Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Deine Mutter ist todt. Der Doctor sagt, sie hat die Auszehrung gehabt; die Leute sprechen, sie sei am gebrochenen Herzen gestorben. Dein Name war ihr letztes Wort, Ihr sehnlichster Wunsch war immer, dich zu sehen. Je näher sie dem Tode kam, um so sicherer glaubte sie, es würde besser mit ihr. Oft nach deinem letzten, langen Briefe sagte sie, ich habe ihm so viel zu sagen und muß ihm einen langen, langen Brief schreiben. Aber wenn ich ihr Papier und Feder gab, war sie immer so angegriffen und sagte: es wird mir bald wohler werden, ich will noch ein paar Tage mich stärken, dann werde ich ihm besser schreiben. Drei Tage vor ihrem Tode weckte sie mich Nachts, als wir schon eine Weile geschlafen hatten. Ich fand sie im Bette aufrecht sitzend, sehr aufgeregt und im Fieber. Sie küßte mich und sagte zu mir: liebe Anna, ich glaube doch, du wirst mich nicht mehr lange behalten. Ach! und mein Sohn. Was habe ich ihm noch zu sagen, aber ich fühle, daß ich ihn auf dieser Erde nicht mehr wiedersehe. Schreibe du ihm, sagte sie zu mir, schreibe ihm, wenn ich auch gestorben bin, daß wir uns noch sehen müssen, daß es mit diesem Leben nicht zu Ende sein kann. Jetzt erst, wo wir uns trennen sollen für diese Zeitlichkeit, hat er es mir offenbart, wie wir eines Geistes waren, und jetzt erst möchte ich ihm offenbaren, wie wir uns verstehen und lieben mußten. Ach, im Leben kommt ja die Seele nie zu voller Klarheit und kann sich nie in voller Reinheit zu erkennen geben. Tausend Schranken und tausend Störungen hindern sie daran, und nun, wo alle diese Hindernisse fallen, wo die Seele die irdischen Banden abstreift, muß nicht jetzt erst das Leben beginnen, wo der Geist frei ist, wo wir uns verstehen und lieben können? O, wir müssen uns ja noch finden! Können Zeit und Raum, ein paar Tagereisen und todte Mauern die Geister von einander reißen, die sich erkennen und versöhnen wollen? Schreib ihm das; er wird es auch noch fühlen, daß wir nicht sterblich sind. Das muß man lernen; die Liebe lehrt es uns, und er hat noch nicht geliebt! Er macht noch eine schwere Schule durch, aber er wird es lernen! – Es schlug gerade Mitternacht; sie verfiel in Phantasien und hat seitdem nur noch wenige lichte Augenblicke gehabt. Noch einmal rief sie aus: Oben, oben, da ist die Erfüllung, das Heil und das wahre Leben! Dann schlief sie ein und verschied.
Lieber Ernst, ich habe mir den Auftrag deiner Mutter Wort für Wort gemerkt und habe es gewiß richtig ausgerichtet. Tröste dich mit Gott und mit der Hoffnung auf das Wiedersehen.
Deine dich liebende Cousine
Anna.«
Das zweite Jahr nach dem Krakauer Aufstande ging zu Ende, als Ernst Wagner diesen Brief aus den Händen des Gefangeneninspectors erhielt.
Zwanzig Jahre sollte er die Einsamkeit ertragen und wie war er schon unter diesen zweien zusammengebrochen!
Der Denker kannte kein Interesse, keinen Zweck des Lebens, als einzig seine abstracten Gedanken. Erst hatten seine Gedanken ihn um die Welt betrogen; jetzt betrog ihn die Welt um seine Gedanken. Der Glaube an die Idee war in ihm zusammengebrochen; er war an seinem Denken, an sich selbst irre geworden. Er, der sich ganz dem absoluten Zweck außer sich geschenkt hatte, fand nun in sich keine Spur von frischer Kraft, von heiterem Gefühl des Lebens. Sobald er in sein individuelles Dasein zurücksank, war er das Nichts.
Ueber ihm in der Zelle saß ein junger Lieutenant, der bei einem politischen Disput im Weinhause einem Bürger den Degen durch den Leib gerannt hatte. Was war das für ein lustiges Blut! Von früh bis spät pfiff und sang er, dann tanzte er, dann voltigirte er über die Meubel, und warf diese durcheinander, daß Ernst durch die feste Stubendecke hindurch es dröhnen hörte. Wenn sie zusammen durch den Festungshof spazieren geführt wurden, unterhielt er sich mit der Wache, brachte sie durch seine Scherze aus ihrem amtlichen Ernste und war selbst keinen Augenblick niedergeschlagen oder gelangweilt.
Der Theologe saß in stillen Wahnsinn versunken auf seiner Zelle. Die Bücher widerten ihn an. Um zu schreiben, vermochte er aus dem wüsten Drängen seiner Gefühle keinen klaren Gedanken zu erfassen. Ja, zu denken wagte er nicht mehr; seine Gedanken konnten ja nur Zorn und Wuth in ihm aufregen über die Menschen, die dem Manne der Wahrheit ein solches Schicksal bereiteten oder es duldeten; und diesen Zorn und diese Wuth, wenn er sie zwanzig Jahre lang in seinem Herzen verschloß, mußten sie nicht sein Leben verzehren, oder ihn zum Wahnsinn treiben? Ohne Lust und ohne Interesse brütete er sein Dasein dahin, – ein vegetirender Leichnam.
Nur ein Gefühl regte sich in ihm noch und verknüpfte ihn mit dem Leben, – die Liebe, die Liebe zu seiner Mutter und zu Delphine.
Er fühlte es jetzt, wie erzwungen die Harmonie war, in der er sich lossagte von der Liebe zur Mutter, um der Idee zu folgen. Jetzt, wo die Fesseln abfielen, die sein Herz gebunden, jetzt fühlte er erst, wie schwer sie gedrückt hatten. Wie wohlthuend war es ihm, an die Frau zu denken, die ihn liebte, wenn er auch nicht vergessen konnte, daß er ihr nur Schmerz machte, – wohlthuend war es schon, zu wissen, daß es ein Herz gab, das um ihn Schmerz empfinden konnte! So hatte er sich gedrängt gefühlt, das Band der Liebe, das er zerrissen, mit ihr wieder anzuknüpfen. Er bat sie um Verzeihung für die Betrübniß, die er ihr gemacht; er schilderte in seinen Briefen, wie ein politisches Verbrechen nichts Entehrendes sei, wie es unter jenen Verhältnissen gerade den Mann und den Charakter bezeichne.
Zwei mal antwortete ihm die Mutter mit Milde, aber zurückhaltend. Er drang mehr in sie, dem Sohne, der Alles verloren, nicht auch ihr Gemüth zu entziehen und ihm ihre Verzeihung zu schicken. Da erhielt er einen Brief, worin die Mutter ihm ihr Gemüth ganz enthüllte. Aber wie erschrak er: sie war fromm, pietistisch fromm geworden! Sie habe nie mit ihm gezürnt, schrieb sie, allein was könne ihm ihre Verzeihung und Versöhnung helfen; er bedürfe ganz anderer Besserung und Tröstung, – des Glaubens. Ohne Gott, sagte sie, ist ja doch kein Halt und ohne Christum kein Heil im Leben.
Dieser Gedanke war für den Atheisten furchtbar, daß die Seele, die er sich ganz gleichartig geglaubt hatte, von ihm abfallen konnte. Er hatte gehofft, die Wahrheit, für die er im Kerker schmachtete, werde indeß draußen um sich greifen und das Zeitalter des modernen Bewußtseins mehr und mehr heranreifen; und nun muß er eine edle, wahrheitliebende Seele so in den Aberglauben zurück sinken sehen. Jetzt galt es, die Macht der Wahrheit prüfen und seine Mutter ihr erhalten. Er schrieb ihr einen Brief, in dem er seine ganze Lebensanschauung und das innerste Wesen seines Geistes ihr entfaltete. Was viele, und zwar die bedeutendsten sowol als die unbedeutendsten Menschen nicht kennen, darauf war unser Schwärmer stolz, jenes eigenste Innere des Ich, das sich im Leben nicht geltend macht und wohin die Macht der Welt nicht dringt, das sich nur Seele gegen Seele offenbaren kann. Dieses sein ursprünglichstes Wesen, das er bisher nur Delphine mitgetheilt hatte, entdeckte er seiner Mutter. Er entdeckte es ihr jetzt, daß es ihre Sehnsucht und ihre Hoffnung auf Glückseligkeit gewesen sei, die er habe erfüllen wollen.
»O meine Mutter«, schrieb er, »die sanfte Wehmuth deiner Blicke war es, die mich hinaustrieb in den Kampf der Welt, um dir zu Ehren etwas Großes zu thun, um dir und mir eine freie geistbelebende Existenz zu erschaffen. Und nun ich besiegt bin von der Feigheit und der Niederträchtigkeit, nun soll ich auch dir fremd sein, meine Mutter? die That, die dein Geist geboren, willst du nicht erkennen, sondern verfluchen? O, und nicht nur mich gibst du auf, dich selber hast du verloren. Du willst die Foderung deines eigensten Wesens von dir werfen, weil du nicht die Kraft hast, sie von der Wahrheit erfüllt zu verlangen, und nicht den Muth, der Verzweiflung entgegenzusehen? Du willst nichts mehr wissen von der Wahrheit in dir, da du zu schwach bist, sie zu ertragen, und wirfst dich der Lüge und Selbsttäuschung in die Arme? Zürne mir nicht, theure Mutter, daß ich so zu dir rede; ich kann hier nicht mit halben Worten das Halbe sagen, wo es sich um mein ganzes Sein handelt. Sei noch einmal stark und frei und laß mich Geist gegen Geist mit dir reden, die volle Wahrheit! Sein oder Nichtsein! Mensch, ganz und allein Mensch oder Nichts! Der Mensch ist sich das Maß seiner selbst und das Maß der ganzen Welt. Bist du wahr und stark, so gib dich den Bedürfnissen und Foderungen deines Geistes hin, und will die Welt sie nicht erfüllen, so erzwinge sie von ihr. Die Wahrheit über Alles! Immerhin verzweifeln, und wär's bis zum Selbstmord, nur nicht sich selbst betrügen! An Gott glauben, um am Menschen zu verzweifeln, das ist der Abfall von der Tugend, die Sünde gegen sich selbst. Lieber untergehen für die Wahrheit, als bestehen durch die Lüge!«
Viele Wochen darauf erhielt er von der Cousine die Nachricht, daß die Mutter an einem Nervenfieber schwer darniederliege. Sie genas von demselben; aber sie erholte sich nicht mehr so weit, daß sie an den Sohn zu schreiben vermochte. Zehn Monate kränkelte sie noch in beständiger Hoffnung auf Besserung, endlich mit dem Nahen des Frühjahrs rückte ihr Ende heran und sie trug ihrer treuen Pflegerin die Antwort an den Sohn auf, die er mit der Anzeige ihres Todes erhielt. »Die Leute sagen, sie sei am gebrochenen Herzen gestorben«, so hatte Aennchen ihm die Ursache ihres Todes sanft und doch merklich genug bezeichnet. Der Kampf des Glaubens gegen die Macht des Gedankens hatte ihren Leib mit ihrer Seele geknickt.
»Lieber untergehen für die Wahrheit, als bestehen durch die Lüge«, dieser Gedanke sollte den verwaisten Sohn über seinen Schmerz erheben, aber er stand nur wie Hohn vor seiner Seele.
Vierundzwanzig Stunden – welche Ewigkeit und welch kleiner Theil seiner Gefangenschaft! – hatte er in dumpfem Dahinbrüten vollbracht. Da erhielt er einen neuen Brief, den er selbst vor acht Tagen abgeschickt hatte, von der Post zurück. Der Brief war an Delphine.
»Du und meine Mutter«, so hieß es darin, »ihr seid mein Alles, mein Letztes, das mir das Leben stützt. Meine Mutter ist mir entfremdet. Und du –? um meiner Seele willen, warum läßt du mich nichts von dir wissen? Seit sechs Monaten weiß ich nicht, wo du bist; endlich hat es mir ein Zeitungsblatt verrathen, wo mein Brief dich findet. Delphine, meine Delphine, ist es denn möglich, daß du mich vergißt? Wenn ich es nur denken könnte, dann wollte ich es tragen, aber das kann ich nicht denken; das will nicht hinein in meinen Verstand. O! jener Blick, der mich an unserem letzten Abende zu deinen Füßen traf, der hat all meine Gedanken an dich gezaubert, meines eigenen Haltes mich beraubt, all meine eigenen Lebenskräfte mir ausgezehrt. Immer steht er mir vor der Seele, bald so groß und streng, so zauberhaft schrecklich, als wollte er mich vernichten, daß ich die Hände vor die Augen schlage; aber immer sehe ich ihn doch, denn er lebt in meinen Sinnen selbst. Wenn ich dann aber sein und dein Angedenken verzweifelt aus der Seele reißen möchte, dann ist dieser Blick mit einem male so sanft und flehend, so bezaubernd liebreizend, daß ich niedersinke auf den Boden, um deine Knie zu umfassen und dich zu bitten um mein Dasein. Wenn ich dann denke, daß du, die letzte Stütze meines zusammenknickenden Lebens, von mir weichen könntest, dann muß ich mich platt auf die Erde werfen und wünschen, der Grabhügel verhinderte mich, je wieder aufzustehen. Rette mich! Rette mich! Gib mir nur ein Zeichen von dir; sage mir nur, daß ich leben soll! sonst vermag ich's nicht mehr, sonst hast du mir das Herz gebrochen.«
Diesen Brief erhielt der Verfasser zurück, unerbrochen, mit der Bemerkung auf dem Couvert: »Von Adressatin nicht angenommen. Retour an Herrn Ernst Wagner in … auf dem Donjon.«
Es war also doch möglich, was er nicht hatte denken können. Er mußte mehr lernen, als er denken konnte! Als er den Brief jetzt las, da fühlte er, was es hieß: »die Mutter ist am gebrochenen Herzen gestorben.«
Als er so in wüstem Schmerze vor sich hin stierte, fiel plötzlich unter seinem Fenster ein Schuß. Bei seinem krankhaft nervösen Zustande fuhr er erschreckt zusammen. Kurz darauf fiel ein zweiter Schuß, ein dritter und so fort. Die Officiere der Besatzung hielten im Festungsgraben eine Uebung im Pistolenschießen. Der einsame Gefangene wurde der ersten unwillkürlichen Erschütterung seiner Nerven bald Herr; der Druck jedes neuen Schusses traf ihn erwartet. Als nach einer guten Stunde das Schießen aufhörte, wurde es ihm bald wie ein Mangel; die Aufregung seiner gereizten Nerven harrte fortwährend auf den niederschlagenden Druck eines Knalls. Er suchte sich an die gleichmäßige Stille zu gewöhnen, aber die Empfindung einer dauernden Unbefriedigtheit und Erwartung blieb in ihm haften. In seiner Einsamkeit, in der er an nichts zu denken wagte, weil aus jedem Gedanken ihn nur vernichtende Verzweiflung angähnte, gab es nichts, was seine Empfindung von dieser Richtung hätte ablenken können; es bemächtigte sich seiner instinctmäßig eine leidenschaftliche Sehnsucht, ein Pistol abzudrücken; sein krankes Gemüth lechzte danach, durch den Knall der Kugel einen Lauf zu geben; – er wußte selbst nicht gegen was, gegen sich selbst oder seine Verzweiflung, oder eine feindliche Macht außer ihm, die ihn dahineingestürzt. Ein Schuß erschien ihm als die größte Wollust, die ihn von seiner Verzweiflung und seiner zehrenden Leidenschaft erlösen würde. Des Nachts weckte ihn ein geträumter Schuß und steigerte sein Verlangen nach einem wirklichen; des Tages streckte er die Arme aus, als wollte er sich zum Schuße auslegen. Wenn die Uebungen unten wieder begannen, lauschte der Denker mit thierischer Begierde und konnte nicht satt werden an der Befriedigung des Knalls. Hörten die Officiere auf, so waren seine Nerven nur um so mehr gereizt; die unerklärliche Sucht steigerte sich nahe an Wahnsinn. Wenn der Unglückliche dann aus seinem Brüten erwachte und über sich selbst erschrak, brach er in lautes Hohnlachen über seine Unvernunft aus. Kam ihm dann der Gedanke an Verrücktheit ein, so überließ er sich mit Absicht ganz der sinnlosen Richtung seines Empfindens; denn Verstand und Vernunft zu verlieren und, frei von dem Zwange der Wirklichkeit und dem Bewußtsein der Verantwortlichkeit, ganz seinen Einbildungen und Wünschen sich hingeben zu können – gab es für ihn eine vollkommenere Erlösung von seinen Qualen?
Aus seinen Träumen störte ihn das Eintreten des Unterofficiers, der ihn zu dem alltäglichen Spaziergange um den Festungshof auffoderte. Die zwei andern Staatsgefangenen warteten schon auf dem Gange. Matt und träge folgte er, wie gewöhnlich der letzte von ihnen. Wie die andern vor ihm eben um die Ecke des Ganges gebogen sind, tritt ein Soldat – er war an der Uniform als Unterofficier zu erkennen – um dieselbe hervor; statt aber an Wagner vorbeizugehen, faßte er ihn, da er sich unbemerkt sieht, am Arme und flüsterte ihm ins Ohr: »Heute Nacht – bleiben Sie wach – seien Sie reisefertig – fort!« Mehr konnte er vor Angst nicht reden; man hörte Tritte; entsetzt, ging er weiter. Ernst sammelte sich schnell; die Begegnung hatte kaum Secunden gedauert und, ohne daß es auffiel, kam er seinen Leidensgefährten nach.
Er suchte das Räthsel zu erklären, aber er vermochte keine Lösung zu finden. Daß die Sache ernstlich sei, hatte er dem Manne an seiner beklemmenden Angst angesehen. Dabei kam er ihm in Miene und Stimme so altbekannt vor, aber er wußte nicht, wo er diese hinrechnen sollte. »Wär' doch die Nacht erst da!« wünschte er mit Sehnsucht, indem er sich den mannigfachsten, abenteuerlichsten Combinationen hingab und endlich gar die Meinung gewann, eine allgemeine, selbst unter der Besatzung ausbrechende Verschwörung werde ihm und dem Vaterlande diese Nacht die Freiheit schenken.
Die Nacht kam endlich heran. Es war eine stockfinstere, windige Nacht, so recht geschaffen, um dem Ausbruch eines Complotts zu dienen: die Dunkelheit verhüllte sein Treiben dem Auge und der Sturm übertönte sein Geräusch. Wagner saß harrend in seiner Zelle; die Lampe hatte er bis auf ein unscheinbares Flämmchen gedunkelt. Gespannt lauschte er auf jedes Geräusch, aber der ersehnte Lärm der Empörung wollte sich aus dem Getöse des Windes nicht entwickeln. Aus seinem schmalen, vergitterten Fenster hinaus sah er nichts, als den dunkeln Himmel über dem noch dunklern Festungswalle, von dem der Schnee bereits abgethaut war. Die Staatsgefangenen mußten sonst die Zimmer bewohnen, deren Fenster auf den Hof hinausgingen; Wagnern war auf Verlangen des Arztes, da durch den grellen Schein der gegenüber stehenden, geweißten Mauer seine Augen gelitten hatten, eine andere Zelle eingeräumt worden, von der aus er über den tiefen, gemauerten Ringgraben des Donjons auf eine grüne Schanze blickte. Er hatte keine Hoffnung, daß er von dieser Seite das Licht der Freiheit würde heranbrechen sehen; denn die großartige Meuterei, auf die er harrte, hätte im Innern der Festung selbst ausbrechen müssen.
Endlich, kurz vor Mitternacht, ließ sich vor seinem Fenster ein leises Geräusch vernehmen. Er meinte sich getäuscht und nur den vorüberstreichenden Wind gehört zu haben; aber als er von neuem horchte, überzeugte er sich, daß nicht die leichte Luft, sondern ein fester Gegenstand sich an der Mauer vor dem Fenster scheuerte. Er öffnete leise und, siehe da! zwischen sich und dem Himmel sah er durch den matten Schimmer der Nacht eine schwarze Linie senkrecht hinabgehen. Die Linie schwankte hin und her, sie schlug oben an das Fenstersims; er hatte sich nicht getäuscht; es ging ein Seil, das über ihm befestigt sein mußte, an ihm vorüber. Als er genau horchte, bemerkte er unten ein Geräusch, wie wenn etwas an der Mauer streift; das Geräusch kam allmählig näher; es kletterte Jemand von unten an dem Seile hinauf. Vor Angst und Hoffnung den Athem beklemmt, lauschte Ernst. Der Kletternde war bereits nahe gekommen, schon hörte er ihn vor Anstrengung stöhnen. Es war eine gewaltige Höhe; wird er auch das Fenster noch erreichen können? Er konnte nicht hinaussehen, denn die Eisenstäbe hinderten ihn, über die breite Brüstung der Mauer hinweg zu blicken. Jetzt muß er da sein! Nein, noch einen Ruck am Seile. Aber jetzt! nein, wieder und wieder noch einen. Endlich – eine Faust reicht nach der Nische des Fensters hinauf, eine andere tastet nach dem Eisenstabe und eine Gestalt zieht sich nach. Gierig starrt Ernst in die Nacht; aber die Dunkelheit läßt ihn nichts erkennen. Ein schwarzer Kopf lehnt sich von außen gegen die Gitterstäbe. Voll Entsetzen und Erwartung beugt der Gefangene sich nahe an ihn heran; zwei stechende Augen sieht er im Dunkel grünlich funkeln, wie die einer Katze. Ein Thier oder ein Mensch? »Wer bist du?« frug er zitternd.
»Der Maulwurf wühlt«, ächzte eine bekannte, heisere Stimme. »Ich bin's, ich, Bruder Prediger!«
»Krist?«
»Ja, Krist! Aus dem Zuchthause, um dich zu holen!« Der unerwartete Gast schwang sich an der Eisenstange hinauf auf das Fenstersims. »Hilf mir« sagte er dem Gefangenen und gab ihm aus der Brusttasche ein Instrument. Mit zwei Uhrfedersägen wurden zwei Gitterstangen durchsägt. Was hätten sie Alles sich erfragen und erzählen mögen! Aber stumm sägten sie neben einander, nur dann und wann ein Wort über ihre Arbeit wechselnd. In einer halben Stunde waren sie fertig; Krist bewies, daß er Studien in dem Geschäfte gemacht hatte.
»Nun komm mir nach«, sagte der Meister, »auf Tod und Leben!«
Ernst warf einen Mantel zum Fenster hinab, und dann aus dem Fenster hinaus wagte er sich zwischen Himmel und Erde. Die Gefahr gab ihm Kraft und so ungewohnt ihm das Klettern war, erreichte er doch glücklich den Boden des Festungsgrabens.
Krist nach ging es nun an der Mauer entlang einen Theil um den Ringgraben herum. Dort war von Maurern ein Gerüst aufgeschlagen, um mit der wiederbeginnenden Bauzeit die schadhafte Außenwand auszubessern. An den Leitern und Balken kletterten sie hinauf und erreichten glücklich den Rand des Grabens. Dann noch über ein paar Schanzen hinweg gekrochen und – sie waren entkommen!
Querfeldein liefen sie vorwärts. Krist zeigte den Weg, Ernst folgte. Nach einer Weile erreichten sie eine Chaussee. Diese verfolgten sie die Nacht hindurch. Als es anfing Morgen zu werden, kamen sie in ein Städtchen.
»Hier nehmen wir Courierpferde«, sagte der Führer.
»Hast du Geld?« frug der Entführte.
»Genug bis in die neue Welt!«
»Woher?«
»Von uns«, sagte Krist kurz, und schellte an einem Hause, das Ernst als ein Posthaus erkannte.
Während die schläfrigen Knechte den Wagen besorgten, fragte Ernst seinen Führer: »Wo gehen wir hin?«
»Wohin du willst! In alle Welt! Am liebsten aus der Welt!«
»So gehen wir nach ***burg«, entschied sich Wagner.
»Nach ***burg? Du denkst dort deine Freundin zu finden?« sagte der Schneider ironisch.
»Freundin?« antwortete Ernst mit einem Ausdruck von Wuth, daß jener über dieses erste Zeichen von Ernst's Gemüthsstimmung erschrak. »Hast du Waffen bei dir?« frug er nach einer Pause.
»Zwei geladene Pistolen«, raunte Krist ihm ins Ohr.
»Gut! Gut!«
Sie stiegen in den Postwagen und fuhren fliegend davon. Jetzt waren sie gerettet.
»Zeige mir deine Pistolen«, sagte Ernst, als sie aus dem Städtchen hinaus waren.
Krist holte die eine hervor, denn so sonderbar ihm das Verlangen auch dünkte, war die Waffe unschädlich, da das Kupferhütchen nicht aufgesetzt war. »Du kannst sie ja jetzt nicht sehen!«
»Ich will nur wiegen, ob sie schwer sind.« Ernst behielt die Waffe unter dem Mantel und streichelte sie wie kindisch in wilder Wonne. Er fragte mit keinem Worte, keinem Blicke nach Aufklärung über die That, die der verachtete Verbrecher an ihm ausgeübt.
Krist hing indeß mit seinen Blicken fortwährend an dem schweigenden Genossen. Das Unheimliche seiner eignen Züge hatte das finstere Gepräge des Verbrechens gewonnen; doch lag in seinen Augen ein Zug von tiefer Reue und innigster Theilnahme an dem Geretteten.
Der Schneider war aus dem Zuchthause entsprungen, wohin der gestörte Einbruch in die Regierungscasse ihn gebracht hatte. Seine gewonnene Freiheit benutzte er zu nichts Anderem, als bei der Partei Geld zu verschaffen, zur Befreiung Wagner's und seiner Flucht nach Amerika. Der Umstand, daß sein Bruder an seinem ersten Diebstahl, der ihn zum Corrigenden machte, Theil genommen hatte, aber unentdeckt geblieben und im Militairdienste auf dem Donjon über Wagner's Zelle wohnte, kam ihm bei der Entführung desselben zu statten. Durch die Drohung, seine Theilnahme an dem Verbrechen zu verrathen, zwang er den Bruder, die Hand zu der Flucht Wagner's zu bieten.
Ernst merkte die Reue und Treue seines Begleiters sehr wohl und sein krankes Herz hatte reichen Dank dafür; aber er sprach kein Wort davon. Fast die ganze Reise saß er stumm; nur dann und wann, wenn es einen Berg hinauf langsamer ging, fluchte er über schlechten Weg und schlechte Pferde, oder er frug, wie weit sie schon wären. Es konnte nicht schnell genug gehen. Endlich wechselten sie die Postchaise mit dem Coupé des Dampfwagens. Das war ein Jagen, wie es ihm behagte, ihm, der doppelte Eile hatte im Entfliehen und Verfolgen. Welche Wollust für ihn, der Jahre lang seine Sehnsucht in die enge Zelle gebannt sah, jetzt so reißend schnell dahinzuwettern, wie die Rache auf ihr Ziel sich stürzen möchte! Welch Gefühl der Freiheit, rücksichtslos und schonungslos dem Zuge einer gewaltigen Leidenschaft ganz sich hinzugeben!
Die Eisenbahnen sind die Adern, in denen das Leben der Geschichte rollt, sie theilen durch alle Glieder der Menschheit die geistigen wie die materiellen Kräfte mit, gleichen aus die gemeinsamen Triebe des Schaffens, und wechseln Mangel und Fülle gegenseitig aus. Hier führen sie eine große Leidenschaft von Osten her, die ein Ziel ihrer Kraft sucht, und zur selben Stunde bringen sie von Westen das Erwachen des erlösenden Gedankens, das großer Leidenschaften bedarf!
Es war Nacht, als die beiden Flüchtigen das Ziel ihrer Reise erreichten. Sie stiegen in dem Hotel ab, das sie als die Wohnung Delphinens erfrugen.
Während der drei Tage langen Reise hatte Wagner Zeit gehabt, sich auf die Worte zu besinnen, mit denen er der Treulosen entgegentreten wollte. Als sie gleich bei der Ankunft nach der Sängerin fragten, erhielt Ernst die Antwort: »Vor einer halben Stunde, nach Empfang eines Courierbriefes, ist sie nebst dem Herrn Gemahl nach Berlin abgereist.«
»Was? mit ihrem Gemahl?«
»Ja – der italienische Sänger!«
»Unmöglich!« rief Ernst aus, und um es glauben zu können, mußte er sich in die Zimmer führen lassen, in denen er an den herumliegenden mit Delphinens Namen versehenen Noten und den eleganten, männlichen Kleidungsstücken aller Art von der Richtigkeit der Nachricht sich überzeugte.
Wie wurde sein Schmerz jetzt erst lebendig, als er den prächtigen Comfort dieser Boudoirs bewunderte, als er diese Luft einathmete, deren Duft sie zurückgelassen, und auf die schwellenden Divans blickte, auf denen sie vor kurzem erst gekost haben mochten! Aber wie ein Schlag traf es ihn, als der Wirth eine Thüre öffnete und er hinter seidenen Vorhängen zwei Ehebetten neben einander stehen sah. »Du himmlisch schönes, teuflisch falsches Weib!« bebten seine Lippen.
In wildem Zorne eilte er auf sein Zimmer. Sorglich folgte der demüthige Krist ihm nach, treu wie ein Hund. Ernst hatte die Pistole aus seiner Manteltasche hervorgeholt. »Wenn ich's doch knallen hören könnte!« rief er Krist entgegen und warf die Waffe von sich. Dafür ließ er den Champagner knallen. Als könne er daran seine Wuth sättigen, fiel er über die aufgetragenen Speisen her und sprach der Flasche zu, als stille sie seinen Rachedurst. Die Eile und Spannung, mit der er die Reise gemacht, hatte seinen Appetit gesteigert; das Gefühl der wiedererlangten Freiheit würzte ihm das Mahl. Was gewöhnliche Menschen von der Muttermilch her wissen, daß Essen und Trinken gut schmeckt, das ging diesem Genialen als eine neue Weltanschauung jetzt auf; überrascht empfand er den behaglichen Genuß, der in der Gourmandise liegt.
Er konnte dieses Beefsteak à l'anglais nicht in naivem Genusse verzehren; auch hierbei klaffte der ewige Gegensatz von Natur und Geist vor seiner Seele auseinander; er konnte das wohlschmeckende Fleisch nicht kauen, ohne in tollem Humor aufzulachen: »Das Fleisch! das Fleisch! Ist es nicht auch das Fleisch, das mich, den Denker, den freien Geist so rasend macht!«
So sprach er in sein Glas hinein. Die Blume des Weines duftete ihn an und er starrte hin in das unermüdliche Emporquellen der Gasbläschen aus dem untersten Grunde des Spitzglases. Er sah darin das Bild des Lebens, das aus sich selbst um seiner selbst willen unwillkürlich in unversieglichem Quell emporsprudelt. Ihm, der bisher nur das Leben des Geistes gekannt, das den unendlichen Zweck außer ihm selbst verfolgte, ging jetzt die Wonne des natürlichen Daseins auf, das in sich selbst Befriedigung findet. Hatte er bisher vergeblich stets gefragt, warum? jetzt frug er sich: warum denn nicht? warum denn nicht dem unwillkürlichen Zuge des Herzens, der natürlichen Lust des Lebens sich hingeben? Es lockte ihn jetzt das epikureische Dasein, das eben in Delphinens Zimmer ihn angemuthet, der Genuß des Lebens, wie diese es sich stets geträumt, nicht wie er es gedacht hatte. Aber – er hatte keine Stätte in dem Lande seiner Muttersprache, und das Weib, das ihn hätte beglücken können, hatte ihm das Herz gebrochen. Er vermochte keine Aussicht, keine Kraft für das Leben mehr zu finden.
Statt dieses neu geahnten Lebens konnte er nur das Bild desselben erfassen. Da der Wein nicht aufhörte, seine Perlen aufquellen zu lassen, konnte er nicht aufhören, ihn hinab zu schlürfen. Aus seinem tollen Humor verfiel er in eine tiefe Wehmuth. Er befand sich in der Stimmung, die dem Weine das Sprichwort erworben hat: in vino veritas.
»Leben – leben –« so lallte er und sah mit gläsernen Blicken dem Nachbar tief in die Augen. Der Wein hatte jede Scheidewand des Standes und Charakters zwischen ihnen entrückt, sie sahen einander an Mensch gegen Mensch und die innerste Wahrheit seiner Seele ging dem trunkenen Denker über die Lippen. Er legte den Arm über die Schulter seines Nachbars und sprach: »Wer wird das Leben je begreifen? Was heißt das: leben, lebendig sein, sich bewegen und genießen? Begreifen kann ich es nicht, aber – o, ich Thor! – was ich nicht begriff, warf ich von mir, ehe ich es unbegriffen genoß! Jetzt ahne ich die Lust des Daseins und Wirkens, jetzt möchte ich dieser süßen Gewohnheit mich in die Arme werfen, und nun – zu spät! Bruder, Bruder Menschenkind, was ist so ein Mensch! Denk, jetzt wär's zu Ende mit mir, der ich ja alle Stunden sterben kann und – möchte; jetzt, wo ich einsehe, wie mein ganzes altes Leben verfehlt war und wie ich das neue genießen könnte, denke, jetzt müßte ich vom Leben lassen! Mein ganzes Dasein nichts als ein großer Irrthum, ein misglückter Versuch, ein einziger Schmerz, verloren zu sein! Und was war es, was ich versucht hatte? Ich wollte Mensch sein, keine Puppe, kein Thier, kein Teufel – Mensch – Mensch – und nun – ein Leichnam! Ich kann nicht leben – laß mich verfaulen, Bruder Mensch!«
Fest hatte er sich an den Schicksalsgenossen angeklammert, lehnte sein Haupt matt an ihn und schlief ein.
Krist hielt den Schlafenden in seinen Armen und sah ihm mit Verehrung und Mitleid in das edle, leidende Antlitz. Die Trunkenheit hatte Ernst's Blässe noch vermehrt; wehmuthsvoll waren die Lippen geöffnet; wüst fielen die dunkeln Haare über die Stirne; in jedem Zuge des regelmäßigen Antlitzes lebte der Schmerz seiner Seele. Mit Behutsamkeit legte Krist den theuren Gefährten aus seinen Armen in das Sopha zurück und bedeckte ihn mit einer Decke. Als er nun vor ihm stand und auf die bleichen, reinen Züge blickte, murmelte er: »eine Leiche, aber die Leiche eines Messias!«
»Und ich –?« frug er sich, nahm den Armleuchter, trat vor den Trumeau und blickte sein Gesicht an. Man sagt den Kindern, wenn man um Mitternacht vor den Spiegel träte, sähe man den Bösen darin. War es der Böse, der ihm jetzt aus dem Spiegel entgegensah? Die unheimlichen Augen, die finstere Stirn, die trotzigen Lippen, – das war kein Schmerz einer reinen Seele, die in den gemeinen, falschen Zügen sich malte; es war Haß und Niederträchtigkeit des Verbrechers. Krist schlug sich mit der Faust vor die Stirn. Wilde Wuth entstellte seine Züge noch mehr. »Was war es, was ich versucht hatte? Mensch zu sein! und das, das hier bin ich geworden!«
Der Wein, den sie getrunken, vermochte nicht Krist's Schmerz in Schlummer zu versenken. Ihm war der Trank zu matt. Er sah sich um, ob Ernst auch fest schlafe; dann holte er die Flasche seines Getränkes aus der Tasche und goß den brennenden Fusel in sich hinunter. Endlich gab auch ihm der Schlaf die Erlösung seines schmerzlichen Bewußtseins, – den kurzen Vorgeschmack des Todes.
Ernst schlief, ohne einmal zu erwachen, bis tief in den Tag hinein.
»Auf nach Berlin! nach Berlin!« so rief er emporspringend Krist entgegen. Er war entschlossen, dem Zuge seines Herzens, der Leidenschaft seines wilden Rachedurstes ganz sich hinzugeben.
»Du willst nach Berlin?« sagte Krist, »der Policei gerade in die Arme laufen? Sei vernünftig und laß uns machen, daß wir zur See kommen.«
»Ich gehe nach Berlin!« sagte Ernst sich dehnend.
Krist war entschlossen sich in die neue Welt zu retten, um dort restaurirt zu werden in Ehre und Besitz. Ehe er von neuem widersprechen konnte, schellte Ernst nach dem Frühstück. Verschlafen streckte er sich noch einmal auf das Sopha.
Der Kellner trat herein und brachte den Kaffee auf silbernem Tablette nebst der Zeitung. »Wissen die Herren schon die neuen Nachrichten? In Paris ist Revolution, das Ministerium ist gestürzt. Ein Reisender, der eben ankommt, bringt die Nachricht, daß die Republik proclamirt wird.«
»Revolution!« rief Krist aus.
»Republik!« fuhr Ernst empor
Sie verschlangen die Zeitung mit den Augen. Beide lasen sie laut. Die Nachrichten von dem Verbot des Banquets, von der Umlagerung der Kammer, von der Zusammenrottung des Volks, dem Entstehen der Barricaden, dem Fließen des Blutes, dem Angriff des Militairs, der Tapferkeit der Studenten, dem Uebergang der Nationalgarde, Wanken der Linie, Sturz des Ministeriums – und das Ende die Nachricht von der Republik, das Alles erschien in der thatenlosen, trägen Zeit wie eine Mähre aus vergangenem Jahrhundert.
»Jetzt reisen wir nach Berlin!« rief Krist, und der nächste Zug des Dampfwagens führte sie mit sich dahin.
Auf einer der Stationen fand Ernst in einem Zeitungsblatte seinen eigenen Steckbrief, worin in- und ausländische Behörden aufgefodert werden, ihn zu fahnden. Damit hat es keine Noth, dachten die beiden Reisenden, denn in Berlin hofften sie den Ausbruch der Revolution zu finden.
Aber gleich beim Eintritt in die Stadt überzeugten sie die vom Policeipräsidenten verschärften Maßregeln der Paßvisitation, daß das alte Regime noch mächtig oben auf war. Nur mit Noth schlüpften sie mit ihren falschen Pässen durch.
Die vereinigten Landtagsausschüsse tagten indeß weiter über ihren drakonischen Strafgesetzen. Die Carnevals- und Hutvereine hielten ihre harmlosen Sitzungen. Die Stadtverordneten beriethen über Straßenreinigung und Cultur des Friedrichshains; nirgends ein Symptom, daß die neue Zeit erwachen wollte. Und wenn man diese hellen, breiten, eleganten Straßen entlang sah, wo war hier der Punkt, an dem sich eine Barricade hätte erheben, wo der Schlupfwinkel, von dem die Hyder der Revolution ihr Haupt hätte hervorrecken können?
Mit dem Entschlusse, für die Freiheit nur sein Leben daran zu setzen, hatte Ernst Wagner diesen für sein Lebensschicksal so verhängnißvollen Boden betreten. Aber seiner Begeisterung fehlte es an Charakter, seiner Tapferkeit an Ausdauer; er war ein innerlichst zusammengebrochener Mann und keiner Kraft, nur fliegender Hitze noch fähig. Die entscheidungslose Haltung des Bürgerstandes und der städtischen Corporationen, die perfide ausweichende oder impertinent drohende Sprache der Regierungspresse, das Herbeiziehen der soldatesken Kräfte, – das Alles raubte dem Denker jede Aussicht. Er schrak zusammen vor der Macht der realen Welt und hatte keinen Muth, ihr beizukommen. Er vermochte nur im Champagnerrausche dem Zuge seines Herzens, den Gelüsten seiner Sinne sich hinzugeben.
Vergeblich hatte er Delphine gesucht. Er gab sich der Gesellschaft hin, die er in seinem Gasthause gefunden. Das Hotel war ein abgelegenes, unansehnliches Haus; den Wirth bezeichnete Krist als einen von »unseren Leuten«; unter den Fremden waren ein paar abenteuerliche Gestalten, Franzosen und Polen, die den Haut-gout wüster Lebensart besaßen. Die tausend Thaler, die Krist zur Uebersiedelung nach Amerika erhalten, schienen nicht enden zu können; bis tief in die Nacht hinein wurde gezecht, gespielt. Das Rauschen seidener Kleider, das Zerreißen parfumirter Busentücher hatte Ernst's Sinne in wüsten Taumel versetzt; er wollte nur der Natur bewußtlos angehören, ganz aufhören Geist und Wille zu sein.
Wochen waren in diesem Schwelgen vergangen, – Krist ging anderen Pfaden nach und hatte seit mehreren Tagen seinen Genossen nicht gesehen –, als Ernst des Abends an der kleinen Wirthstafel eine sonderbare Figur erblickt. Die schlanke Gestalt, die kecke Haltung des Kopfes, das bartlose Gesicht lassen auf einen sehr jungen Mann schließen, während die abgelebten Züge, der scharfe Blick und die sicheren Manieren auf große Lebenserfahrung deuten. Ernst meinte den Kopf schon gesehen zu haben; das Gemisch von Jugendlichkeit und Reife zog ihn unwiderstehlich an.
Die Roué's, mit denen Wagner seine Orgien feierte, gingen Tags geheimnißvollen Geschäften nach, über die sie keine Auskunft gaben; erst spät Nachts kehrten sie zum Spieltisch heim. Ernst erwartete sie auch heute. Der jugendliche Fremde blieb mit ihm im Zimmer; doch ließ er sich kein Wort entlocken und schien in Zeitungslesen versenkt.
»Louise!« rief einer der Polen, als er hereintrat, und fiel dem sonderbaren Gaste mit einem Feuer um den Hals, wie es nur am Busen einer Frau zu erklären war.
Bei dem Namen Louise erkannte Ernst den Fremden: es war die emancipirte Zerrissenheitsdichterin, deren Anblick in der Hippel'schen Weinstube ihn zu seinem ersten Leichtsinn verlockt hatte.
Wie war sie verändert in den wenigen Jahren! Ihre Augen, damals dunkel glühende Sterne, glichen jetzt ausgebrannten Kratern. Ernst mußte denken, daß ebenso seit der Zeit seine Ideale von Liebe und Freiheit ihm verblüht waren, daß er selbst ruinirt war, wie dieses Weib. Das gleiche Schicksal flößte ihm ein tiefes Mitleid, eine innige Liebe zu ihr ein: er empfand eine wehmüthige Sehnsucht, mit ihr zu weinen über ihren gemeinsamen Verlust der Ideale.
Die Clique war indeß beisammen. Die Dichterin, die aus Berlin ausgewiesen war und nur in dieser Verkleidung sich in die Stadt gewagt, fürchtete nun nicht mehr von dem Fremden erkannt zu werden, da sie ihn mit ihrem Vertrauten vertraut sah. Sie gab Ernst jetzt Antwort. Er frug sie, ob sie sich ihrer früheren Begegnung noch erinnere. »Ei ja wohl!« rief sie und hieß ihn herzlich willkommen; bald aber merkte er, daß sie sich nur verstellte und keine Ahnung hatte, wo sie ihn gesehen. Er merkte die Charlatanerie, die mit dem Gewerbe des freien Weibes unzertrennlich ist wie mit jedem andern.
Ein »Sumpf« von Champagner und Annanas wurde zubereitet, das Pharao eröffnet. Die Dame in Pantalons riß das Halstuch ab, knöpfte den Rock auf, öffnete weit das Busenhemde, ihre dunkeln Locken, die künstlich zusammengesteckt waren, riß sie auseinander und ließ sie in ganzer Fülle zum Busen niederwallen, – sie war wieder ganz die »Wilde.«
Ernst sehnte sich nun nicht mehr, mit ihr zu weinen; mit ihr hätte er wild sein, und die freie Liebe genießen mögen, wie er sie jetzt erkannte. Er wußte ihr auf keine Weise zu nahn, als ihr gegenüber an den Spieltisch tretend.
Die Fremden waren heute toller als je. Va banque! hieß es einmal über das andere unter tollem Gelächter, das Ernst sich nicht zu erklären vermochte. Man spielte nicht anders als mit enormen Summen.
»Aujourd'hui la bourse, demain la vie!« rief die Emancipirte, als sie Alles verloren.
»Eh bien, madame!« rief der junge Pole, der sie so feurig begrüßt hatte: »Votire amour pour cette bourse! Va banque!«
»Bravo«, lachte die Wilde, »wer spielt mit? Meine Küsse in dieser Nacht! Wer setzt dagegen?«
Wagner warf mit flammenden Blicken funfzig Louisd'or auf den Tisch. Er verlor. Er setzte nochmals und verlor wieder. Er setzte zum dritten male und – war bankerott. Das Geld zur Uebersiedelung nach Amerika für ihn und Krist war verloren. Nur wenige Thaler fühlte er noch in der Tasche.
Die Emancipirte sah ihn erbleichen. »Aug' um Auge, Zahn um Zahn!« rief sie, »und so weiter –! hier 100 Louisd'or gegen deine Küsse in dieser Nacht!«
Ernst verlor, was er verlieren, und gewann, was er gewinnen wollte!
Am anderen Morgen hatten für Ernst die freie Liebe und das freie Weib auch den letzten Schimmer eines idealen Glanzes eingebüßt. Für genial hatte er angesehen, was Andere liederlich nennen; sein besseres Selbst lernte er jetzt schätzen. Er hatte in dem Genusse dieser wüsten, sich ausströmenden Leidenschaft kein Glück empfunden, sondern das furchtbar schmerzende Verlangen nach dem einen geliebten Wesen, nach Delphine. Sein Denken konnte ihm nicht sagen, warum er sie noch liebte, es konnte ihm nur sagen, daß sie seine Liebe nicht verdiene, und dennoch ging der Zug seines Herzens zu ihr hin, dennoch fühlte er, daß all seine Leidenschaft bei ihr nur Glück erwarten könne. Er lernte jetzt kennen, wie er außer seinem Denken noch etwas besaß, was auch Ansprüche an sein Schicksal machte und verdiente: sein Gemüth, sein treues Gemüth.
Den Boden seiner Existenz mußte er, der Narr seines Denkens, wie eine neue Welt entdecken; und jetzt, wo er heimisch in dieser Zufluchtsstätte sich niederlassen wollte, war der Winter darüber hereingebrochen; jetzt, wo er den Werth eines edlen Herzens schätzen lernte, jetzt war das seine gebrochen.
Es war in der Mittagsstunde. Wagner, der sich bisher im Hotel verborgen gehalten hatte, war von der wüsten Morgenstimmung nach der gestrigen Orgie heute in die laue Frühlingssonne getrieben. An Leib und Seele zusammengebrochen, lehnte er auf dem Gensd'armenmarkte sich an die Wand eines Hauses, den Hut ins Gesicht gedrückt, das Taschentuch vor den Mund haltend, als habe er Zahnschmerzen. Garde-Dragoner hielten auf dem Platze Wache, daß das Morgenroth der neuen Zeit nicht hereinbreche. Wagner hatte keine Hoffnung auf eine Umwälzung, die ihm eine neue Bahn eröffne, und in sich fühlte er keine Kraft, ein neues Leben sich zu erschaffen. Er mußte untergehen; er kannte nur ein Lebensgefühl: an dem Weibe, das ihn vernichtet, Rache zu nehmen, und diesem Gefühle wollte er taumelnd sich hingeben, wie er der Liebe zu ihr sich hätte hingeben mögen.
»Ah, voilà, quelle grande coquette!« hörte er vor sich einen Dandy zum anderen sagen, die stehen geblieben waren, um eine elegante Equipage passiren zu sehen. Der ruinirte Denker blickt mit seinen stieren Augen unwillkürlich auf, er sah in einem offenen Gigg einen Herrn und eine Dame vorüberfahren; er kann ihnen nicht mehr ins Gesicht schauen; nur schwarze Locken sieht er unter dem Hute von weißem Atlas hervorwehen; da wendet die Dame sich zurück, um den Lions, die sie mit den Lorgnetten verfolgen, einen Blick stolzer Aufmerksamkeit zuzuwerfen, und – Ernst erkennt in der »grande coquette« seine Delphine.
In pleine carrière rollt der Wagen dahin. Ernst rennt eben so schnell ihm nach. Delphine mit ihrem Begleiter, wahrscheinlich dem italienischen Sänger, fährt nach den Linden zu, zum Brandenburger Thor hinab und hinauf, der tollgewordene Denker immer hinter ihnen her. An der Friedrichsstraße halten sie an und steigen aus auf die Rampe vor der dortigen Conditorei. Auch Ernst bleibt stehen, athemlos an die nächste Linde gelehnt, Delphine sitzt so, daß er ihr immer noch nicht in das ganze Gesicht sehen kann; nur ihren Begleiter hat er vis-à-vis und nach den ersten Augenblicken erkennt er unter der Maske des italienischen Sängers seinen Intimus, den großmüthigen Grafen Cesar. Durch wenige Aenderungen in der Toilette, durch Abschneiden des Bartes, Herabhängen der Haare in langen Locken, durch den bloßgetragenen Hals und, wie es schien, leicht aufgetragene Schminke hatte er sich ein so jugendliches Ansehn gegeben, daß er nur dem, der ihn so genau kannte, wie Ernst, erkenntlich sein konnte.
Wie er sich jetzt nachlässig graziös in den Stuhl warf mit triumphirendem Blicke gegen die Herren, die seine Begleiterin bewunderten; wie er mit seinem alten, interessanten Lächeln, das cokett die weißen Zähne sehen ließ, ihr vertraulich zuflüsterte, sodaß vor Lachen ihr Nacken unter der kostbaren Mantille sichtlich erschüttert wurde; da fühlte Ernst sich von einem Anfall jener thierischen Wuth, bis zu der die Eifersucht steigen kann, bewältigt. Zitternd streichelte er anfangs die Pistole in seiner Tasche; dann hielt er sie schußgerecht, den Zeigefinger an der Feder; nur eines Ruckes bedurfte es noch, den Hahn zu spannen, da –
»Verrath! Verrath!« so dröhnte es plötzlich von allen Seiten in sein Ohr, »Verrath! Verrath!« so schien ein Heer höllischer Geister, aus dem Boden aufgestiegen, durch die eleganten Straßen von Berlin zu brüllen. »Verrath! Verrath!« so übertönte das weltgeschichtliche Angst- und Wuthgeschrei des achtzehnten März 1848 die Leidenschaft des tollgewordenen Philosophen.
Hatte die ganze Welt ringsum sein innerstes Gefühl ihm entlauscht und drängte es sie mit ihm zur Rache? so stutzte Ernst entsetzt, als ihn Jemand bei der Schulter packte. »Auf zu den Barricaden! zu den Barricaden!« brüllte Krist ihm ins Gesicht. »Es gilt, uns zu restauriren. Jetzt oder nie!«
Er faßte ihn am Arme und rannte mit ihm durch die Straßen. Wie verändert war plötzlich die Physiognomie der Stadt! Das Treiben in den Straßen, das Ernst früher wie das lispelnde, plätschernde Meer vorgekommen, war jetzt die wüthende, brüllende See. »Man hat auf das Volk geschossen! Waffen, Waffen!« so schrien in athemloser Hast vorübereilende Horden.
Ernst wußte nicht, ob er träumte oder wachte. Als er auf der Taubenstraße über die Fundamente einer aufwachsenden Barricade steigen mußte, da war es kein Zweifel mehr: das Morgenroth der neuen Zeit brach wirklich an; diese Balken und Steine erhoben sich als die Stufen, auf denen die Idee zum Throne der Wirklichkeit emporsteigen wollte! Die wahnsinnige Wuth seiner persönlichen Rachsucht stürzte sich jetzt in die geschichtliche That.
Hinter der Barricade am Cölnischen Rathhause faßte Krist mit seinem Genossen Posto. Es war ein nie erlebtes, traumähnliches Gefühl, in diesen eleganten Straßen, in denen noch vor einer Stunde nichts ohne policeiliche Erlaubniß geschehen durfte, plötzlich hinter einem Walle sich zu befinden von Tonnen, Gossenbohlen, Wagen, gegen die Willkür der hohen Obrigkeit errichtet.
Es war halb vier Uhr Nachmittags, als der erste Angriff des Militairs vor sich ging. Eine Compagnie Füsiliere rückte vom Schlosse aus die breite Straße hinunter und gab eine Salve gegen die Barricade. Zwei Männer, an Kopf und Schultern getroffen, stürzten rücklings zusammen; ihr Blut spritzte weit über die kämpfenden Genossen.
In diesem Augenblicke ging es Ernst wie so Manchem, der bisher nur hinter dem Schreibtische für die Freiheit gekämpft hatte, und sich jetzt in die Stellung hinter der Barricade, wie oft er sie auch ersehnt hatte, nicht hinein finden konnte. Er war nicht feig, aber er konnte sich nicht denken, woher er den Muth haben würde. Als er jedoch das warme Blut sich ins Gesicht spritzen fühlte, da war alle zagende Reflexion fort. In besinnungsloser Wuth kannte er kein Gefühl der eigenen Erhaltung, nur das Verlangen, den Feind zu vernichten. Mit jedem Schuß aus der Pistole flog ein Stück Leidenschaft ihm aus der Brust, fühlte sein Herz sich erleichtert um einen Theil des Haß- und Rachegefühles, das seit Jahren gegen die ganze Welt darin zusammengepreßt war. Die Sucht seines kranken Nervensystems nach dem Schusse fand jetzt ihre Befriedigung in wahnsinniger Wollust.
Die angreifende Compagnie war zurückgeschlagen. Verdoppelt kehrte sie wieder und wurde wiederum zweimal zurückgedrängt. Da rasselt es schwer die Straße herab. Die Reihen der Füsiliere öffnen sich und ein Sechszehnpfünder richtet seinen Feuerschlund gegen den improvisirten Freiheitswall. Ehe die Kämpfer es sich versehen, kracht eine Paßkugel zwischen die Balken und Tonnen, sodaß Steine wie Spreu auseinander stieben. Neues Füsilierfeuer, neuer Kanonendonner. Wie Hagelschlag wettern die Flintenkugeln gegen die Mauer; wie Blitz und Donner fährt das schwere Geschütz dazwischen. Die Luft war von Tod erfüllt; keine Wand, kein Wall schützten vor der Vernichtung. Vor dieser übermenschlichen Naturgewalt konnte keine Tapferkeit bestehen. Auch dem löwenmuthigen Philosophen brach unter den Kanonenschlägen die Kraft wie von übernatürlicher Lähmung zusammen. In jähem Schreck suchte er mit seinem Gefährten, dem Schneider, die Flucht. Schon war das Militair bis nahe an die verlassene Barricade herangerückt, als sie glücklich unter verfolgenden Einzelschüssen um die Ecke entkamen und in eins der nächsten Häuser sich retteten.
Sie eilen zwei, drei Treppen hinauf, um einen dunklen Versteck zu finden; aber in dem eleganten Hause fällt das Licht der großen Glaskuppel in jeden Winkel. Sie klinken an jeder Thüre, sie schellen an jedem Klingelzuge, aber Alles bleibt verschlossen: die aristokratischen Bewohner scheinen nicht geneigt einem Freiheitskämpfer Hilfe zu gewähren. Die Flüchtlinge steigen auf den höchsten Boden; aber auch hier finden sie nur helles Tageslicht und verschlossene Thüren. Sie eilen wieder hinab zur Hausthüre, um im Nachbarhause Rettung zu suchen. Da hören sie auf der Straße schon Marschtritte und den fürchterlichen Ton des militairischen Commandos. Die Soldaten hatten die Barricade erstiegen und drangen in die nächstliegenden Häuser ein, um die flüchtigen Empörer einzufangen.
»Vier Mann halten Posten an der Thüre, acht Mann ins Haus hinauf.« So hörten Wagner und Krist eine barsche Unterofficierstimme. An sich schon von verwildertem, verdächtigem Aussehen, die Waffen in der Hand, mit Blut bespritzt, waren sie verloren, wenn sich nicht noch im Augenblick ein Zufluchtsort eröffnete. Rasch entschlossen drückte Krist die farbige Scheibe einer Glasthüre in der Belleetage ein; mit einem Griff war die Thüre geöffnet. Sie traten in einen eleganten Corridor. Niemand war zu sehen. Sie schritten weiter in einen Salon von modernster Einrichtung. Auch hier keine Person zu sehen. Die wenigen Möbel geben ihnen keinen Versteck. Sie öffnen eine dritte Thür. Da endlich sehen sie, aus dem Fauteuil aufspringend, eine schöne vornehme Dame. Sie wirft einen Blick auf Wagner's verstörte, blasse Mienen – sie erbleicht – sie wankt auf den Sessel zurück.
»Delphine!« ruft Ernst in einem Schrei auf, in dem Schmerz, Wuth und Liebe zusammengepreßt waren.
»Was will der Mensch!« sagte die vornehme, fremde Dame, indem sie mit verächtlicher Miene, und rauschendem, seidenem Kleide aus dem Zimmer schritt, heftig die Flügelthüre zuwarf und abschloß.
Mit wie großer Geistesgegenwart Delphine auch diesen lästigen Besuch abgewiesen, so mußte sie doch erschrecken, als sie im Augenblicke darauf heftiges Gepolter im Nebenzimmer vernahm – viele Tritte – rauhe Stimmen – es fiel ein Schuß – ein schwerer Fall – der Angstschrei seiner rührend weichen, altbekannten Stimme läßt sie in Ohnmacht sinken.
Als sie wieder erwacht, ist Alles um sie still. Sie gewinnt endlich den Muth, die verhängnißvolle Thür zu öffnen. Ein See frischvergossenen Blutes ist die einzige Spur des Vorgegangenen. Sie hatte zum zweiten male einen Freund gemordet.
*