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Fünftes Capitel.

Auf den Tyroler Alpen irrt ein Mann umher. Der Frieden der Seele ist es, was er erjagen will. Wenn er von hoher Gebirgslehne hinabblickt auf weithin sich abflachende Thäler, auf fern schimmernde Ebenen und blaue Berggipfel, dann erfaßt ihn mit neuem Schmerz die alte Sehnsucht, in die weite Welt hinaus den ewigen, unerreichbaren Zielen nachzustreben, und in namenlosem Wehe wendet er fliehend sein Auge zurück in das dämmerungsreiche Grün der Bäume und des Mooses, die rings ihn in traulicher Nähe umrauschen und umduften. In dem Dickicht des Laubes sucht er die Stelle, die mit undurchdringlichem Dunkel seinen Blick begrenzt und schützt vor dem blendenden Lichte des Aethers. Er wirft sich nieder auf die Erde und birgt sein Antlitz in dem Moose, mit den Händen sich anklammernd an den Boden. ›Halte mich fest, Mutter Natur, halte mich fest, daß ich bei dir den Frieden finde, den ich suche, – ein Leben, das an den Selbstmord nicht denkt. Nur eine Scholle Erde und ein Herz, das mich unzertrennbar daran knüpft!‹

So ruft der wilde gejagte Jäger aus, und das Herz, das er erfleht, ist eines, das er im Unverstand einst verschmähte, – Constanze, es ist Ihr Herz!

Ja, wie Schuppen ist es mir von den Augen gefallen; was ich haßte, mußte ich lieben, und was ich liebte, hassen lernen. Jetzt, wo ich es erkannte, was Glück, Liebe und Treue sind, jetzt, Constanze, weiß ich, daß Sie das vollkommenste Weib auf Erden sind. Aber darf ich, der ich Ihre Liebe verrathen, jetzt, wo ich untergegangen bin, für die Welt und für mich selbst, darf ich es noch wagen, nach dem Vollkommenen, nach Ihnen, Constanze, meine Hand auszustrecken –?«

So begann Ernst Wagner in der Einsamkeit der Berge einen Brief, aber – er mochte es nicht wagen können, denn der Brief blieb unvollendet. Unter einem um wenige Tage späteren Datum schrieb er den Anfang eines zweiten Briefes:

»Delphine! Wir sind an einander vorüber gegangen wie fremde Leute, und doch können zwei Seelen, die sich so nahe standen wie wir, niemals fremd werden. Ich weiß es, obgleich wir kein Wort gesprochen, wir haben uns verstanden, wir haben uns verständigt! Der tiefte Seelenschmerz, der bei meinem Anblicke die auf deinem Antlitz strahlende Weltlust plötzlich durchbrach, rief Alles wieder wach, was von Jugendträumen der Liebe und des Glückes in meiner Seele an diese Züge sich geknüpft hatte. Du hast mich einmal in meinem Leben schwer enttäuscht und ich habe meine Erfahrungen nicht vergessen. Aber bist nicht auch du enttäuscht worden? hast du nicht auch aus deinen Erfahrungen gelernt, nicht gelernt, wie treu ich bin und welchen Werth die Treue in dieser Welt hat? Ja, du Sonne meiner ersten Jugendleidenschaft, du wirst mir wieder Glück und Liebe strahlen, und die Nacht, die uns von einander trennte, hat nur dazu gedient, daß wir die Welt und unser eigenes besseres Selbst erkannt haben, um uns jetzt, über ihrem Treiben erhaben, aus tieferem Verständniß auf ewig an einander zu knüpfen.

Oder – solltest du noch immer der Welt angehören? Mir wird es leicht – so kannst du denken – ihr zu entsagen! Du hast Ruhm, Glanz, Reichthum dir erworben, ich bin – ein Nichts. Und du verlangst von mir einen Namen, eine Stellung in der Welt, um gleich dir zu glänzen? – –«

Ernst schrieb auch diesen Brief nicht weiter. Vierzehn Tage darauf stand er mitten in der in Wien ausgebrochenen Octoberrevolution. Er, der sich nach nichts sehnte als nach einer Scholle Erde und einem geliebten Herzen, suchte in dem Piratenleben auf den brausenden Wogen des Völkerkampfes einen Namen, eine Stellung in der Welt.

Das waren selige Tage in Wien, als Windischgrätz vor seinen Thoren stand. War es doch, als sei das tausendjährige Reich, die Erlösung von aller Mühe und Noth der Zeit wirklich herbeigekommen. Keine Soldateska, keine Policei, keine Spione, keine »Autorität«, keine von »Gott eingesetzte Obrigkeit«, sondern die Verwirklichung der reinsten Demokratie. Keine Behörde, als durch Wahl; kein Gehorsam, als durch freien Willen. Keine Noth, keine Arbeit, kein Wucher. Niemand existirte und sorgte für sich; der Gedanke an das Allgemeine nahm das ganze Leben in Anspruch. Das Evangelium: werft Alle mit einmal das Einzelleben mit seiner Müh und Sorge von euch, um es im Allgemeinen zur Seligkeit verklärt wiederzufinden! – war in Erfüllung gegangen. Alles gehörte Allen. Das »du« machte Jeden zum Bruder des Anderen. Ein Band umschlang die ganze Menschheit. Wien war das Land der Seligen, eine glückliche Insel mitten in der verderbten Welt. Es hieß jetzt, alle Kräfte daran setzen, diese Poesie der Revolution gegen die Wirklichkeit aufrecht zu erhalten und den ganzen Erdkreis damit zu überfluten.

In der phantastischen Tracht der akademischen Legion, im blauen Waffenrocke mit schwarz-roth-goldener Schärpe, im schwarzen Calabreser mit wallender Feder, den ungarischen Schleppsäbel an der Seite, saß Ernst Wagner mitten in einem wirbelnden Volkshaufen auf freiem Platze an einem weißbedeckten Tische, auf dem künstliche Blumensträuße und die klaren Weinnößel prangten.

Ernst, die gefahrvollste Truppengattung sich erlesend, war als Werbeofficier für die zu errichtende Mobilgarde aufgetreten. Seine imponirend seltsame Erscheinung hatte Volks genug zu seinem Werbezelte herbeigezogen. Eine zahlreiche Musikbande spielte wiegende Lieder und herausfodernde Märsche, die unwiderstehlich die Abenteuerlust in die Seele schmeichelten, alle Bedenklichkeiten des kleinlichen Daseins vergessend, in raschem, freudigem Rausche das Leben für das Höchste daranzusetzen. Vor dem Zelte in einem freien Kreise tanten, sprangen und sangen die jungen Burschen, drängten sich mit jubelnder Hast an den Tisch, um sich in die Listen eintragen zulassen, und, mit einem Strauße geschmückt, kehrten sie dann zu den Kameraden zurück, um jauchzend in das gefahrvolle Leben sich hineinzutanzen.

Als die Musik schweigt, erhebt sich neben Ernst eine sonderbar unheimliche Gestalt, ein einarmiger Mann, mit finsterem Blick und verwilderter Verbrecherphysiognomie, eine rothe Jakobinermütze auf dem Kopfe. Es ist Schneider Krist. In dem Lazareth in Berlin als Zuchthausflüchtling erkannt, war es ihm nur durch die Hülfe der demokratischen jungen Aerzte gelungen, zu entkommen. Er hatte im Geheimen fortgewühlt, um nach der politischen Revolution, die nur die politischen Gefangenen freigab, die sociale zu provociren, die auch die socialen Verbrecher restaurire. Er stand jetzt seinem alten Genossen als Feldwaibel zur Seite, und, den gezückten Säbel blinken lassend, rief er vom Werbetische den Leuten zu: »Kommt her, Burschen, kommt her. Keine Arbeit und keinen Hunger mehr, sondern ein lustig Leben mit 25 Kreuzer Münz für jeden Tag! Kommt her, kommt her, daß wir auch einmal jubeln, die bisher gehungert haben.«

Seiner norddeutschen Zunge wurde aus dem Kreise mit verwandtem Accente geantwortet. Ein junger Kerl in abgerissener Tracht mit lebenslustigem, verschmitztem Herumtreibergesichte, einen breiten, grauen Filzhut verwogen auf den Kopf gedrückt, rief mit seinem schneidend scharfen Tone durch die übrigen singenden Dialekte hindurch: »Hurrah, wo's lustig hergeht, – ich auch! Es sterben nicht Alle, und wer stirbt, hat keine Arbeit und keinen Hunger mehr. Hurrah, keinen Hunger, keine Arbeit, nur Barricaden! Hier, Herr Feldwaibel, auch ein Bummler für 25 Kreuzer täglich. Und, Herr Studiosus, Sie geben mir wol auch einen Gulden obendrein, wenn Sie wüßten, was Sie an mir haben. Ich bin ein richtiger Mann; ich habe schon in Berlin die Geschichte mitgemacht am Cölnischen Rathhause und am Zeughause, und in Frankfurt bei Lichnowsky's Tode –«

Und nun fing der Vagabund an, die ritterlichsten Barricadenaventuren zu erzählen, indem er Schmarren im Gesicht und Löcher im Hute zeigte, die er hier und dort empfangen habe. Als aber Ernst ihm die Hand reichte mit den Worten: »O, genug davon. Wir kennen uns, Gottlieb Winkler!« – da mußte er erröthen; denn von den Berliner Heldenthaten, die er eben erzählte, konnte sein alter Freund wissen, daß sie erdichtet waren. Der geschickte Tischlergeselle hatte seit der Revolution das Arbeiten aufgegeben und reiste als Barricadenrhapsode durch die Welt, indem er den wißbegierigen Leuten allerhand Schnurren aufband und in jedem demokratischen Club für sich sammeln ließ. Er verstand auch dieses sein Handwerk von Grund aus und wurde durch Wagner's zweifelnde Miene nicht verwirrt, sondern indem er beiden wiedergefundenen Gesinnungsgenossen um den Hals fiel, rief er aus: »Mit solchen alten Freunden wird das Raufen erst die rechte Freude werden! Vivat die Freiheit! Juchhe, ist das ein lustig Leben!«

Die Musik platzte los mit einer rauschenden Galoppade. In kindischer Freude über den Flitterstrauß, mit dem er als Neugeworbener geschmückt war, taumelte Gottlieb in den Kreis der Tanzenden zurück. Die Kameraden nahmen ihn mit offenen Armen auf. Er wollte in ihr Jodeln mit einstimmen, aber seine Stimme war schon heiser; in dem Wiegen seiner Glieder malte sich der Jubel seines Herzens.

Acht Tage darauf spielte denselben Burschen eine andere Musik auf. Hei! wie pfiffen die Flintenkugeln, wie dröhnte der Kanonendonner den Baß dazu! Wem bei der Musik am Werbezelte die Wangen erglühten, dem wurden sie bleich bei dem Höllentanze an den Barricaden der Leopoldstadt. So mancher rothwangige Bursche mußte rücklings fallen; das Blut, das ihm damals übermüthig aufgewallt war, spritzte in hellem Strahl aus seiner Brust und sein Herz schlug nicht mehr, seine Lippen blieben für ewig stumm.

Nur einer blieb unbewegt und ungetroffen; seine Wangen wurden nicht blaß, weder aus Furcht für sich selbst, noch aus Schreck über die Gefallenen. Im dichtesten Kugelregen, während rings die Genossen zu Boden sanken, legte Ernst Wagner einmal ums andere die Büchse an und rächte die getödteten Kameraden an den weißröckigen Gegnern, mit sicherer Hand und klarem Auge, – seine Kugeln waren ja nur die letzten Argumente, die er in der Discussion um der Wahrheit willen vertauschte! Schüsse fielen von dieser und von jener Seite, das Blut floß in Strömen; ohne verwundet zu werden, trotzte er unglaublichen Gefahren. Seine Kameraden, von des Führers Kühnheit fortgerissen, kannten keine Todesfurcht und verrichteten Wunder an Tapferkeit. Zwölf Stunden lang – es war am 28. October, dem Tage des hitzigsten Gefechtes – hielt die improvisirte Schaar der Freiheitskämpfer auf der ihr anvertrauten Barricade allen Angriffen der regulären Truppen Stand.

Von dem Posten abgelöst, bespritzt mit Blut, die Kleider von Kugeln zerfetzt, sank Ernst Wagner auf der harten Bank eines Wachtzimmers in Feldwaibel Krist's Arme mit den Worten: »Guten Muths, Kamerad, guten Muths! Wir werden doch noch Recht bekommen! Die Wahrheit muß ja siegen!«

Indeß war die Niederlage der Stadt bereits entschieden. Es war im Allgemeinen das Unglück jenes großen Jahres, daß es der Revolutionspartei bei aller Energie an einem concreten, erreichbaren Ziele fehlte, während die Staatsmänner, die ein solches nie aus den Augen ließen, nicht die rücksichtslose Entschlossenheit, nicht das thatkräftige Genie besaßen, zur Erreichung desselben sich an die Spitze der heroischen Volksbewegung zu stellen. Auch der Fahne der Wiener Oktoberrevolution fehlte es an einer bestimmten Devise: für die Republik streiten wollten nicht die deutschen, für den Anschluß an Deutschland nicht die slavischen Demokraten. Die liberalen Staatsmänner aber, die das Schicksal Deutschlands im Frankfurter Parlamente in die Hand genommen, versäumten es, auf den grandiosen herrlichen Aufschwung des allgemeinen Enthusiasmus eine glückliche Vermittelung der Gegensätze jener Zeit zu gründen. Die ausgesandten Reichscommissaire, getreu ihrem Grundsatze, daß nur bei den Regierungen Heil sei, vermieden das tapfere Wien und antichambrirten am Ollmützer Hofe. Aus sich selbst heraus konnte in einem Kampfe auf Tod und Leben die revoltirende Stadt sich nicht halten; daß der jugendliche Muth des improvisierten Dilettantenheeres den vielhundertjährigen Koloß der österreichischen Kriegsmaschine niederwarf, war eine Unmöglichkeit.

Als am 29. October Wagner sich bei dem Observationscorps auf dem Stephansthurme befand, während der Kampf auf allen Seiten mit gleichem Muth und fast noch gleichem Glücke fortgeführt wird, tritt der Obercommandant der Stadt, der jugendlich schöne Wenzel Messenhauser, bleich, sprachlos, zusammenbrechend in die Thürmerstube. Als Alle entsetzt ihn beobachten, sagt er endlich mit tonloser Stimme: »Zieht die weiße Fahne auf! Die Capitulation ist abgeschlossen. Es ist Alles, Alles verloren!«

»Jetzt den Kampf einstellen? Du hast uns verkauft, Verräther!« So schrieen Alle, und Wagner darunter, ihm entgegen.

»Wir können nicht mehr kämpfen, weil das Pulver verschossen ist!« antwortete Messenhauser mit Ruhe und vor diesem triftigen Grunde erstaunte Alles in hoffnungsloser Bestürzung.

»Weil das Pulver verschossen ist,« so unterbrach Wagner das Schweigen, »sollen wir die Freiheit aufgeben? Fortgekämpft! mit dem Degen in der Hand bis zum letzten Blutstropfen! Wir werden siegen, und müßte ein Wunder uns erretten!«

Das Wunder schien einzutreffen. »Die Ungarn! die Ungarn!« riefen die Legionäre an den Teleskopen. Man sah heranrückende ungarische Truppen mit den kaiserlichen handgemein werden.

»Ein Schuft, wer die Capitulation noch hält! Gib den Befehl zur Erneuerung des Kampfes!« So rief man Messenhauser zu. Er weigerte sich. Er wollte nicht selbst den Kampf von neuem provociren und doch ließ er die Nachricht von der Nähe der Ungarn verbreiten, die ihn unvermeidlich hervorrufen mußte.

Eine Deputation des Gemeinderathes kam auf dem Thurme an und drohte Allen, die daselbst getroffen würden, mit Todesstrafe, wenn nicht die weiße Fahne aufgezogen würde.

»Die rothe Fahne! Ich nehm's auf meinen Kopf!« rief Ernst und von neuem ging es zur Vertheidigung der Linien.

Neue Opfer kostete der neue Kampf. Nach einer halben Stunde waren die Patronen verschossen; andere wurden nicht nachgeliefert. Wagner zog sich mit seinen Leuten in die Stadt zurück, um Munition zu requiriren. Es war ein neues Wunder nöthig, wenn die Ungarn nicht bald die Stadt entsetzten. Da kommt Messenhauser ihnen entgegen. Er hat den Stürmer abgelegt, und geht in bürgerlicher Tracht. Mit weit aufgerissenen Augen sieht er Wagner an und nickt vorübergehend mit dem Kopfe. Dieser hält ihn an: »was sieht man auf dem Thurme?«

»Die Ungarn sind geschlagen. Die Kroaten sind in der Stadt.« So sagt er mit der gleichgültigsten Miene, und, die Hände in den Seitentaschen des Rockes, geht er vorüber.

Die jetzt dort zusammenstanden, hatten durch den Bruch der Capitulation alle ihr Leben verwirkt.

»Also doch Alles, Alles, Alles verloren! Gott, was haben wir gethan? – Wir sind besiegt, legt jetzt die Waffen nieder!« sagte Ernst mit Fassung seinen Leuten.

»Wohlan! Legt die Waffen nieder! Mit Waffen ist jetzt nichts zu machen, wir kämpfen jetzt mit den Elementen. Feuerjoh! Feuer in die Burg, Feuer an alle Ecken! Feuerjoh! Feuerjoh!« so brüllte Apostel Krist mit dem Ausdruck des Wahnsinns in den Mienen, als er sein Leben verwirkt sah.

»Bist du toll? Keinen Wahnsinn, keinen Frevel mehr! Werft die Waffen aus der Hand und rette sich, wer kann!« So befahl Ernst.

»Verräther! Schwarzgelber!« knirschte Krist. »Ihr Studirten, ihr Halben seid an Allem Schuld. Wär' ich Commandant, so würde zuerst die Stadt niedergebrannt, damit die Geldsäcke nicht mehr für ihre Häuser fürchten. Auch noch ist es nicht zu spät! Pechkränze, Brandfackeln her! Wer kein Schwarzgelber ist, der kommt mit mir! Feuerjoh!«

»Feuerjoh!« antwortete die im Kriege verwilderte Proletarierhorde und wollte mit ihm fort, – sie hatte nichts mehr, auch nicht ihr Leben mehr zu verlieren!

»Richt euch!« commandirte Ernst. Niemand folgte. »Kennt ihr mich?« schrie er sie an. »Habe ich nicht mit euch im Kugelregen gestanden? Habt ihr nicht auf mein Commando die Waffen bekommen und gebraucht? Wer war mit meiner Führung nicht zufrieden? Wem war mein Commando nicht tapfer genug?«

So haranguirte Wagner. Keine Vorstellung half. »Feuerjoh!« höhnte ihn Krist und die Mehrzahl höhnte mit, indem sie sich an diesen drängte.

»Nur über meine Leiche kommt der fort, der mir den Eid bricht und diesem folgen will!« schrie Ernst, den Degen ziehend, mit der letzten Kraftanstrengung der Stimme. Aber auch diese schien vergeblich; die Leute höhnten ihn ferner und drängten sich zu Krist, als dieser eine wahnsinnige That beging. Er riß mit seinem einzigen Arme ein Doppelpistol aus dem Gürtel und schoß es auf Ernst ab. Gottlieb Winkler, der diesem stets auf dem Fuße folgte, stürzte getroffen nieder. Krist schoß den zweiten Lauf ebenfalls ab und ein zweiter Kamerad sank todt in die Arme der Anderen. Ein Dutzend Läufe und Bajonette sind in dem Augenblicke auf Krist gerichtet. Nur dadurch, daß Wagner dazwischen springt, wird der Schneider vor der augenblicklichen Rache gerettet. Ernst hat jetzt seine Autorität wiedergewonnen. Auf seinen Befehl wird Krist gebunden, in die Aula geführt und festgesetzt.

»Demaskire dich! die Kroaten sind da!« riefen dort die Akademiker einander zu. Wagner aber, anstatt seine Kleidung zu vertauschen, eilte nach dem Orte zurück, wo er Gottlieb Winkler noch lebend verlassen hatte. Sterbend fand er ihn wieder.

»Wo steckt der verfluchte Schneider?« frug er, und als Ernst sagte, daß er festgenommen sei, stöhnte er: »Recht so! da werden die Kroaten an ihm thun, was ich ihm wünsche! – Ah, nun bin ich die Plackerei los! Keine Arbeit, keinen Hunger mehr!« Damit gab er seinen Geist auf.

Indem fielen Schüsse und Wagner sah am Ende der Straße die Rothmäntel erscheinen. Die Kugeln galten ihm, den sie noch in Studententracht fanden. Noch drückt Ernst dem Freunde die Augen zu und dann schwingt er sich, um zu entfliehen, auf eine nahe Gartenmauer. Im Augenblicke, wo er jenseits hinabspringen will, wird er heruntergeschossen und, am Kopfe verwundet, stürzt er besinnungslos auf den weichen Rasen eines fremden Gartens.

Stundenlang verblieb er in seiner Bewußtlosigkeit und merkte nichts davon, wie zarte Hände das Blut ihm von der Stirne wischten, die Wunde verbanden und wie er dann auf bequemer Bahre über die Straße hinweg in ein elegantes Haus getragen wurde. Als er endlich erwacht, fühlt er seine Schultern an die Seidenfalten eines Frauenschooßes lehnen; sein Haupt ruht in weichen, lilienweißen Fingern; über sein Antlitz beugt sich das strahlende, Wonne lächelnde Antlitz seiner fremdgewordenen Geliebten.

Delphine, an dem Fenster ihrer Wohnung den Einzug des ritterlichen Ban Jellachich erwartend, hatte den vorübereilenden Ernst in seiner theatralischen Tracht erkannt, seine Gefahr und seine Verunglückung wahrgenommen. Seit seiner geisterhaften Erscheinung bei der Table d'hote hatte sich alle ihre romantische Sehnsucht wieder an ihn geknüpft: einen so interessanten Liebhaber als diesen aus dem Grabe Auferstandenen, dem sie so viele Thränen schon nachgeweint und so viele Seufzer nachgesandt, hatte sie noch nicht gehabt; selbst Cesar mit aller seiner Komödianterie war nichts gegen diese romanhafte Wirklichkeit. Solcher Romantik sich ebenbürtig zu zeigen, eilte sie mit Verachtung der Todesgefahr den verwundeten Demagogen aufzusuchen, auf ihren Divan tragen zu lassen und auf ihrem Schooße zu pflegen.

Stundenlang, ohne zu sprechen, blickte Ernst träumerisch in das prächtig ausdrucksvolle, marmorne Antlitz, das zu ihm niederlächelte. Seine Augen wurden allmälig heller, seine Mienen verklärter. Endlich schienen sein Bewußtsein und seine Lebenskraft völlig zurückgekehrt; aus innerster Brust athmete er auf, senkte sich tiefer, heimlicher in Delphinens Umarmung und mit selig lächelndem Antlitz sprach er zu ihr hinauf: »O, nun ist Alles gut! Ich wußte es ja, Delphine, du mußtest mich lieben!«

Sie antwortete nicht. Ein leichter Schatten flog über ihre Züge. Das marmorne Antlitz war jetzt nicht nur schön, sondern kalt wie eine Statue. In Ernst's Antlitze trat die Röthe zurück, die schon sich zu sammeln begonnen. Als sie noch immer nicht das Schweigen brach und ihr Auge unsicher dem seinigen auswich, malte sich mehr und mehr starrer Schreck in seinen leidenden Zügen. Mit Anstrengung richtete er sich auf, um ihrem Blicke zu begegnen. Die letzte Kraft seiner matten Stimme zusammenraffend, bat er sie mit seinem altbekannten, herzerschütternd weichen Tone: »Delphine, Delphine, du sagst mir nicht, daß du mich liebst?«

Delphine dachte an das Leben an Table d'hote, an Grafen und Prinzen, Gold und Diamanten: sie konnte ihrer Freiheit nicht entsagen. Aber sie war ehrlich geworden; sie hatte Ernst's treues, weiches Gemüth kennen gelernt und empfand Mitleid mit ihm; sie wollte ihn heute nicht belügen und – mit einem großen Blicke nach oben schüttelte sie das stolze Lockenhaupt.

Ernst starrte ins Leere. Draußen vor dem Hause erschallte dumpf der Tritt des einrückenden Militairs. Dasselbe Volk, das den Studenten zugejubelt, rief in vier verschiedenen Sprachen unter donnerndem Beifall: »Es lebe der Ban, es lebe der Kaiser!«

»Liebe, Glaube, Hoffnung, Alles dahin. Das Weltall war durch Liebe zusammengehalten, jetzt stürzt es auseinander!« so murmelte Wagner vor sich hin und sank gleichgültig auf sein Lager zurück.

Delphine meinte es gut mit ihm; sie wollte ihn für die Verweigerung der Liebe, die er meinte, trösten durch die Liebkosungen, die sie verstand. Ihre Innigkeitsbezeugungen bestanden nicht mehr wie sonst, allein in jenem tiefen Seelenblicke, jenem endlosen Glutkusse; sie hatte gelernt, zärtlich sein und auch in der Liebe auf das Detail einzugehen.

Sie pflegte Ernst, indem sie Kissen unter sein Haupt legte, seinen Verband untersuchte, mit angefeuchteter Hand seine Stirne kühlte, und schmeichelte sich ein durch jene dienende Sorgfalt, in der das Weib auf entzückende Weise seine Engelhaftigkeit darthut und durch Dienen am sichersten beherrscht. Von da ging sie über in die kindlichste, demüthigste Zärtlichkeit, in die sie ihr Flehen um Verzeihung und Liebe zu kleiden schien und die ihr unübertrefflich gelang. Wie aus Dank dafür, daß er ihre Pflege annahm, und aus Freude über seine Besserung wagte sie ihn zu küssen und mit einer Innigkeit zu umarmen, die sie bis zur stürmischen Ueberschwänglichkeit steigerte, in der sie aber immer noch eine spielende Heiterkeit, eine neckende Freiheit sich bewahrte, um vor Uebermaß und Eintönigkeit geschützt zu sein. So wußte sie alle Stimmungen einer Schäferstunde bis in die feinsten Nuancen herauszuarbeiten, fortwährend in Steigerung sich zu bewegen, die Uebergänge unmerklich zu vermitteln, in jeder Miene, in jeder Bewegung durch plastische Schönheit zu wirken, kurz auch in der Liebe ihre Künstlerschaft, eine solche Virtuosität der Courtoisie zu entwickeln, daß der niedergeschmetterte Titane, von ihren Reizen fortgerissen, seinen Weltschmerz zu vergessen schien. Er konnte sein Auge nicht mehr von ihrem Anblick trennen. »Du – du«, sagte er anfangs vorwurfsvoll und wiederholte dann inniger und inniger, die tiefste Beziehung seiner Seele zu der ihren darin ausdrückend: »Du – du.«

Jetzt glaubte Delphine, bei der unzweifelhaft aufgeklärten Denkungsart ihres Schützlinges, in scheinbarer Passivität den letzten Angriff unternehmen zu dürfen. Indem sie die Macht über sich selbst mit Bewußtsein aufgab, schmiegte sie mit dem natürlichen Gewichte ihrer Fülle sich an ihn an, ließ sie ihr Haupt mit lechzend schmachtenden Zügen zurück an seinen Busen sinken und die großen, grünen Augen in träumerisch seelischem Entzücken schwimmen. Da verändern sich plötzlich Ernst's Züge, – durch die Schwere, mit der sie an ihm ruhte, mochte er an die Dreistigkeit der Berliner Emancipirten erinnert sein; mit verfinsterter Stirne sieht er sie wild an, stößt sie zornig von sich und ruft aus: »Buhlerin! Grünäugige Buhlerin! Fort, fort! Keine Sünde mehr, nein, keine Sünde mehr!«

»Mein Gott, er wird wahnsinnig!« ruft Delphine über diesen unerwarteten Tugendanfall aus. »Du bist verloren, wenn du dich zeigst.« Sie hält ihn bei der Hand und in theatralischer Attitude ringt sie mit ihm. Durch eine hastige Bewegung wird der Verband von seiner Wunde gestreift, das Blut rieselt über sein Angesicht, ohnmächtig sinkt er zu Boden.

Mit Hülfe ihrer Bedienung gelingt es Delphinen, das Blut zu stillen und den Verwundeten, der in tiefen Schlaf verfallen ist, auf das Sopha zu schaffen. Mit der hereinbrechenden Nacht vergönnt Delphine sich selbst auf einem Lehnsessel eine kurze Ruhe. Von lautem Stimmenwechsel vor ihrem Fenster gestört, wacht sie auf. Ernst ist aus dem Zimmer verschwunden, das Fenster geöffnet, – auf der Straße sieht sie im Dunkel Bajonette blitzen.

»Bon soir, Madame«, ruft eine widerlich bekannt klingende Stimme ihr entgegen, »Ihr Schatz zieht aus, vom Parterre eine Etage höher!«

Es war der Communist Krist, der das sagte. Dem Officier, der ihn in der Aula vorgefunden, versprach er, seinen proscribirten Anführer ausfindig zu machen, wenn man ihm selbst die Freiheit gebe. Er hatte sich über den Fall Wiens schnell getröstet und sagte sich, er sei gut, die Halben, die Alles verdorben hatten, aus dem Wege zu räumen. Ernst Wagner rechnete er zu diesen, und da er Delphinens Anwesenheit in Wien bei mehrmaligem Vorbeiziehen vor ihren Fenstern bemerkt hatte, hoffte er hier die Zufluchtsstätte Wagner's zu finden und fand ihn in der That auch selbst, als er eben, der Courtisane zu entfliehen, aus deren Fenster sprang.

Krist erhielt seine Freiheit und erwartet in der Schweiz als Flüchtling die Zeit, wo er und seine Tendenzen in Deutschland restaurirt werden können.

Ernst Wagner wurde durch standrechtliches Urtheil zum Tode durch den Strang verdammt, dann zu Pulver und Blei begnadigt. Im Wallgraben der Stadt ist die Execution vollzogen worden.

Kurz vor seinem Tode schrieb Ernst im Gefängnisse einen Brief an Constanze Hermann. Er lautete:

»Im Begriff, aus der Welt zu scheiden, wende ich meine Gedanken an Sie, Constanze. Meine letzten Augenblicke gehören Ihnen. Ich habe Ihnen Aufklärung zu geben und Sie um Verzeihung zu bitten. Sie haben das Recht, mich für einen Betrüger zu halten; aber ich selbst bin der Betrogene. Jene Dame, um deren willen Sie mich einer Treulosigkeit zeihen werden, hat mich betrogen – ich selbst habe mich über sie betrogen.

In jene Komödiantin legte meine Phantasie, was für mich das Ideal des Weibes war. Das war das Unglück meines Herzens – es war das Unglück meines ganzen Lebens, in Allem das Ideal finden zu wollen!

Ich habe viel geirrt und viel gesündigt, aber Klarheit liegt nun in der Todesstunde vor mir. Ich lebte nicht die Idee, die ich dachte, aber was ich lebte, ich erfasse es als Gedanken, ich sehe die Idee darin. Wir lernen nicht das Leben aus dem Denken, sondern das Denken aus dem Leben.

Es war mein ganzes Dasein ein Wahn, und doch ein glücklicher Wahn. Ich lebte für meinen Gott, den Gedanken; ich hatte eine Religion, aber – für die Religion ist keine Welt mehr da. Unsere Zeit hat für die Liebe keinen Raum.

Ich bin besiegt. Ich habe meinen frommen Irrthum eingesehen, ich wollte allen Wahn von mir werfen; an einem stillen Platze, fern vom Treiben der egoistischen Welt, gedachte ich nur mir selbst zu leben, glücklich durch meiner Hände Arbeit in deinem Besitze, edle Constanze; im Gedanken an dich floh ich aus den Armen der verlockenden Sirene – da trifft mich der Todesstreich der unversöhnlichen Gewalt. Nur einen Wunsch lasse ich zurück: ich hätte noch einmal in dein klares blaues Auge schauen mögen, um mich daran zu erinnern, daß es noch Lieb und Treue gibt – Lieb und Treue, sie mögen das Leben wol sehr glücklich machen! Ich habe es nie erfahren. Wo ich sie finden konnte, verschmähte ich sie; wo ich sie suchte, fand ich mich getäuscht!

Ade, Constanze, ade. Um das Glück des Lebens, das du, ich ahne es, mir zugedacht hattest, hat mein Wahn mich gebracht; das Glück meines Todes bist du geblieben. Die Liebe zu dir ist das weite, ruhige, den Himmel wiederspiegelnde Meer, in das der wilde, trübe Strom meines Lebens sich verliert. Das Vertrauen auf dich ist der Glaube, der mich am menschlichen Dasein nicht verzweifeln läßt.

Ade, Constanze, ade!«

Constanze konnte mit ihrem klaren Verstande die Fehler, mit ihrem liebevollen Sinne die Wahrheit in allen Parteien nicht verkennen. Es ist unmöglich, absolut sittlich zu sein, einen Standpunkt einzunehmen, auf dem man keinen anderen, ebenfalls berechtigten, verletzt, auf dem man alle Pflichten gegen sich und Andere, gegen Einzelne und gegen Alle erfüllt. Das Gefühl dieser Wahrheit ließ Constanze in der Zeit der Revolution keine Partei ergreifen; über allen hatte sie die versöhnende Stellung des Weibes eingenommen.

Nach Ernst Wagner's Tode wurde es durch die Indiscretion eines schwarzgelben Blattes bekannt, daß derselbe einem Fräulein Hermann seinen letzten Willen hinterlassen hatte. Der Ton, mit dem in Folge dessen die gebildete, die »gute« Gesellschaft sich gegen das junge Mädchen benahm, weil es in Verbindung mit dem »Vagabonden«, dem »Hochverräther« gestanden habe, machte es ihr unmöglich, in ihrer Vaterstadt sich wohl zu fühlen. Sie lebt jetzt in Berlin, wo, ohne pietistisch zu sein, sie in einem Kreise edler Frauen der Erziehung verwahrloster Kinder ihre Revenuen und ihre Thätigkeit widmet.

Dem Weibe die Liebe, dem Manne die That! Constanze's Bruder ist Parteimann, entschiedener denn je. »Jetzt ist die Zeit«, sagt er, »daß Jeder seinen Mann stehe, jetzt, wo wir in dauernd angestrengter, mühevoller Arbeit zu erringen haben, was die rasche Genialität der Revolution verfehlte. Wir werden zeigen, daß wir nicht zu denen gehören, die nichts gelernt und nichts vergessen haben!«

*

 

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

 


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