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Dritter Theil.

Viertes Buch.
Bourgeois und Proletarier.

 

Erstes Capitel.

Wir schreiten durch die bevölkerten Straßen der reichen, von Civilisation und Industrie belebten Stadt, über eine kurze Brücke, dann noch wenige Schritte, und wir sind in einer neuen Welt, in der Welt des Elends. An den morschen, feuchten Hütten, an den ausgehängten Lumpen, an den halbnackten Kindern, die verlassen im Wege hocken, erkennen wir, daß das die Heimathstätte ist der Jammergestalten, die unheimlich uns oft in den schönen Straßen begegnen, der Eltern und Geschwister dieser Kinder, die ihre Nahrung aus den verpesteten Gossen suchen, die aus dem Mitleiderregen ein Handwerk machen, deren Eitelkeit es ist, irgend eine widerwärtige Krankheit zur Schau zu tragen.

Es ist Abend. Die Bewohner dieses wilden Viertels sind von ihrem Tagewerk, dem Betteln, heimgekehrt; sie schütten den zusammengekratzten Kehricht aus den Säcken und bereiten sich auf die Werke vor, die der Schleier der Nacht nicht ans Licht soll kommen lassen.

Durch diese Gruppen bewegt sich ein Zug, der die Aufmerksamkeit und den Neid der Feiernden auf sich zieht. Eine bejahrte, mühsam sich fortschleppende Frau und eine blonde, junge, weibliche Person, die ihren Kopf am Gesicht eines kleinen Kindes birgt, das sie in den Armen trägt, diese beiden gehen einem in Handwerkertracht gekleideten Burschen voran, der mit kräftigem Schritte auf einem Schubkarren einen alten Kasten, zwei Strohsäcke und ein paar ärmliche Wirthschaftsgeräthe vor sich herschiebt.

Sie steuern zu auf das große Gemäuer von rohen, halb verwitterten Ziegelsteinen, mit einem Dache von Rasen, – ein altes Kasemattengebäude, das, von den ehemaligen Festungswerken übrig geblieben, jetzt den Ortsarmen zur unentgeltlichen Wohnung überlassen wird.

Als jene Drei am Eingange dieses Hauses angelangt sind, drängt das Lumpenpack sich ihnen entgegen, sich neidisch über sie lustig machend, weil sie Strümpfe an den Füßen tragen. Erst als sie ein Attest des Magistrats vorgezeigt haben, daß den beiden Frauen die leer gewordene Stelle in der sechsten Kammer angewiesen sei, läßt man sie ein.

»Wer sind die? Wer sind die?« so zischelte das Weibervolk, als jene eingetreten waren.

»Wer die sind?« schnatterte Frau Krusche, die in einem kleinen Hause in der Nähe ein als solide bekanntes Etablissement hatte, in dem, statt des Schildes, weibliche Gesichter am Fenster ausgestellt wurden. »Herr Jeses, das ist ja die schöne Lise vom seligen Tischler Winkler aus der grünen Ecke! Die hat ja den schönen Jüngling aus dem Laden von gegenüber zum Schatz gehabt, und muß nun sich mit dem Kinde schleppen. Wißt ihr nicht, das ist ja dieselbe, die vor drei Monaten ins Wasser springen wollte, weil der Geliebte sie verlassen hat.«

»Herr, mein Je!« fiel der Chor ein. »Ist das die! Ging die doch sonst im Strohhut und Merinokleid wie ein gnädiges Fräulein!«

»Ja und könnt's auch jetzt noch haben, und seidene Kleider wollt' ich ihr geben, – warum mußte sie aber was Apartes für sich haben? Jetzt hat sie den Scandal gehabt, hat sich abgezehrt und ist 'runtergekommen, – wer wird sich nun mit dem Mensch noch einlassen? – Wo werden sie denn aber einlogirt?«

»Wo die lahme Lise und der blinde Jakob verstorben sind!«

»Herr du mein Jeses, das ist ja das sprechende Exempel für die blonde Lise. War das ein Pärchen! wollten auch ganz apartig nur für einander sein! Vierzig Jahre, wo sie in Dienst waren, haben sie Treu und Tugend gehalten; und wie sie sich heirathen, müssen sie hier ins Siechhaus gehen, die Lisel lahm und der Jakob blind, bis sie sich beide zu Tode abgezehrt haben. Wird die vornehme Mamsell drin auch so ein Tugend-Lisel werden? Lieber Lisel-Tugend lass' ich mir gefallen als Tugend-Lisel.«

»Lisel-Tugend!« wiederholte die Bande mit wieherndem Gelächter, und damit war der Spott über das unglückliche Mädchen für immer entfesselt.

Die Ankömmlinge hatten indeß in ihrer neuen Wohnung sich umgesehen und die Strohsäcke hineingeschleppt.

Elise, als sie diese armselige Umgebung betrachtete, wurde bleich wie der Tod, lehnte sich an die Mauer und nach wenig Augenblicken verfiel sie in den Weinkrampf, der bei jeder Erschütterung sie zu befallen pflegte.

Ihr Bruder tröstete sie mit Sorgfalt: »Nur diesen Winter halte aus, dann bin ich Geselle und dann wird Alles besser werden. Ihr habt noch Brot und Kartoffeln auf acht Tage. Wundert euch nicht, wenn ihr mich die nächsten Tage nicht seht. Ich habe etwas abzuschreiben, und will des Feierabends fleißig sein, um neues Geld zu verdienen.«

So schied Gottlieb von den Seinen. Dieser Gottlieb Winkler, ein Tischlerlehrling, war, mit seinem lebendigen, aufgeweckt zähen Naturell, der Typus des gesunden, unverdorbenen Arbeiters, der in seinem Stande sich vorwärts zu arbeiten Muth und Kräfte fühlt. Sein Auge war, ein wenig hervortretend, weit und heiter geöffnet, sodaß man ihm ansah, wie er Alles mit Aufmerksamkeit und mit Freude wahrnahm, was ihm begegnete, auch was ihn an seinen eigenen Mangel erinnerte. Die Nase, mit Sommersprossen besäet, war spitz aufgeworfen zu jener neckischen Keckheit, die es verrieth, daß er den losen Streichen, die man den Lehrjungen zuschreibt, seiner Zeit auch nicht abhold war. Er sah stets gesund und glücklich aus. Er war kräftig genug, nicht nur seinem Handwerk zu genügen, sondern auch durch außerordentliche Arbeiten in der Nacht und an den Feiertagen die Seinen zu ernähren. Die Mutter war zu alt, die Schwester seit Monaten zu krank, um zu arbeiten. Gottlieb ernährte sie durch seine Anstrengung und er that es gern, denn sein kindliches Herz bedurfte keiner anderen Freude, als den leidenden Seinen Freude zu machen, und der Hoffnung, bald als Geselle sich als sein eigener Mann zu fühlen und zu einer Meisterschaft durchzuarbeiten.

Mit dieser Hoffnung für sich und sie verließ Gottlieb getrost die Seinen. Wie anders aber kam er in acht Tagen wieder! Er hatte bei dem Meister nach seiner Freisprechung angefragt, um ihn zu bitten, ein paar Monate der Lehrzeit ihm zu erlassen; dieser aber eröffnete ihm: daß er Geselle werde, davon könne sobald noch nicht die Rede sein; wenn er auch mit drei Jahren ausgelernt habe, so müsse er doch noch zwei Jahre unentgeltlich bei ihm arbeiten, um das Lehrgeld einzubringen, das er nicht bezahlen könne.

Der ehrliche, kräftige Mensch kann sich mit der schwersten Mühe das Dasein um den Preis des geringsten Lohnes erarbeiten; aber ein gewisses Maß von Lohn verlangt er doch, und wenn dieses ausbleibt, beginnt er mit dem Schicksal zu rechten. Für Gottlieb begann dieses geringste Maß auszubleiben. Mit seiner Hoffnung verlor er die Lust und mit der Lust die Kraft zur Arbeit. Während er seinen Körper zusammenbrechen fühlte, mußte er ihn doppelt anstrengen. Eine ganze Woche lang hatte er Tag und Nacht gearbeitet, um einen Thaler zu verdienen, und als er ihn nun mit geknicktem Muthe der Mutter bringt, um an ihrer Freude sich zu laben, – welcher Empfang begegnet ihm da!

Die Mutter sah ihm an, daß er krank war; sie machte ihm verdrießlich Vorwürfe, er gebe nicht Acht auf sich. Gottlieb sagte in seiner gereizten Stimmung unwillig: »Ich hetze mich ab für euch und ihr behandelt mich noch wie ein unartiges Kind!« Aber sanfter fuhr er fort: »Lassen Sie's gut sein, Mutter; mir fehlt Nichts. Mich hungert nur. Komm, Lisel, hier ist Brot und Käse. Heut soll mir's prächtig schmecken!«

Die Schwester wies seine erzwungene Lustigkeit zurück und verfiel in ihr krampfhaftes Weinen: »Gottlieb, Gottlieb, was thun wir; du wirst dich für uns noch ruiniren, und kannst uns doch nicht helfen.«

Gerade weil er selbst seine weinerliche Stimmung kaum noch beherrschen konnte, fuhr er gegen die Schwester mit einem »Donner-Wetter« auf.

Indem hört er draußen Singen. Elisens Krampf nahm zu. Die Kinder sangen ein Spottlied und warfen Sand an die Fensterscheiben. »Was ist das?« frug Gottlieb.

»Sie singen es mir«, sagte Elise in Verzweiflung. »Mir ist nicht mehr zu helfen. Ich kann nirgends, nirgends mehr bleiben.«

Gottlieb fluchte heftiger und frug sie, ob sie wieder einmal verhungern wolle, aber er konnte sich nicht bezwingen; die Thränen stürzten ihm aus den Augen, und um sie den Seinen zu verbergen, floh er in verstelltem Zorne.

Er selbst sagte sich, daß die Seinen in dieser Schande nicht wohnen konnten, und doch mußte er jene Höhle noch für eine Gnadenstätte ansehen, denn wenn auch spärliche Nahrung, – Wohnung konnte er den Seinen nicht auch noch beschaffen. Seine Verzweiflung suchte Betäubung im Branntwein. Da er diesen nicht gewohnt war, versetzte er ihn in trunkene Aufregung, die im Zorn über seinen harten Meister ein Ziel gewann. Er wagte nicht, nach Hause zu gehen, um sich nicht an ihm zu vergreifen. Einsam lief er durch die Straßen. Er, der immer mit der Welt so zufrieden gewesen war, fühlte jetzt einen Haß dafür, daß sie ihn so vernachlässigt habe. Als er bei den hell erleuchteten Häuserreihen vorbei kam, überschlich ihn der Gedanke: wenn er in die vollen Geldkisten ihrer Besitzer greifen könne, nur so viel wolle er nehmen, als der Meister Lehrgeld verlangte, jeden Heller mehr wolle er wie Diebstahl verabscheuen, – konnte denn solch ein einziger Griff ein ganzes, reines Leben vergiften? Es schüttelte ihn frostig durch den ganzen Körper; er fühlte sich krank und erschrak, daß er eins bei seinem Fleiße ganz vergessen hatte, das Beten. Er war auf der Stadtallee und setzte sich taumelnd auf eine Bank, die Hände faltend und, zum Sterben ermattet, betend. Er mußte lange gebetet haben und wußte selbst nicht mehr, was er gebetet, da sah er im Schein der Straßenlaternen ein Kind vorübergehen, mit einem Sack im Arm; der Sack fiel zur Erde und klirrte; es war ein voller Geldsack; die Ducaten rollten über die Steine. Wie verzaubert zog es den frierenden Armen an; wozu er sich für viel zu stolz gehalten, er schlich sich herbei, und raffte heimlich ein paar Ducaten auf; da gewahrte ihn der Knabe und schrie um Hilfe; entsetzt, entdeckt zu sein, ergreift Gottlieb den großen, eisenbeschlagenen Wanderstab seines Lehrgesellen, mit dem dieser im polnischen Walde einen Räuber wollte erschlagen haben, und das mochte wahr sein, denn mit einem schwachen Hiebe lag der reiche Knabe blutend am Boden; gierig griff Gottlieb nach dem Beutel mit Gold, aber wie er ihn erhoben, quellen die Goldstücke heraus, und fallen in das Blut des Erschlagenen, sodaß es ihm bis in das Gesicht spritzt; nun weiß er erst, was er gethan hat; das ganze Unheil der That steht vor seinem Gewissen; er denkt an seine Mutter, an den Henker, an sein eigenes, spritzendes Blut – »Gott im Himmel!« ruft er aus, wirft alles Gold von sich, will entfliehen, da packt ihn schon eine feste Hand am Arme; wahnsinnig will er sich losreißen, die Hand aber des unsichtbaren Verfolgers schüttelt ihn heftig, und – er fühlt sich, in Schweiß gebadet, auf der Promenadenbank erwachen vom schrecklichsten Traume, den er je geträumt.

Der fremde Mann, der Gottlieb gefunden, war mit übereinander geschlagenen Armen, in Nachdenken versunken, bisweilen pathetisch ein Wort vor sich hersagend, auf der Promenade spazieren gegangen, bis er von des Träumenden Stöhnen aufmerksam gemacht wurde. »Auch ein Bruder Proletarier«, sagte er, als er jenen geweckt und betrachtet hatte, »auch ein Opfer der guten Gesellschaft.«

Gottlieb aber hörte nichts davon; der kalte Herbstwind, den Schweiß von seiner glühenden Stirn auftrocknend, hatte ihn in neue Betäubung versetzt. Als der Fremde vergeblich eine Antwort aus ihm heraus zu bekommen versucht und seinen Zustand erkannt hat, bringt er ihn mit Hilfe anderer Mitleidiger in seine Wohnung.

Der Armenarzt, der herbeigerufen wurde, behandelte den Fieberkranken mit Aufmerksamkeit. Am Tage darauf erwachte Gottlieb aus seinen Phantasien. Er befand sich in einem einfachen, bürgerlichen Zimmer, das ihm prächtig vorkam gegen die Kammer seiner Mutter, und konnte an umherhangenden Kleidungsstücken und Geräthen die Wohnung eines Schneiders erkennen. Der Mann, der ihn gestern unsichtbar im Träumen gestört hatte, stand mit einem vornehmen Herrn vor seinem Bette. Er hatte stark geöltes, glatt angekämmtes Haar, kleine unbedeutende Züge, jene kränkliche Gesichtsfarbe und schwächliche Natur, die in ihm den Schneider errathen ließen. Nur in den kleinen, grünlichen Augen lauerte aus der ausdruckslosen Mattigkeit seines übrigen Wesens ein unstet beweglicher Geist hervor. Auch um den schlaffen Mund enthüllte sich beim Sprechen eine versteckte Bitterkeit der Mienen; und dem stattlichen Gaste gegenüber nahm sein Benehmen eine Demuth an, die Gottlieb bei den aufgeregten Sinnen, mit denen er die Augen aufschlug, gespenstig hinterlistig vorkam. Als der Fremde sich entfernte, nannte ihn der Schneider »Herr Kommerzienrath« mit einer tückischen Untertänigkeit, die den Kranken mit Schrecken an seine gestrigen Phantasien von Gold und Blut erinnerte.

Als aber der Wohlthäter den Erwachten über seinen Namen und Stand ausfrug, ihm erzählte, wie er ihn gefunden und zu sich genommen habe, und ihn mit »Bruder« und mit »du« anredete, da sah Gottlieb ein, daß die Furcht vor diesem Manne nur eine Fortsetzung seiner Phantasien gewesen war und er erwachte soweit aus ihnen, daß er das Vertrauen gewann, dem Theilnehmenden sein ganzes Unglück, den Grund seiner Verzweiflung zu schildern. Auf Befehl des Arztes mußte er noch das Bett hüten. Krist, so hieß sein Pfleger, ging mehrere mal aus und kam endlich mit der Eröffnung an das Bett des Fiebernden: »Nun, lieber Bruder, sei getrost; es wird Alles gut werden. Mach', daß du gesund wirst, damit du daran gehen kannst, dein Meisterstück zu machen. Dein Meister wird dich zum Gesellen freisprechen, sobald du damit fertig wirst.«

Krist hatte sich nach Gottlieb Winkler bei der Mutter und beim Meister erkundigt. Als er erfuhr, welch ein energischer Charakter er sei, daß er einige Bildung und viel offenen Kopf besaß, ging er zum Kommerzienrath Hermann und bat ihn, seine Menschenfreundlichkeit auch an seinem armen Pfleglinge zu beweisen. Für funfzig Thaler ließ dieser Gottlieb's Meister bewegen, seinen geschickten Lehrling alsobald zum Gesellen zu machen.

Gottlieb konnte die Eröffnung des Schneiders anfangs nicht begreifen; als er sie begriffen, weinte er Freudenthränen. Sein nächster Gedanke war an Gott, dem er danken wollte für die Erhörung seines gestrigen Gebetes. Da faßte der Schneider, dessen sonst ausdruckslose Mienen geheimnißvoll finster geworden waren, seine Hand und sagte: »Siehst du, junger Freund, Gott, zu dem du gestern gebetet hast, hat dich hülflos den schreckenvollsten Träumen deiner geängsteten Seele anheim gegeben; er hätte dich auch hülflos bis zum Verbrechen selbst fortstürmen lassen. Die Rettung ist dir von den Brüdern gekommen; es ist die Pflicht deines Lebens, die Brüder auch wieder zu retten.«

Gottlieb verstand diese Rede nicht. Als er aber öfter ähnliche hörte, als der sonderbare Mann sprach von dem Rechte eines Jeden, als Mensch zu leben, von dem Bunde, den alle Menschen stiften müßten, um als Brüder in Allen das Menschenthum zu erhalten, da begann ihm der Sinn dieser Worte aufzugehen und nach den Erfahrungen, die ihn neulich bis an den Rand der Verzweiflung geführt und belehrt hatten, wohin die Noth auch den braven Menschen treiben könne, fand er eine so tiefe und so herrliche Wahrheit darin.

Sein innerlich kräftiger Körper erholte sich schnell, da sein Geist wieder aufgerichtet war. In den der Seelenerhebung so günstigen Stunden der Genesung hörte er gern und aufmerksam den Schneider mit umwölkter Stirne seine schönen Gedanken reden von der Erlösung aller Armuth, von der Liebe, dem Glück, der Freiheit aller Menschen. Er hatte den gedankenvollen, ernsten Mann innig achten und lieben gelernt, und nur Eins noch fiel ihm an ihm auf, daß er als Meister so wenig arbeitete, sondern fast immer in Büchern las oder grübelnd in sich versunken dasaß. Allein er fand es natürlich, daß die Bildung des Geistes den Vorzug haben müsse vor der leiblichen Thätigkeit, und machte ihm deshalb keinen Vorwurf daraus. Weniger leicht konnte er sich darüber hinwegsetzen, daß Krist, wie sehr er es auch vor dem Fremden zu verbergen schien, Frau und Kinder sehr barsch und mürrisch behandelte, ohne gegen sie die Liebe zu beweisen, die er in Worten gegen die Menschheit kund gab.

Als aber Gottlieb's Mutter und Schwester kamen, den kranken Bruder zu besuchen, und er ihnen sein unerwartetes Glück mittheilte, vergoß Krist Thränen aus seinen grünlichen schielenden Augen über die Freude dieser Armen. Von dem Augenblicke war Gottlieb ganz mit ihm versöhnt, und pries sich glücklich, einen solchen Mann als Freund und Führer gefunden zu haben, bei dem er all die Bildung des Geistes und des Herzens, die ihm noch mangelte, zu ersetzen hoffte.

Die schwellende Ahnung einer neuen, höheren Lebensbestimmung in der Brust tragend, war er genesen und durfte zum ersten male ausgehen. Es war Sonntag; Krist nahm ihn mit in seine Kirche: er gehörte zur christkatholischen Gemeinde. Sie sollten heute den neu angekommenen Prediger zum ersten male hören. Der junge Tischler, der alle drei Wochen, wenn er seinen Sonntag hatte, regelmäßig mit aufrichtiger Frömmigkeit in die Kirche gegangen war, fühlte heute, daß er damit bisher sich nur zu einer abzuthuenden Pflicht gleichsam selbst gedrängt habe, während er jetzt erst wahrhaft erbaut, in erhebender Begeisterung unwiderstehlich fortgerissen wurde.

Das war ein erstandener Apostel, der auf der Kanzel stand; ein neues Evangelium, die wirkliche Erlösung von allem Uebel, was er von dort verkündete. »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu zerstören, sondern es zu erfüllen«, war der Text dieser Feuerrede; das Gesetz, das darin gemeint wurde, war das Gesetz der Liebe, und seine Erfüllung – das Reich Gottes auf Erden. Mit einem begeisternden Aufrufe, dem Worte Christi nachzuthun, Vater und Mutter zu verlassen, um dem Rufe des Geistes zu folgen, und mit einem himmelanstürmenden Gebete an Gott, den Schöpfer Himmels und der Erden, diese Gemeinde und die ganze Menschheit mit »dem Geiste« zu erfüllen, schloß Ernst Wagner seine Probepredigt.

Sein Auftreten hatte einen allgemein bewältigenden Eindruck gemacht. Man sah es ihm an, daß er ein ganzer Mann war, und daß er ganz dem gehörte, was er sprach. Seine Gegner, orthodoxe Consistorialräthe, sagten kopfschüttelnd von ihm: »ein verführerischer Mensch! Ein Wolf in Schafskleidern! Der leibhaftige Satan!«

Nach dem Gottesdienst traten die Vorsteher der Gemeinde in die Sakristei; auch Kommerzienrath Hermann und Schneider Krist waren dabei. Alles umarmte Ernst; Hermann lud ihn zu Tische; Krist nannte ihn unter Thränen »du« und »lieber Bruder«. Seine Anstellung war entschieden.

In der Kirche, wo Ernst predigte, war außer diesem noch eine andere fremde Person erschienen, eine schöne Dame, hinter deren Schleier während des Liedes eine volle, silberhelle Stimme weihevoll bebend hervortönte, und ein Paar große Augen thränenvoll hindurchschimmerten, sodaß die Nachbarinnen gerührt wurden von der seltenen Erscheinung der fremden Andächtigen. Dieselbe heilige Stimme, dieselben andächtigen Augen wurden wenige Stunden später auf der Bühne zur Schau getragen, von einem großen Publicum bewundert. Ernst Wagner's Delphine trat als Norma auf, auch eine Priesterin, die Priesterin der Kunst, die heute ihren ersten Gottesdienst feierte.

Welche wichtige Stunde für die Novice! Jetzt sollte sie es entscheiden, ob sie wirklich das war, was sie von sich gehalten, und was über alle anderen Leute sie so hoch überhoben hatte, eine Künstlerin, ein geniales, freies Weib, oder – weniger als das gewöhnlichste Mädchen, eine dünkelvolle Närrin.

Die erste Erfahrung, die sie auf der Bühne machte, war, daß die Kunst unendlich schwerer sei, als sie geahnt hatte. Als sie auftritt, die gebieterischen Aussprüche der Prophetin den Barbaren entgegenzuhalten, da fällt eine schwere Angst ihr auf das Herz. Sie fühlt es plötzlich, wie sie nicht das auszudrücken vermag, was sie auszudrücken gedachte; eigene lyrische Empfindungen vermochte sie zu singen, nicht fremde Charaktere dramatisch darzustellen. Aber sie konnte nicht leben, wenn sie nicht groß wurde in der Kunst und durch die Kunst. Die alte Verzweiflung packte wieder ihr Herz, und warf über ihr Antlitz den finstern, kalten Zug, jenen undurchdringlichen Schleier, der hinter ihrem Aeußeren ihr eigenstes Wesen innerlichst zu verbergen schien und irgend ein großes Unglück oder eine schwere Schuld dieser Seele ahnen ließ. Aber das Bewußtsein ihres Mangels hatte diesem selbst schon abgeholfen; gerade diese finsteren, halb verbergenden, halb verrathenden Züge paßten neben ihrer stolzen Schönheit so eigenthümlich zu dem Bilde der Norma, der schuldbelasteten Priesterin, deren übermenschliches Wesen nur Trug ist, die hinter der göttlichen Hoheit die menschlichen Leidenschaften verbirgt. Diese ernste Erscheinung, die so gar nichts Alltägliches an sich hatte, hinter der man sich so viel denken konnte, gewann die Theilnahme des Publicums. Delphine erhielt Zeichen des Beifalls. Ermuthigt sang sie das Duett: »Ja bis zum letzten Hauche soll keine Macht uns trennen.« Ein Hoffnungsstrahl blickte aus den großen Augen hervor durch die umwölkten Züge, und es beantwortete ihn rauschender Applaus. Damit war die Debutantin ihrer selbst ganz mächtig. Sie hatte es gelernt, was das heißt: Applaus; aber sie erschrak nicht davor. Den Beifall der unverständigen Menge, den sie bisher so verachtet hatte, lernte sie hoch schätzen, seit er ihr galt; sie lechzte nach ihm, von dem die Höhe ihrer Begeisterung abhing, von dem sie Freiheit und Größe sich erschmeicheln mußte. Das Bewußtsein, ihn erlangt zu haben, gab ihr die vollste Gewalt über alle ihre Fähigkeiten. Sie behielt absichtlich von der erschütternden Beängstigung so viel zurück, als es sie in eine bebend erhabene Stimmung versetzte, wie die Priesterin das Heiligthum zum ersten male mit zitternder Weihe betritt. So schritt sie mit Muth zu der letzten Scene, in der es galt, Alles gewinnen oder Alles verlieren. Mit Absicht hielt sie jetzt wie im Spiele ihrem Gemüthe den Anblick des gähnenden Abgrundes vor und versetzte es mitten hinein in das verzweifelte Ringen zwischen des Lebens Vernichtung und höchstem Glücke. All ihre Kraft nahm sie zusammen, um die Leidenschaft dieses zermalmenden Kampfes in das Bild der Norma zu legen. Der steigende Affect der Musik kam ihr zu Hilfe; in fieberischem Taumel über sich selbst erhoben, verkündete sie den Götterspruch der Rache, in welchem Norma's verzweifelte Liebe, sich selbst vernichtend, das Letzte wagt: »Kämpfe, Schlachten, Vertilgung!« Es war ihr gelungen, den großen Moment dieser Leidenschaft darzustellen, und damit hatte sie sich vom Schmerz der eigenen befreit und ihn verklärt zu der Wonne künstlerischen Schaffens. Die Bedeutung und der Genuß dramatischer Darstellung ging ihr jetzt auf: die Verzweiflung in dem Augenblicke, wo sie auf das Höchste gestiegen ist, in einem Bilde zu erfassen und sich so hinüberschwingen zu der beseligenden Freiheit der Künstlerschaft. Ein schönes, aber verführerisches Loos, der Leidenschaft sich in die Arme werfen und cokettirend mit ihr zu buhlen, um Stoff für das Theater ihr zu stehlen! Als die Hohepriesterin den gefangenen Geliebten opfern soll und singt: »ach! ich vermag es nicht«, – wie wahr wußte Delphine dieses Verzagen zu schildern, das sie in seiner ganzen Bitterkeit so eben empfunden, und doch wie jubelte ihr Herz bei diesen Tönen der Verzagtheit auf, denn sie war sich gewiß, daß es ihr gelungen war, daß sie das Höchste wol vermochte! Triumph! jauchzte es in ihr, und wie Norma, allen erlogenen Schein der unberührbaren Priesterin von sich werfend, als das liebende und fehlende Weib sich dem Geliebten darstellt in der letzten Arie: »in dieser Stunde sollst du's erkennen, was für ein Herz du dein konntst nennen«, da schwand von dem Antlitz der Künstlerin der undurchdringliche Schleier des verschlossenen Stolzes; hinter jenem kalten, finstern Wesen trat wie der Abendstern hinter Wolken hervor das Bild der unbegrenzten Hingebung des liebenden Weibes, die in Wehmuth über die Schranken dieser Erde hinausweist.

Jetzt erst, als der Vorhang unter donnerndem Beifall niederrollte, dachte sie an Ernst. Sie lechzte danach, den Triumph ihres Herzens an dem Busen des Geliebten auszuschütten. Hastig riß sie in der Garderobe das Costüm herunter und wollte fort in seine Arme stürmen, als ihr der ewig lächelnde Theaterdirector entgegentrat. Sie hörte nicht auf seine maßlosen Schmeicheleien. Er legte ihr einen Theatercontract vor; noch immer lächelnd, unter unendlichen Galanterien sprach er von »Anfängerschaft – kleinem Repertoir – Unzuverlässigkeit eines einmaligen Erfolges«, und bedauerte, ihr für das erste Jahr die Gage von nur wenigen hundert Thalern bieten zu können, übrigens mit grenzenlosen Versprechungen für die Zukunft. Die stolze Künstlerin achtete weder auf sein Bedauern, noch seine Versprechungen; sie hielt es unter der Würde, mit solchen materiellen Geschäften sich abzugeben; ihre Kunst sollte nicht nach Brote gehen; eilig unterzeichnete sie einen sehr schlechten Contract und eilte mit hastig athmender Sehnsucht in die Arme ihres Freundes.

Ernst erwartete sie indeß im Hotel auf ihrem Zimmer. Im Theater, statt von dem Zauberklange ihrer Stimme, von der feenhaften Schönheit ihrer Gestalt entzückt zu sein, hatte er in der Oper die Idee des Kunstwerkes gesucht und vermißt; die Handlung erschien ihm unmotivirt, tendenzlos; namentlich im Charakter der Norma, die den Trug mit dem Heiligsten gebraucht, um ihre sinnlichen Schwächen zu verbergen, sah er keine poetische Berechtigung, keinen ethischen Gehalt. Sein ganzes Gefühl bei Delphinens hinreißendsten Scenen war Mitleid, daß sie für so gedankenleere Künstelei sich hergebe. »Deine Aufgabe ist es, sie zu erziehen, den wahren Begriff der Kunst ihr zu offenbaren«, so dachte er, der von der Kunst nichts verstand, denn er verstand nur die Philosophie der Kunst. Die eine Freude, die er bei ihrem Triumphe hatte, war diese, daß sie durch ihre Künstlerschaft sich eine Bahn eröffnet hatte, auf der sie selbstständig durch das Leben schreiten konnte. Damit war sein Gewissen um eine schwere Sorge erleichtert. Er und Delphine hatten sich Betheuerungen ihrer Liebe gegeben und das Versprechen, miteinander ein freies Leben sich zu erringen. Nähere Pläne, wie sie das freie Leben führen wollten, hatten sie nicht gemacht. Nur das konnte Ernst sich nicht denken, wie er je die Sorge eines Familienvaters auf sich nehmen könne. Nie wieder wollte er die Fesseln der Blutsverwandtschaft, von denen er sich eben befreit, wieder auf sich nehmen; der sinnliche Uebermuth seiner ersten Bekanntschaft mit Delphine erschien ihm nur als eine Krankheit der alten, unfreien Zeit; jetzt in der neuen Zeit war er der freie Geist, der Kämpfer für die Wahrheit, der durch nichts gebunden in der Welt dastehen wollte. Jetzt konnte er seiner Mutter zeigen, daß er nicht dieses Mädchens wegen geflohen sei und nicht ihrer selbst wegen sie entführt habe. Seine Liebe zu Delphine sollte der Welt das Beispiel eines freien, rein geistigen Verhältnisses geben, über allen Banden der Natur und Gesellschaft hoch erhaben.

»Nun ist Alles gut, mein Geliebter, mein Einziges, mein Alles!« So rief Delphine aus, als sie ihm um den Hals stürzte, nicht mehr der wehmuthvolle Abendstern, nicht die Liebe, die von der Erde gen Himmel scheidet; sie hatte den Charakter der Komödie abgelegt, und war jetzt ganz sie selbst, ganz Natur, die strahlende Liebesgöttin, die den Tod überwunden, das Leben ersiegt hat und in der bacchantischen Schwärmerei, die aus dem Siegestaumel einen Gottesdienst macht, ihren Triumph auskosten will.

Ernst aber hatte keine Empfindung für diese rosige Lebensgluth, diese athmende Blüthenfülle. »Wir haben gesiegt, um ewig jetzt zu kämpfen«, sagte er, drückte sie mit heiliger Andacht an sein Herz und ließ sie aus seinen Armen, um nicht Gedanken, die ihm fremd waren, in ihr zu erregen. Er frug sie nach dem Abschluß des Contractes. Sie war verwirrt über diese poesielose Frage und antwortete kaum. Er frug sie, ob er sich nach einer Wohnung für sie umsehen solle. Sie stützte den Kopf in die Hand; »ich habe bereits eine Wohnung«, erwiderte sie kurz. »Mir thut der Kopf weh«, fügte sie nach einer Pause kalt hinzu, Ernst trennte sich mit herzlichem Abschiede.

Delphine saß mit verhülltem Antlitz Stunden lang auf ihrem Sopha. Der glühende Lebensmuth, der heute ihrer Seele so schwellend reich ersprossen, und durch das ganze Leben ihr nun frisch erblühen sollte, mußte jetzt in matten, ermattenden Träumen verwelken. Endlich raffte sie sich empor und nahm aus dem Secretair einen Brief – von Cesar.

Der Graf hatte, sei es Wagner's Entschlüsse ahnend, oder in der Absicht, ihnen zuvorzukommen, seiner hochverehrten Freundin den Antrag gemacht, ihr ein Logis unter der Obhut einer ältlichen Dame, einer polnischen Generalin mit adeligem Namen auf »ka«, zu besorgen.

Empört über seine Absicht, sie von dem Geliebten trennen zu wollen, hatte sie den Brief empfangen. Jetzt antwortete sie, von seiner Güte Gebrauch machen zu wollen, und nannte, den galanten Ton, den sie bei ihm gelernt, etwas übertrieben nachahmend, seine Aufmerksamkeit für sie »entzückend.«

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