Karl Gjellerup
Der Pilger Kamanita
Karl Gjellerup

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XXVII. Der Wahrheitsakt (Saccakiriya)

Die ersten Stunden der Nacht verbrachte ich in dieser Zeit immer auf der Terrasse der Sorgenlosen, entweder allein oder mit Medini zusammen. An diesem Abend war ich allein da, was mir in meiner augenblicklichen Stimmung auch das liebste war. Der Vollmond strahlte herab wie damals, und ich stand vor dem großen blütenreichen Asoka, um mir von ihm, dem »Herzfrieden«, eine tröstende Vorbedeutung für mein friedloses Herz zu erbitten. Und ich sagte zu mir selber: »Wenn zwischen mir und dem Stamm eine safrangelbe Blume niederfällt, bevor ich bis hundert gezählt habe, dann ist mein geliebter Kamanita noch am Leben.«

Als ich bis fünfzig gezählt hatte, fiel eine Blume nieder, aber eine orangefarbige. Als ich die Zahl achtzig erreicht hatte, fing ich an, langsamer und immer langsamer zu zählen. Da öffnete sich knarrend eine Tür in der Ecke zwischen Terrasse und Hausmauer, wo eine Treppe in den Hof hinunterführte – ein Zugang, der eigentlich nur für Arbeiter und Gärtner bestimmt war.

Mein Vater trat hervor und hinter ihm Satagira. Ein paar bis an die Zähne bewaffnete Reisige folgten, danach kam ein Mann, der die anderen um Haupteslänge überragte, und zuletzt beschlossen noch andere Reisige diesen seltsamen, ja unerklärlichen Aufzug. Zwei von den letzteren blieben als Wache an der Tür zurück, alle übrigen kamen auf mich zu. Dabei fiel es mir auf, daß der Riese in ihrer Mitte nur mit Mühe gehen konnte, und daß bei jedem seiner Schritte ein unheimliches Klirren und Rasseln ertönte.

In diesem Augenblick schwebte eine safrangelbe Asokablume nieder und blieb gerade vor meinen Füßen liegen. Aber ich hatte vor Verwunderung zu zählen aufgehört und wußte daher nicht mehr festzustellen, ob sie vor oder nach der Zahl Hundert gefallen war.

Als die Gruppe nun aus dem Mauerschatten in das volle Mondlicht heraustrat, sah ich mit Entsetzen, daß jene Riesengestalt mit Eisenketten beladen war. Die Hände waren ihm auf dem Rücken gefesselt; um die Fußknöchel klirrten schwere, durch Kugelstangen verbundene eiserne Ringe, von denen doppelte Eisenketten zum Halsringe hinaufführten, an welchen wiederum zwei andere Ketten befestigt waren, die von zwei Reisigen gehalten wurden. Wie bei Einem, der zum Richtplatz geführt wird, hing ihm ein Gewinde von roten Kanaverablüten um den Nacken und die haarige Brust, und das rotgelbe Backsteinpulver, mit dem sein Haupt bestreut war, ließ das wirr über die Stirn herabhängende Haar und den fast bis an die Augen reichenden Bart noch wilder erscheinen. Aus dieser Maske hervor blitzten die Augen mir entgegen – jedoch nur eben blitzartig schnell; dann senkte sich der Blick und irrte scheu wie der eines bösen Tieres am Boden umher.

Wen ich vor mir hatte, danach hätte ich auch dann nicht zu fragen gebraucht, wenn die Kanaverablüten jenes Wahrzeichen seines furchtbaren Namens verdeckt hätten: das Halsband von Menschendaumen.

»Nun, Angulimala,« brach Satagira das Schweigen, »wiederhole vor dieser edlen Jungfrau, was du auf der Folter von der Ermordung des jungen Kaufmanns Kamanita aus Ujjeni gestanden hast.«

»Kamanita wurde nicht ermordet,« antwortete der Räuber mürrisch, »sondern gefangen genommen und unseren Gebräuchen gemäß umgebracht.«

Und er erzählte mir nun in wenigen Worten, was mein Vater mir schon darüber gesagt hatte.

Ich stand unterdessen mit dem Rücken an den Asokabaum gelehnt und hielt mich mit beiden Händen an den Stamm gestützt, die Fingernägel krampfhaft in die Rinde grabend, um nicht umzusinken. Als Angulimala zu Ende gesprochen hatte, schien sich Alles um mich im Kreise zu drehen. Noch gab ich es aber nicht auf.

»Du bist ein ehrloser Räuber und Mörder,« sagte ich, »was kann mir dein Wort gelten? Warum solltest du nicht aussagen, was der dir befiehlt, in dessen Gewalt dich deine Missetaten gebracht haben?«

Und wie auf eine plötzliche Eingebung, die mich selber überraschte und mir fast einen Hoffnungsschimmer aufleuchten ließ, fügte ich hinzu:

»Du darfst mir ja nicht einmal in die Augen sehen – du, der Schrecken aller Menschen – mir, einem schwachen Mädchen! Du darfst es nicht – weil du auf Anstiftung dieses Mannes eine feige Lüge sagst.«

Angulimala blickte nicht auf, aber er lachte grimmig und antwortete mit einer Stimme, die wie das Brummen eines gefesselten Raubtieres klang:

»Wozu sollte das wohl gut sein, dir in die Augen zu sehen? Das überlasse ich den jungen Fanten. Dem Blicke eines ehrlosen Räubers würdest du ja doch ebensowenig glauben wie seinen Worten. Und von seinem Eide würdest du wohl auch nicht mehr halten.«

Er trat einen Schritt näher.

»Wohlan, Mädchen! So sei nun Zeugin meines ›Wahrheitsaktes‹.«

Noch einmal traf mich der Blitz seines Blickes, als dieser sich aufwärts nach dem Monde richtete, so daß mitten im Gewirr seines mißfarbigen Haares und Bartes nur die weißen Augäpfel zu sehen waren. Seine Brust arbeitete, daß die roten Blumen sich tanzend bewegten, und mit einer Stimme, wie wenn der Donner zwischen den Wolken rollt, rief er:

»Die du den Tiger zäumest, schlangengekrönte, nächtige Göttin! Die du im Mondschein auf Bergeszinnen tanzest, mit dem Schädelhalsband rasselnd, zähnefletschend, die Blutschale schwingend, Kali, Herrin der Räuber, die du mich durch tausend Gefahren geführt hast, höre mich! So wahr ich nie mit dem Opfer kargte, so wahr ich deine Gesetze immer treulich gehalten habe, so wahr ich auch mit diesem Kamanita getreu verfuhr nach deiner Satzung, die uns ›Absendern‹ gebietet, wenn das Lösegeld nicht zur festgesetzten Stunde eintrifft, den Gefangenen mitten durchzusägen und die Körperteile auf die Landstraße zu werfen: – so wahr wirst du mir jetzt in meiner höchsten Not beistehen, meine Ketten zerreißen und mich aus den Händen meiner Feinde befreien!«

Indem er das sagte, machte er eine gewaltsame Bewegung – die Ketten klirrten – Arme und Beine waren frei – die beiden Reisigen, die ihn hielten, lagen am Boden, einen dritten schlug er mit dem Kettenstück, das an seinem Handgelenke hing, nieder, und bevor jemand von uns recht begriff, was eigentlich geschehen war, hatte Angulimala sich über die Brustwehr geschwungen. Mit einem wilden Schrei stürmte Satagira ihm nach. – Das war das Letzte, was ich sah und hörte.

Nachher erfuhr ich, daß Angulimala gestürzt sei, sich einen Fuß gebrochen habe und von der Wache festgenommen worden sei; später sei er dann im Gefängnis auf der Folter gestorben, und sein Kopf über dem nördlichen Stadttor aufgesteckt worden, woselbst Medini und Somadatta ihn gesehen haben.

Durch den Wahrheitsakt Angulimalas war der letzte Zweifel und die letzte Hoffnung von mir gewichen. Denn ich wußte wohl, daß selbst jene teuflische Göttin kein Wunder zu seiner Rettung hätte wirken können, wenn er nicht die Macht der Wahrheit auf seiner Seite gehabt hätte.

Was nun aus mir wurde, darum kümmerte ich mich wenig, denn auf dieser Erde war ja doch Alles für mich verloren. Nur im Paradiese des Westens konnten wir uns wiedersehen: du warst vorausgegangen, und ich würde, so hoffte ich, bald folgen. Dort blühte das Glück, alles andere war gleichgültig.

Da nun Satagira sein Werben fortsetzte und meine Mutter mir immer wieder jammernd und weinend Vorstellungen machte, sie würde gebrochenen Herzens sterben, wenn sie durch mich die Schmach erlitte, daß ich unverheiratet im Elternhause sitzen bliebe – hätte sie dann doch ebensogut das häßlichste Mädchen von Kosambi zur Welt bringen können! – da erlahmte endlich nach und nach mein Widerstand.

Übrigens hatte ich auch jetzt nicht mehr so viel gegen Satagira einzuwenden wie früher. Ich konnte nicht umhin, die Standhaftigkeit und Treue seiner Neigung anzuerkennen, und ich fühlte auch, daß ich ihm Dankbarkeit schuldig war, weil er den Tod meines Geliebten gerächt hatte.

So wurde ich denn – als wiederum fast ein Jahr verstrichen war – die Braut Satagiras.


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