Walde von Räubern überfallen.

Es ist mir eine Quelle sonderbarer Betrachtungen gewesen, daß es anscheinend auf einem reinen Zufall beruhte, wenn ich im bürgerlichen Leben blieb, anstatt, wie mein Herz brennend begehrte, in das Räuberleben einzutreten. Freilich mag wohl von den nächtigen Pfaden Kalis auch einer auf den Weg der Pilgerschaft ausmünden, wie ja auch von den vom Herzen ausgehenden, mit fünffarbigem Safte erfüllten hundertundein Adern eine einzige nach dem Kopfe führt und diejenige ist, durch welche beim Tode die Seele den Körper verläßt. So könnte ich ja auch in dem Falle, daß ich Räuber geworden wäre, noch immer jetzt ein Pilger sein und mich auf dem Wege nach dem Ziele der Erlösung befinden. Wenn aber Einer die Erlösung erlangt, dann werden seine Werke, böse wie gute, zu nichts, durch die Glut des Wissens gleichsam zur Asche verbrannt.

Auch muß ich sagen, daß jene Zwischenzeit, im Räuberleben oder im bürgerlichen verbracht, vielleicht hinsichtlich der moralischen Früchte nicht so verschieden ausgefallen wäre, wie es dir, o Bruder, wohl scheinen mag. Denn ich habe, während ich unter den Räubern lebte, wohl bemerkt, daß es auch unter ihnen sehr verschiedenartige Leute gibt, und zwar einige mit sehr vortrefflichen Eigenschaften, und daß, wenn man von gewissen Äußerlichkeiten absieht, der Unterschied zwischen Räubern und ehrlichen Leuten nicht ganz so ungeheuer ist, wie die letzteren es sich gern vorstellen. Und andererseits habe ich in der reifen Periode meines Lebens, in die ich nunmehr eintrat, nicht umhin können zu bemerken, daß die ehrlichen Leute den Dieben und Räubern in das Handwerk pfuschen, einige gelegentlich und gleichsam improvisierend, andere beständig und mit großer und für sie sehr bekömmlicher Meisterschaft, so daß durch gegenseitige Annäherung sogar nicht wenig Berührung zwischen beiden Gruppen stattfindet.

Weshalb ich denn auch nicht weiß, ob ich durch das günstige Schicksal, das mich von den nächtigen Pfaden der schädelhalsbandschüttelnden Tänzerin fernhielt, eigentlich so sehr viel gewonnen habe.« – –

Nach dieser tiefsinnigen Betrachtung schwieg der Pilger Kamanita und richtete in Sinnen versunken seinen Blick nach dem Vollmond, der groß und glühend draußen über dem fernen Wald – dem Aufenthalt der Räuber – aufstieg und sein Licht gerade in die offene Halle des Hafners hereinströmen ließ, wo es den gelben Mantel des Erhabenen in lauteres Gold zu verwandeln schien, wie die Bekleidung eines Götterbildes.

Der Erhabene, auf den der Pilger, vom Glanze angezogen und dennoch ohne zu ahnen, wen er sah, unwillkürlich seinen Blick richtete, gab durch ein langsames Kopfnicken seine Teilnahme zu erkennen und sagte:

»Noch seh' ich dich, Pilger, vielmehr der Häuslichkeit als der Hauslosigkeit zuschreiten, obwohl der Weg in die letztere sich dir wahrlich deutlich genug eröffnet hatte.«

»So ist es, Ehrwürdiger! Blöden Auges sah ich diesen Ausweg nicht, sondern schritt eben, wie du sagtest, der Häuslichkeit zu.«

Und nach einem tiefen Seufzer fuhr der Pilger mit frischer und heiterer Stimme in dem Bericht seiner Erlebnisse fort.


 << zurück weiter >>