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Sechstes Capitel.

Recht so, lieber Bruder! Du bist also auch einer von denen, welche lesen: selig sind, die da arm sind, – und nicht: die da geistlich arm sind, wie die Mammonspfaffen es verfälscht haben, die uns Armen auch noch den Trost des Evangeliums nehmen und ihn nur den Dummen lassen wollen!«

So trat Schneider Krist dem Prediger in der Sacristei entgegen; an der Lämmelbrudersüßigkeit, mit der er ihn wieder dutzte und unter thränenden Augen ihm die Hand drückte, erkannte der noch tief bewegte Wagner in freudiger Rührung, daß das der erste Erfolg seines Evangeliums sei.

»Ja, lieber Bruder«, so erwiderte er, noch im Kanzeltone weihevoll, »zu den Freunden der Armuth gehöre ich, und mit ihnen werde ich stehen und fallen.«

»Du hättest nur sehen sollen«, so fuhr der Schneider fort, indem aus der Lammessanftmuth seiner erschlafften Mienen ein wolfsähnlicher Grimm hervorsah, »du hättest nur sehen sollen, wie es diese Dickbäuche von Bourgeois wurmte, was du ihnen zu verbeißen gabst! Der Pfeffer kam ihnen spanisch vor. Ja, für die leidende Menschheit essen, tanzen, singen, in Concert und Theater gehen, für wohlthätige Zwecke enorme Summen in die Zeitungen setzen lassen, Champagnertoaste auf die allgemeine Bruderliebe ausbringen, – das ist ihre Sache. Warum denn auch nicht? Bringt doch jede gute That auch ihren Segen: man stopft der Canaille das Maul, die gefährlich wird, wenn sie hungert. Lieber ein paar Brocken Brot hingeworfen, wie den Hunden! Aber meint ihr, daß wir Hunde sind? Oho! Wir sind Menschen und haben ein Recht auf das Brot. Wenn der liebe Herr Gott mich geschaffen hat, habe ich da nicht auch ein Recht zu existiren? Wo aber ist das Recht, wenn Tausende davon abhängen, daß die Bourgeois ihnen ein Stück Brot zuwerfen, wie räudigen Hunden? Es ist so lange keine Freiheit auf Erden, als die Gesellschaft nicht einem Jeden das Recht der Arbeit und der Existenz zusichert. Das heißt der leidenden Menschheit helfen; das heißt Brüderlichkeit! Das ist aber keine Kost für diese abgefeimten Gourmands der Menschenliebe. Ich sage dir, dem großen Politiker, deinem Herrn Stadtrath Hermann, wurde ganz übel, als er das deiner Brüderlichkeit anschmecken mußte!«

Wie am ersten Feiertage nach der Kirche ein Fluch auf ein frommes Gemüth, so wirkte dieser Haß auf Wagner's von weltumfassender Liebe erfüllte Seele. Auch für ihn war die Idee des socialen Staates, der die Arbeit und den Unterhalt Aller garantirt, eine unbedingte Consequenz. Die Freiheit Aller war ja ein Princip, das keinen Scrupel erlaubte; die Freiheit Aller aber ist die Gleichheit Aller, denn ohne diese kann jene nicht sein; die Gleichheit wiederum ist eine illusorische, so lange sie eine blos rechtliche ist, so lange es einen Unterschied des Besitzes gibt. Es gibt somit nur eine Freiheit, das ist die vollkommene Gleichheit: entweder Alle besitzen oder Keiner. Die logische Consequenz dieser Ideen lag ihm so mathematisch klar vor Augen, war ihm so sittlich unabweislich, daß er gar nicht begreifen konnte, daß nicht jeder denkende und liebende Menschenfreund, – und dafür hielt er mit Ausnahme weniger Sonderlinge alle Menschen, – zu derselben Einsicht von der nothwendigen Erweiterung des Staatszweckes gedrängt werden müßte. Und nun wollte Krist gerade die Gebildeten als dieser Einsicht unfähig verdammen! Gerade der Erste, der seine communistischen Ideale ganz und rücksichtslos theilte, mußte ihn so misverstehen, sein reines Evangelium so verunstalten! Der Schneider kam ihm plötzlich vor wie der tückische Versucher, der ihm seine festliche Gottseligkeit höhnisch zerstörte. Er wartete sehnlich auf Hermann, um sich an einem entsprechenderen Erfolge seiner Predigt erbauen zu können. Aber Hermann kam nicht. Wagner wartete länger als gewöhnlich in der Sacristei, aber es kam auch keiner seiner sonstigen Gönner.

Vor der Kirchthüre mußte Wagner sich wundern, daß Mancher, der sonst wohlwollend oder ehrerbietig ihn zu grüßen wartete, heute ihn nicht zu bemerken schien.

Der verhaßte Krist hatte sich wie eine Klette an ihn gehangen. Dessen Freunde schlossen sich ebenfalls an ihn an. Gottlieb Winkler und andere Handwerker, in ihren langen blauen oder schwarzen Sonntagsröcken, – eine ganz andere Gesellschaft, als der Geistliche sie sonst gewohnt war.

Krist setzte seine beißenden Verhöhnungen fort über die Bourgeois, die dem Volke das Blut aussaugen, über diese Liberalen, die Geldsäcke haben, wo Andere das Herz, – und seine langröckigen Freunde sagten mit ihren Worten zu Ernst, »das sag' ich Euch«, und mit ihren Blicken: das ist Einer, der's zu sagen versteht!

Wagner selbst mußte sich über die Beredtsamkeit dieses Handwerkers verwundern; aber nur um so unheimlicher kam er ihm vor. Er hielt ihn keiner Antwort für würdig, aber bei seinem Mangel an Selbstbeherrschung malte sich in seinen Zügen bald die tiefe, sittliche Entrüstung über seine Aeußerungen.

Krist war heute nüchtern und viel zu schlau, als daß er diesen Eindruck seiner Worte nicht bemerkt haben sollte. Wagner war also noch nicht ganz zu den Seinigen zu zählen, und um ihn zu gewinnen, mußte er andere Töne anschlagen.

Er drängt sich mit in Wagner's Wohnung. Dieser besaß so wenig Entschlossenheit, daß er ihn nicht abzuweisen vermochte, wie lästig der Mensch ihm auch war.

Bald aber begann seine Stimmung gegen den Zudringlichen eine ganz andere zu werden. Der Schneider saß eine Weile auf einem Stuhle da, mit stierem, gläsernem Blick und jener allgemeinen Mattigkeit der Haltung, die den an geistige Getränke Gewohnten zu befallen pflegt, wenn er derselben sich enthalten hat. Wagner glaubte, bei diesem Anblick an der Richtigkeit seines Verstandes zweifeln zu müssen, und war darin noch bestärkt, als jener plötzlich außer allem Zusammenhange seine Lebensschicksale zu erzählen anfing. Bald aber fing Ernst an, den Zusammenhang zu erkennen, da er sah, wie das Leiden der Armuth es war, was sein ganzes Leben erfüllt hatte und all sein Denken in Anspruch nahm. Die äußere Zusammenhangslosigkeit erhöhte nur den Eindruck der Schilderung, welche Krist ihm von dem Drucke machte, mit dem stets seine Lebensverhältnisse belastet gewesen seien. Er erzählte ihm, welches die Erinnerungen waren, die ihm von seinen ersten Lebensjahren haften geblieben: wie er, das Kind eines Lastträgers, in einer Kellerhöhle, von mehreren Familien bewohnt, oft vor der Wuth des betrunkenen Vaters unter einem morschen Bettgestell eine Zufluchtsstätte suchen mußte; er erzählte, wie ihn nach den Lehren, die er auf Veranlassung eines mildthätigen Frauenvereins über die christliche Religion erhalten, der phantastische Traum befallen habe, die Liebe, die er nirgends auf Erden gefunden, zu predigen, ein neuer Apostel mit härenem Gewande durch die Welt zu ziehen. Statt dessen sei er zu einem Schneider in die Lehre gekommen. Seine Sucht, Bücher aller Art zu lesen, habe ihm hier von einem rohen Meister die entwürdigendsten Mishandlungen zugezogen, die aber in ihm den Gedanken nicht hatten erschüttern können, daß er ein bevorzugtes Kind Gottes sei, und noch irgend ein Wunder ihn zum großen, reichen Manne machen werde. Dieses Vertrauen auf Gott habe ihn endlich, als die Mishandlungen unerträglich wurden, getrieben, das Wunder, das in der Schneiderwerkstatt ihn nicht erlösen wollte, in der weiten Welt zu suchen. Er schilderte nun, indem er auffallend leicht mit den Jahren umging, das Elend, in das, oft dem Verhungern nahe, in den verschiedensten Lagen des Vagabundenlebens sein Wunderglaube ihn gebracht habe, und aus dem er die Lehre gezogen, daß der Mensch nur in sich selber Hilfe zu suchen habe; in der Schweiz endlich, in den Handwerkerbildungsvereinen, sei sein Durst nach einem großen, unbestimmten Ziele gestillt; dort habe er gelernt, daß es eine Schande sei, ein reicher Mann werden zu wollen, daß arm zu sein das größte Glück der Welt sei, denn die Armuth allein ließe dem Menschen Platz für Gerechtigkeit und Menschenliebe. »Seitdem«, sagte er, »will ich nichts sein, als ein Armer, aber auch Alles, was ein Armer sein kann, ein Heiland meiner Mitleidenden, ein Apostel für die Elenden. Ich, gehöre nicht mehr mir an, nur der gedrückten Menschheit; mein ganzes Leben will ich daran setzen, sie wieder zu erheben zum wahren Menschenthum!«

Nach dieser Rede sah der Theologe nichts mehr vom Versucher oder Verrückten in dem Schneider; er war ihm jetzt plötzlich wieder das Ideal eines Menschen, der Arbeiter, der das ganze Gebiet der menschlichen Thätigkeit umfaßt, von der Handarbeit des Tagelöhners bis zur geistigen Arbeit für die weltgeschichtlichen Zwecke, – der absolute Mensch. Die Lieblosigkeit, die er aus Verkennung ihrer wohlmeinenden Bestrebungen gegen die besitzende Classe darthat, erschien Ernst als die Trübung, mit der jedes Ideal versetzt zu sein pflegt, eine Folge seiner unglücklichen Lebensschicksale, die er selbst durch die Verklärung seiner Bildung zum Bewußtsein der reinen, allgerechten Vernunft sich vornahm ihm auszuschmelzen. »Krist«, sagte er mit freudiger Rührung, »wir wollen beide dasselbe. Sei mein Bruder, laß uns Alle, Alle zusammengehen!«

Der Schneider erwiderte abweisend: »Alle? Auch mit den Blutsaugern, den Bourgeois?«

»So habe doch kein Vorurtheil gegen Leute, die einen anderen Rock, aber doch dasselbe Herz darunter tragen, wie du. Wenn sie auch aus einem ähnlichen Vorurtheil gegen dich, – gegen uns verstimmt sein sollten, – es kann ja nur eine Verständigung nöthig sein, und sie werden mit uns gehen. Mit uns muß ja Jeder gehen, der denkt und liebt, und – wer müßte nicht denken und lieben?«

»Wer nicht denkt und liebt? – Jeder, der aus Anderer Hände Arbeit seinen Verdienst zieht. Denn der müßte, anstatt länger ein Blutsauger zu sein, seinen feinen Rock ausziehen und selbst Hand an die Arbeit legen. Der Mensch hört auf Mensch zu sein, sobald er Geldmensch ist. Suchst du Menschen, so komm zu uns; unter den Arbeitern ist noch der Rest von Vernunft und Liebe; das Proletariat ist der einzige Boden der Freiheit. Aber immerhin, geh hin, versuch's mit den Herren vom gesetzlichen Fortschritt! Du wirst doch sehen, daß sie Schurken sind und zu uns kommen müssen. Ich weiß es, denn wer die ganze Freiheit begriffen hat, kann nimmer an der halben Geschmack finden!«

*

An demselben Tage stand Constanze wieder vor dem Bilde ihres Lieblingsdichters. Wie hatte sich seit jenem Abende auf dem Balle der Stern des Salons verändert! Nichts von jener kecken Beweglichkeit des Hauptes – das Kinn war tief auf die Brust niedergesenkt; statt jenes herrischen Lächelns – ein tiefer, echt weiblicher Schmerzenszug um den Mund; das Auge war nicht auf das Bild gerichtet, in die leere Luft starrte es, wie in ein trübes Schicksal, finster hinein.

Da – wieder schellt es – wieder hört sie eine theure, theure Stimme. Wagner fragt nach ihrem Bruder. Sie sinnt einen Augenblick nach; dann plötzlich hat sie einen Entschluß gefaßt; sie eilt zur Thüre ihm entgegen, – aber zu spät! Er ist bereits durch die Nebenthüre in das Empfangszimmer ihres Bruders getreten.

»Mein Gott, wie wird das werden!« Mit angstvoller Miene lauscht sie; schon sind sie bei der Sache.

»Kennen Sie den Mann? Kennen Sie sein früheres Leben?« fragt Hermann.

»Er selbst hat es mir erzählt.«

»Und aufrichtig?«

»Warum denn nicht?«

»Weil er Gründe hat, es nicht zu sein. Hat er Ihnen gesagt, daß er, wegen eines gewaltsamen Einbruchs, in der Rheinprovinz drei Jahre auf dem Zuchthause gesessen hat? Wissen Sie, daß er ein Trunkenbold ist? Wissen Sie, wie liederlich er in seinem Hauswesen ist? Vor zwei Jahren kam er aus der Schweiz mit Empfehlungen von Mannheim hier an, hungrig und zerlumpt. Wir nahmen uns seiner an, verschafften ihm Kleidung, Unterkommen, die Mittel, um Meister zu werden. Er hätte es bei unserer Kundschaft sehr gut vorwärts bringen können; aber er arbeitete schlecht und wenig, schmökerte viel, kaufte Bücher, sodaß er ganz herunter gekommen ist. Kürzlich erst habe ich seine Mysterien erfahren und Sie werden sehen, es dauert nicht lange, so wird irgend ein sauberes, conservatives Blatt die Enthüllung bringen, daß die liberale Partei nicht nur aus Judenjungen, sondern auch aus Corrigenden besteht. Aber mein Entschluß steht fest, ehe es dazu kommt, soll Krist aus der Gemeinde heraus: entweder er oder ich!«

»Nun, bei Allem, was Vernunft ist«, – so hörte die lauschende Constanze Wagner's Stimme erwidern – »ich kann in dem keinen Grund sehen, ihn wie einen Aussätzigen zu behandeln. Seine Unthätigkeit, sein Bücherlesen und -kaufen sind doch wahrhaftig kein Verbrechen, sondern das Unglück, daß der Mensch, der seinem inneren Berufe nach zum Gelehrten, vielleicht zum Reformator bestimmt ist, Schneider werden mußte – eher ein Vorzug, als ein Vorwurf! Wenn er gestohlen hat, so kann ich darin keine Schuld von ihm sehen, sondern nur ein Schicksal; die Schuld ist bei der Gesellschaft, bei den ungerechten Verhältnissen, die den Trieb nach Vervollkommnung zum Verbrechen ausarten ließen. Ich weiß, das Wesen des Menschen zu erfassen; Sie stoßen sich an den zufälligen Aeußerlichkeiten.«

»Nennen Sie das zufällige Aeußerlichkeiten? Es ist doch wol ein Unterschied zwischen einem Schurken und einem ehrlichen Manne? Krist ist ein Schurke durch und durch; der ganze Kerl ist eingefleischter Hochmuth, – kein Stolz, denn der Stolz ist auch vor sich selber stolz; dieser elende Hochmuth aber ist jeder Erniedrigung fähig, um empor zu kommen. Und im eigenen Hause träge und liederlich sein, das nennen Sie wol, das eigene Wohl dem allgemeinen opfern, um den Staat, die Gesellschaft zu reformiren? Ei was, Faulheit ist es! Fange ein Jeder mit sich selber an zu reformiren. Sei Mosje Krist erst selbst ein ganzer Kerl, ein Mann von Charakter. Wer das ist, der wird, wenn er auch einmal gefehlt hat, sich immer noch retten können; wo aber ein elendes Subject wie dieser Schneider ins Verbrechen hineingerathen ist und noch der Gesellschaft die Ehre gibt, die Schuld daran zu tragen, der ist verloren; solch ein Corrigende ist incorrigibel.«

»Aber um Alles in der Welt, fühlen Sie denn nicht selbst, daß Sie der Sache nicht auf den Grund gehen und die Consequenzen zu ziehen sich weigern? Warum bleiben Sie auch auf halbem Wege stehen? Natürlich, wenn Sie nur den einen Fuß weiter setzen und mit dem andern nicht nachkommen, können Sie zu keinem Ziele kommen. Aber thun Sie einmal alle Schritte, die der erste nach sich zieht. Sie sagen solch ein Corrigende wird sich nie bessern. Nein, allerdings nicht, – so lange nämlich die Verhältnisse, die ihn früher zum Verbrechen zwangen, ihn ferner dazu zwingen. Und doch soll er besser werden. Nicht wahr, die tausend und aber tausend Corrigenden, die unsere Gesellschaft aufzuzählen hat, die geachteten und die verstoßenen, die im Frack und die in der Bluse, die mit und die ohne Ordenszeichen, die sollen doch alle besser werden? Das müssen Sie doch zugeben, und auch das, daß sie unter den alten Verhältnissen nicht besser werden können; folglich – nun? drängt sich Ihnen die Folgerung nicht selber auf, daß – nun, daß eben die Verhältnisse anders werden müssen! Wer denkt, kann doch gar nicht anders denken; wenn er sich nur nicht vor seinem eigenen Denken fürchtet. Aber haben wir nur den Muth, uns der Wahrheit hinzugeben; sie kann uns nur zu gutem Ende führen. Der Mensch ist das absolut freie Wesen, der Geist, der sich selbst begreift und bestimmt; nichts darf er in sich und in allem Menschlichen gelten lassen, weil es ist, sondern nur, weil es vernünftig ist. Die Kritik ist es, die alles Bestehende, Naturwüchsige in seiner Nichtigkeit begreift. Die praktische Kritik, die das Urtheil vollzieht und das Unberechtigte zerstört, damit die positive Vernunft sich eine neue Welt erschafft, ihrem eigenen Wesen adäquat, – das ist die Revolution!«

Schon bei den Männern hatte Wagner's Rede, die von Herzen kam und zum Herzen drang, Eindruck gemacht; um wie viel mehr bei Constanze und bei der Gemüthsstimmung, die ihren Busen damals hob. Das Schwellen, das die Knospe von innen heraus zur Blüte sprengt, überkommt irgend einmal auch das Herz jedes Menschen und weitet seinen Lebensdrang in phantastischem Schwunge zu ungeahnter Tiefe und Kraft. Constanze aber, bei ihrem klaren Verstande und kräftigen Egoismus, war ein kleiner Trotzkopf, der Trotz bot selbst ihrer eigenen weiblichen Natur, der keinem Zwange seinen Eigensinn unterwerfen wollte. In ewig heiterem Gleichmuth hatte sie ihre Jugend bis zum zwanzigsten Jahre hingelebt; die Erscheinungen, die ihr begegneten, konnten nichts in ihr erregen, als neckenden Widerspruch oder wohlwollendes Mitleid. Es mußte etwas Ungewöhnliches, von außerhalb der sie umgebenden Welt, an sie herankommen, um ihren Starrsinn zu beugen vor der holden Naturnotwendigkeit, dem das Erblühen der Seele wie des Leibes unterliegt. Der allgemeine Enthusiasmus der Zeit, der auch Constanze's Seele fortgerissen, hatte in ihrem Herzen den Boden erweicht, in dem die erwachte Neigung zu dem Apostel dieser allgemeinen Seelenerhebung Wurzel fassen und zu einer mächtigen Leidenschaft aufschießen konnte. Mit demselben starken Sinne, mit dem sie ihm getrotzt, gab sie sich ihrem phantastischen Aufschwunge jetzt hin. Ihre Umgebung, die ihr bisher gleichgültig gewesen, wurde ihr verächtlich; in der geistigen Wonne schwindelnder Begeisterung fühlte sie sich fortgetragen mit des Apostels kühnen Gedanken; heute in der Kirche war es ihr klar geworden, daß sie nicht dem Boden der Alltäglichkeit angehören könne, es war der Entschluß in ihr gereift, nicht mehr von dem Erwählten zu lassen.

Als sie darauf zu Hause dem Bruder begegnet, ist dieser empört über Wagner's Rede. Constanze kann diese Heftigkeit nicht begreifen und vertheidigt ihn. Der Bruder, schon längst durch den Eigensinn, mit dem sie die besten Partien ausgeschlagen, gegen sie verstimmt, fragt sie, ob sie in den tollen Pfaffen sich etwa auch vergafft habe; mit Entrüstung weist sie den beleidigenden Ausdruck zurück, aber gesteht, daß jener der Mann ihres Herzens sei. Hermann war zu sehr Kaufmann, als daß eine solche Verbindung je seine Billigung erfahren hätte, und in verletzenden Worten, wie sie in dieser glücklichen Familie bisher unerhört waren, machte er seiner doppelten Empörung Luft. Als er jetzt mit Wagner sprach, hörte Constanze den unterdrückten Zorn an dem gepreßten Tone seiner Stimme ihm an. Nach dem hinreißenden Zauber, den Wagner's seelenvolle Beredtsamkeit eben wieder auf sie gemacht hatte, hörte sie die Worte des Bruders, den sie bisher geliebt und geachtet hatte, plötzlich mit Widerwillen, als er jenem entgegen rief: »Sie wollen die Revolution?«

»Ja«, hörte sie Wagner freudig bekennen, »ich habe den Muth gewonnen, die Revolution zu wollen, – die Empörung der Wahrheit gegen die Lüge, den Triumph der Vernunft!«

»Revolution, das nennen Sie den Triumph der Vernunft?« erwiderte Hermann mit dem höhnischen Tone, der ihm eigen war, wenn ein Widerspruch ihm lästig wurde. »Wer soll denn die Revolution machen? Das Volk? Sehen Sie sich doch das Volk an, das unten auf den Straßen herumläuft. Ein paar Ehrenmänner, viel Schurken und fast lauter Lumpe! Und diese viehische Masse wollen Sie entfesseln? Wie schwer ist es jetzt schon, bei der überall unterwühlten Moralität durch den Zwang des Gesetzes die Gesellschaft zusammenzuhalten; und Sie wollen auch diese Bande noch lockern? Fürchten Sie nicht, daß Staat und Sittlichkeit einer ganzen Welt bei Ihrem philosophischen Experimente zu Grunde gehen?«

»Nein, wahrlich, – was wäre da zu fürchten! Ist es nicht besser, daß an der Wahrheit Staat, Sitte, Wohlstand zu Grunde gehen, als daß an ihnen die Wahrheit zu Schanden würde? Der Staat, die Sittlichkeit, die durch das Gesetz erzwungen werden, sie sollen untergehen. Hinweg mit der Lüge der Gesellschaft! Alle zwingenden Fesseln sollen schwinden. Die Gesetzlosigkeit sei das Gesetz; nur durch die Freiheit des Geistes, durch die Freiheit des Herzens sei die neue Gesellschaft zusammengehalten!«

»Ah – so? Freiheit des Herzens? Freie Liebe, freies Lieben? Gehören Sie auch zu denen, die die Frivolität mit dem Princip maskiren, die Frechheit – Freiheit nennen?« so sagt Hermann mit plötzlich verändertem, hämischem Tone, und Constanze wurde bleich vor Schreck; sie ahnte den Zusammenhang in den Gedanken ihres Bruders: er glaubte Wagner im Einverständniß mit ihr und hielt ihn für den Verführer. Zitternd, in gesteigerter Angst mußte sie weiter hören, wie ihr Bruder heftig auffuhr: »Hören Sie, mein Herr, dann sind wir geschiedene Leute. Spotten Sie immerhin über den Mann vom gesetzlichen Fortschritt: hier stehe ich auf meinem Grund und Boden und ihn will ich ewig wahren. Wer mir die Ehre meines Hauses, mein wohlerworbenes Eigenthum antastet –«

»Eigenthum?« unterbrach ihn Wagner's Stimme. »So wäre es doch wahr?«

»Wol, was Ihnen der Lump von Communist gesagt hat, daß ich ein Geldmensch, ein Bourgeois bin? Ja wohl, ich bin es – in meinem Sinne. Nehmen Sie aber es im Sinne dieses Corrigenden, – nun denn, so bitte ich, daß Sie meine Schwelle nicht wieder betreten. Ein Hermann wird es mit keinem Lumpen halten!«

Eine Thür wurde bei diesen Worten zugeschlagen, Hermann war zürnend von Wagner geschieden; Constanze sank vor Schreck in dem Fauteuil zusammen, an den sie sich gelehnt hatte. Da hörte sie Wagner's Schritte, sie hörte ihn die Thüre öffnen und gehen, – um nie wiederzukommen. Sie sprang auf und eilte in den Corridor, ihm entgegen. In diesem entscheidenden Augenblicke, ohne Scheu vor dem fremden Manne, ohne Furcht, überrascht zu werden, ergriff sie ihn bei der Hand, um ihn zurückzuhalten. »Sie dürfen so nicht gehen; es ist ein unglückseliges Misverständniß. Ihr dürft euch nicht trennen!«

So sprach sie zu ihm, er aber hörte sie nicht und sah sie nicht. Der Fanatiker verachtete sie wieder, die an ihren bürgerlichen Verhältnissen behaglich haften blieb. »O ihr Zweifler, Apostaten an der Religion des Geistes! Sind das die Menschen? Um des Himmels willen, wo finde ich denn noch einen Menschen?« rief er aus, indem er an diesem Mädchen vorüberging, – er ging zum Schneider Krist.

Constanze weinte nicht, als sie verlassen, hoffnungslos in ihr Zimmer trat. Es lag eine männliche Entschlossenheit in ihren Zügen; sie war eine Gläubige, eine Anhängerin der Religion dieses Apostels, und der Zornesmuth ihrer Augen zeigte, daß sie einer That für ihren Glauben fähig war, – es lag etwas von der Judith in ihrem Blicke, das sie noch beweisen wollte!

*

Krist schwur Wagnern bei Gott und Allem, was ihm heilig sei, die Entdeckung Hermann's sei eine falsche, eine verleumderische; er habe nie ein Verbrechen begangen, sein Bruder aber habe auf dem Zuchthause gesessen und diese Schande über die Familie, diesen Fluch über ihn selbst gebracht.

Als der junge Geistliche ihn aber allein gelassen hatte, saß er in finsteres Brüten versunken da. Dann sprang er auf mit einem wahnsinnigen Blicke, schlug mit den Händen in die Luft und stöhnte: »Gespenst, das du immer wieder vor mir aufsteigst zwischen mich und meine Ehre! So kann ich nicht mehr restaurirt werden? Wo ich mich anklammern will an die Gesellschaft, da starrt meine Schande mir entgegen. Die Welt oder ich! wir beide können nicht zusammen bestehn. Die Welt oder ich? Ich, der ich aufgegeben bin, der ich nichts zu verlieren habe, ich – das Nichts, wie wär's, wenn ich den Kampf auf Tod und Leben aufnähme: die Welt oder ich!«

Von neuem versank er in sein Brüten. Er erwachte nur daraus, um zur Schnapsflasche zu greifen, und in wenigen Zügen sie zu leeren. Dann warf er sich auf sein Bette und stöhnte: »ich ruinirter Mann –! Vergessen kann ich Alles, mich selbst vergessen; aber nicht vergessen machen, die Andern nicht vergessen lehren!«

*

Constanze trat vor ihren Bruder; sie eröffnete ihm, wie sehr er Wagner Unrecht gethan, daß er ihm eine Absicht auf sie selbst zutraute, und bat ihn, seine Uebereilung gegen denselben gut zu machen. Sie hatte mehrere Tage gebraucht, um ihren Stolz zu dieser Bitte vor dem Bruder zu beugen, und Hermann, der den aufrichtigen Wunsch zu einer Versöhnung nicht hatte, konnte seine Gesinnung hinter dem Bedauern verbergen, daß es dazu bereits zu spät war.

Das Wort »Communist«, das Wagner in jener Predigt ausgesprochen, war wie ein chemisches Scheidungsmittel in die Elemente der liberalen Gesellschaft gefallen. Augenblicklich sonderten sich zwei Lager: hier die Reichen, dort die Armen.

Ein offenes Zeugniß dieses Gegensatzes gab die neue Vorstandswahl der Gemeinde, die in diese Tage fiel. Krist wurde nicht gewählt, nur Hermann und dessen Freunde. Wagner mußte aus diesem Ausfalle lernen, daß nicht nur viele, sondern die meisten seine Meinung nicht theilten. Ein anderer Vorfall bewies ihm erschreckend, wie schroff die Trennung war.

Er war schon mehr als ein mal bei Bekannten vorübergegangen, ohne daß sie seinen Gruß erwiderten. Er konnte das nur für Zufälligkeit ansehen, denn er vermochte nicht zu begreifen, wie man den großen Kampf der Principien auf kleinliche Beleidigungen der Person übertragen könne. Er trug deshalb auch kein Bedenken, als er im Foyer des Theaters Hermann mit dem corpulenten Probst zusammenstehen sah, an sie heranzutreten, zumal da sie mit einem Medicinalrath sprachen, der sich früher ihm gegenüber im Schimpfen auf Pfaffen und Wunderglaube als entschiedener Atheist kund gegeben, und von dem er nicht anders meinen konnte, als daß dieser wenigstens seine Consequenz noch anerkennen müsse.

Als er diese Herren begrüßt hatte, brachen sie ihr bisheriges Gespräch ab, und der Medicinalrath begann: »Hören Sie, Commerzienrath, Sie haben mir 'ne große Freude gemacht mit dem Zeitungsblatte. Ich meine das, wo das aus der Schweiz drin steht. Nu wissen wir doch, was sie wollen; alles Geld, und – he, he – alles Frauensleute. Und das Beste ist, daß sie 's selber sagen, sie selber sagen's frei heraus!«

»Und wir werden denselben Schwindel auch bei uns bekommen«, fuhr der Probst fort. »Diese Schreier müssen ja Alles nachmachen. Passen Sie auf, Medicinalrath, weil sie 's in der Schweiz und in Paris so gemacht haben, müssen sie's hier auch anfangen.«

Wagner war begierig, was Hermann davon denken möge, vor dem er immer noch einige Hochachtung hegte. Hermann sagte: »Nun Gott sei Dank, noch haben wir ein Gesetz, das uns davor schützt, und eine Policei, die es ausführt!«

Die Liberalen, die über Unterdrückung ihrer Ideen durch die brutale Gewalt klagten, wollten dieselbe Brutalität anwenden gegen Ideen, die von den ihren abwichen! Krist hatte Recht bekommen: die Bourgeoisie will nur ihre eigenen Interessen, sie hat keinen Gedanken an das Volk, keine Aufopferungsfähigkeit für das Allgemeine!

Wagner warf sich dem Schneider in die Arme und sie beide schlossen einen Bund, für die leibliche und geistige Erlösung des Menschengeschlechtes bis zur letzten Consequenz zu wirken.

Wenige Wochen darauf, nach Ende Januar, schieden Wagner, Krist, Gottlieb Winkler und ihre Freunde aus der deutsch-katholischen Gemeinde aus und stifteten die »freie Gemeinde.«

Als Wagner die erste Versammlung derselben eröffnen sollte, fand er kleine Handwerker und Kaufleute, heruntergekommene Candidaten und Literaten, mit einem Worte Proletarier, die zur Gründung der neuen Gemeinde zusammengekommen waren. Wagner fühlte sich glücklich, als ihr Führer unter sie zu treten; was er damals beim Anblick Constanze's an sich vermißt hatte, das hatte er jetzt gelernt: die Menschen lieben. Diese Leute mit dem derben Händedruck, mit dem zutraulichen, ehrlichen Blicke, die von ihm Hebung ihrer Lage erwarteten, und mit ihm für seine Principien einstehen wollten, hatte er lieben gelernt, aber zugleich hatte er hassen gelernt, hassen den Besitz, die träge Behaglichkeit, die der Idee sich entgegenstämmt.

»Allianz von Kraft und Intelligenz! Feindschaft dem Besitze!« das waren die Gedanken mit denen er die Rednerbühne betrat, und damit fühlte er, hatte er einen neuen Schritt gethan: er hatte den Boden der Wirklichkeit betreten. Es war nicht mehr eine allgemeine Harmonie, in die sein Geist mit der ganzen Welt einzuklingen meinte; die halbe Welt schien ihm von dem Zuge des Geistes abgefallen und in greller Dissonanz dagegen anzustürmen. Sie wieder in die eine Harmonie gewaltsam emporzuziehen, das dünkte ihm seine Aufgabe; er wußte, welcher Titanenkampf das sei, Himmel und Erde, Gedanke und Wirklichkeit zusammenzubringen; aber er scheute keinen Kampf; er fühlte sich stark im Bewußtsein, der Wahrheit zu folgen, im Hinblick auf die Kräfte, die sich ihm zur Seite stellten. Und mochte der Kampf ihn immerhin zu Boden werfen, mochte die ganze Welt erdrückend auf ihm lasten, – ihm konnte sie nichts anhaben, er hatte immer noch ein unnahbares Asyl, wo die Harmonie unzerstörbarer Glückseligkeit ihn umfing, die Nähe der verwandten, theuren Seele.

*


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