Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XXIX. Im Dufte Der Korallenblüten

Sie besuchten in der Tat nicht wieder jenes ungastliche Gestade der himmlischen Ganga. Oft aber lenkten sie ihren Flug nach dem Tale der Malachitfelsen. Unter der mächtigen Krone des Korallenbaumes gelagert, atmeten sie jenen Duft aller Düfte, der den karmesinroten Blüten entströmte, und in der Tiefe ihrer Erinnerung öffnete sich dann die Aussicht auf ihre früheren Leben.

Bald in Palästen, bald in Hütten sahen sie sich nun wieder, aber ob in Seide und Musselin gehüllt oder in die groben Erzeugnisse des Dorfwebstuhles gekleidet: immer war die gegenseitige Liebe da. Bald wurde sie durch das Glück der Vereinigung gekrönt, bald war die Trennung durch Lebensgeschicke oder durch den Tod ihr jammervolles Los: aber glücklich oder unglücklich, die Liebe blieb dieselbe.

Und sie sahen sich in anderen Zeiten, da die Menschen gewaltiger waren als jetzt, in jenen ewig unvergessenen Heroentagen, als er sich aus ihren Armen riß und seinen Kampfilfen bestieg, um nach der Ilfenstadt zu ziehen und seinen Freunden, den Pandaverprinzen, im Kampfe gegen die Kuruinge beizustehen; wo er dann an der Seite Arjunas und Krishnas kämpfend, am zehnten Tage der Riesenschlacht auf der Ebene Kurukschetra seine Heldenseele aushauchte. Sie aber, als sie die Nachricht von seinem Tode empfing, bestieg vor dem Palaste, von allen ihren Frauen gefolgt, den Scheiterhaufen, den sie mit eigener Hand anzündete.

Und wieder sahen sie sich in fremden Gegenden und in anderer Natur. Es war nicht länger das Tal der Ganga und der Jamuna mit seinen prächtigen, palastreichen Städten, wo waffenstrahlende Krieger, stolze Brahmanen, reiche Bürger und fleißige Çudras die Straßen belebten; mit seinen Reisfeldern und vielstämmigen Feigenbaumriesen, seinen Palmenhainen und seinen Dschungeln, seinen Elefanten und Tigern und den weithinleuchtenden Schneezinnen des Himavat. Dieser Schauplatz, der mit seiner mannigfachen tropischen Pracht so oft ihr gemeinsames Leben umschlossen hatte, als ob es keine andere Welt gäbe, verschwand nun gänzlich, um einem öderen und herberen Lande Platz zu machen.

Hier brennt freilich die Sommersonne so heiß wie an der Ganga, trocknet die Wasseradern aus und versengt das Gras. Aber im Winter beraubt der Frost die Wälder ihres Laubes, und Reif bedeckt die Felder. Keine Städte erheben ihre Türme, aber weitgedehnte Dörfer mit großen Hürden liegen mitten in ihren weidereichen Triften, und die schützende Anhöhe daneben ist durch Wälle und rohe Mauern in eine kleine Feste verwandelt. Ein kriegerisches Hirtenvolk ist hier seßhaft. Die Wälder sind voll von Wölfen, und meilenweit hört der zitternde Wanderer das Gebrüll des Löwen, »des furchtbaren, schweifenden, in Bergen hausenden Wildes« – wie er ihn nennt; denn er ist ein Sänger.

Nach langer Wanderung nähert er sich einem Dorfe, als unbekannter, aber willkommener Gast; denn das ist er überall. Über seiner Schulter hängt seine einzige sichtbare Habe, eine kleine Laute; aber im Kopfe trägt er das ganze kostbare Erbe seiner Väter: alte, geheime Hymnen an Agni und Indra, an Varuna und Mitra, ja sogar an unbekannte Götter; Kriegs- und Trinklieder für die Männer; Liebeslieder für die Mädchen; segnende Zaubersprüche für die Milchspendenden. Und er hat Kraft und Kenntnisse, um diesen Vorrat aus eigenen Mitteln zu vermehren. Wo wäre wohl ein solcher Gast nicht willkommen?

Es ist um die Zeit, da die Rinder nach Hause getrieben werden. An der Spitze einer Herde schreitet mit der höchsten Anmut in allen Bewegungen des jugendlichen Körpers ein hochgewachsenes Mädchen; ihr zur Seite geht ihre Lieblingskuh, deren Glocke die anderen folgen, und leckt ab und zu ihre Hand. Er bietet ihr guten Abend; sie erwidert freundlich den Gruß. Lächelnd sehen sie sich an – und es ist derselbe Blick, der im Lustparke von Kosambi zwischen der Ballspielerin auf der Bühne und dem fremden Zuschauer hin und her flog.

Aber auch das Land der fünf Ströme, nachdem es sie mehrmals beherbergt hat, verschwindet, wie zuvor das Gangatal – andere Gegenden tun sich auf, andere Menschen und Sitten umgeben sie – Alles rauher, wilder und ärmlicher.

Die Steppe, über welche der Zug sich hinzieht – Reiter, Wagen und Fußgänger in endloser Reihe – ist weiß von Schnee. Die Luft ist voll von den wirbelnden Flocken. Schwarze Berge schauen schattenartig herein. Aus dem Zeltdache eines schweren Ochsenwagens beugt sich ein Mädchen so lebhaft hervor, daß der Schafpelz zur Seite gleitet, und die goldene Haarfülle ihr über Wangen, Hals und Brust niederwallt. Angst leuchtet aus ihren Augen, als sie hinausspäht, wohin alle Blicke sich wenden, alle Finger hinzeigen: – wie eine dunkle, vom Winde aufgewirbelte Wolke braust eine Reiterhorde heran. Aber vertrauensvoll lächelt sie, als ihr Blick dem des Jünglings begegnet, der neben dem Wagen auf einem schwarzen Stiere reitet; – und es ist wieder derselbe Blick, wenn auch aus blauen Augen. Dieser Blick entflammt das Herz des blonden Jünglings, der seine Streitaxt schwingt und laut rufend mit den anderen Kriegern dem Feind entgegenstürmt – entflammt es und wärmt es noch, als es vom kalten Eisen eines Skythenpfeiles durchbohrt wird.

Aber noch größere Veränderungen erlebten sie; noch weitere Wanderungen unternahmen sie, vom Dufte des Korallenbaumes geleitet.

Sie fanden sich selbst als Hirsch und Hinde im ungeheuren Walde. Wortlos war jetzt ihre Liebe, aber nicht blicklos. Und wiederum war es derselbe Blick: – tief im innersten Dunkel ihrer großen, ahnungsvollen Augen leuchtete noch, wenn auch wie durch trübe Nebelbläue hindurch, derselbe Funken, der so strahlend von Menschenauge zu Menschenauge den Weg gefunden hatte.

Sie ästen zusammen, nebeneinander wateten sie im klaren, kühlen Waldbach, Körper an Körper ruhten sie im hohen, weichen Grase. Gemeinsam waren ihre Freuden, gemeinsam zitterten sie vor Angst, wenn plötzlich ein Ast lebendig wurde und der Rachen des Pythons sich aufsperrte; oder wenn in der Stille der Nacht eine fast unhörbare, schleichende Bewegung von ihren regen Ohren aufgefangen wurde, während ihre geblähten Nüstern den scharfen Geruch eines Raubtieres witterten, und sie dann in mächtigen Sätzen davonflohen, gerade als es im Gebüsche knisterte und knackte und das Zorngebrüll des zu kurz gekommenen Tigers durch den jetzt ringsum lebendig werdenden Wald rollte.

Viele Jahre schon hatten sie so gemeinsam alle Wonnen und Schrecken des Waldes durchgekostet, als sie eines Tages an einem schattigen Orte die jungen saftigen Schößlinge benagten. Da geschah es, daß die Hinde sich in die Wildschlinge eines Jägers verstrickte. Vergebens arbeitete das Männchen mit Zacken und Klauen, um die Bande, welche die Freundin fesselten, zu zersprengen, und ließ nicht davon ab, bis der Jäger sich nahte. Dann stellte er sich diesem mit gefälltem Geweih entgegen und bald machte der Jagdspieß beider Leben ein Ende.

Und als ein paar Goldadler horsteten sie hoch im wilden Felsengebirge, schwebten über die bläulichen Abgründe des Himavat und umkreisten seine schneeigen Zinnen.

Als zwei Delphine aber befuhren sie die grenzenlose Salzflut des Ozeans. –

Ja, einmal erwuchsen sie als zwei Palmen auf einer Insel mitten im Weltmeere, schlangen im kühlen Strandsande ihre Wurzeln ineinander und ließen gemeinsam ihre Wipfel im Seewinde rauschen. Und wie ein Fürstenpaar sich zur Kurzweil und Belehrung vom Hoferzähler mancherlei vortragen läßt – bald den Lebenslauf eines Königs, bald eine einfache Dorfgeschichte, bald ein Heldenepos, bald eine Sage aus uralten Tagen, bald irgend eine Tierfabel oder ein Märchen, und dabei weiß: wie oft es uns auch gelüstet, zu lauschen, so ist doch nicht zu befürchten, daß diesem trefflichen Erzähler jemals der Stoff ausgeht, da der Hort seiner Sagenkenntnisse und die Fülle seines Erfindungsvermögens unerschöpflich sind – ebenso wußten diese beiden: – wie oft und wie lange wir auch hier weilen, und wäre es auch eine ganze Ewigkeit hindurch, so ist doch keine Gefahr da, daß dieser Duft keine Erinnerungen mehr wecken könnte; denn je weiter wir in die Zeit hinabsteigen, um so weiter schiebt sich die Vorzeit zurück.

Und sie wunderten sich sehr.

»Wir sind so alt wie die Welt,« sagte Vasitthi.


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