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Fünftes Capitel.

An jeder Zeit von geistiger Regsamkeit ist es eine idealistische, befreiende, neuerungssüchtige Partei, meist die des heranwachsenden Geschlechtes, die den bestehenden Verhältnissen und dem beständigen Alter, das diese erhalten will, gegenübersteht. Es ist das Genie, das gegen den Alltagsmenschen, die Freiheit, die gegen den Zwang ankämpft. In einem Werther war es die Emancipation des Herzens, in einem Körner, einem Sand der patriotische Enthusiasmus, in den jungdeutschen Schriftstellern die lebenslustige Genialität, die gegen die Schranken der bestehenden Sitte und Ordnung sich Raum erstreiten wollte. Auch mit dem Ende der dreißiger und dem Anfang der vierziger Jahre unsers Jahrhunderts war mit der neuen Jugend eine neue Geistesrichtung herangewachsen. Wie vor den scharfen Sonnenblicken der Nebel, so zerstieben vor der Kritik philosophischer Aufklärung die Vorstellungen einer übersinnlichen Weltanschauung. Vom Himmel schwanden die Baßgeigen, von der Erde die Gespenster, die nach ihnen tanzten; es verschwand die Hand, die von jenem auf diese herunterzugreifen schien, um nach einem göttlichen Willen die menschlichen Dinge zu lenken. Der freie Mensch war das Maß aller irdischen Einrichtungen; Staat, Kirche, Gesellschaft fielen vor diesem Maßstabe in Nichts zusammen. Der freie Mensch sollte auch das Ziel alles Lebens sein; die Philosophie entwarf Baurisse, dieses Ziel zu erfüllen, und hatte die Miene, mit ihren Entwürfen Ernst zu machen. Die Genialität dieser Jahre war der philosophische Idealismus, der Enthusiasmus für das humanistische System.

Der preußische Staat, der Staat des Protestantismus, der Vertreter der freien Forschung, hatte bis zum Jahre 1840 diese Richtung der wissenschaftlichen Journalistik anfangs geschützt, dann geduldet. Mit dem Jahre 40 wurde ein neues System die Seele des Staates, oder vielmehr damals erst erhielt der Staat eine Seele; er sollte zu einem Systeme belebt, aus dem Mechanismus zum Organismus umgestaltet werden. Was die destructive Kritik der jugendlichen Philosophen aussprach, das fühlten auch die conservativen Staatsmänner im Centrum der Regierung: die bestehende, bureaukratische Verwaltung war eine rein äußerliche Maschine, die den Lebenselementen des Volkes fremd war; der Polizeistaat konnte bei dem erwachenden, politischen Nationalbewußtsein keine Dauer haben; Regierende und Regierte müssen in Wechselbeziehung stehen; der Staat von der Volkskraft durchdrungen sein: dieses Bedürfniß war den Regierungsmännern wie den Zeitungsschreibern gleich unzweifelhaft. Erfüllen aber wollten sie es auf entgegengesetzte Art. Die Humanisten wollten den Polizeistaat im Volksleben, jene Politiker das Volksleben im Polizeistaat aufgehen lassen. Auch sie beriefen sich auf ein Princip; da sie es auf Erden nicht fanden, langten sie es vom Himmel herunter: statt der menschlichen Freiheit war der christliche Gehorsam die Grundlage und der Zweck des wahren Staatslebens. Auf diesem Princip errichteten sie das System der mittelalterlichen, christlich-ständischen Staatsverfassung, und auf diese sollte das Nationalleben zurückgeführt werden. So war auch die Reaction dieser Jahre Idealismus: der christlich-germanische Idealismus, die systematische Reaction der Romantik.

Der Humanismus konnte seine neue Ordnung nicht anders gründen, als durch die Revolution. Der Polizeistaat konnte das Volk sich nicht anders assimiliren, als durch die Polizei. Die Polizei war damals in der That von Gottes Gnaden, die Allmacht der Erden. Sie hatte die Organe der destructiven Philosophie seit dem Jahre 42 unterdrückt; die Philosophen selbst aus der Staatsverwaltung, zum Theil aus dem Staatsgebiet entfernt. Die Humanisten waren die Märtyrer, die Apostel, die nicht hatten, wohin sie ihr Haupt legen sollten.

Auch Ernst Wagner war in der abstracten Weltanschauung der freigeistigen Philosophie jener Jahre, der alle jugendlichen Köpfe damals angehörten, aufgewachsen. Er war ein tief und stark empfindendes Gemüth, einer von den Herzensmenschen, die das, was sie sind, immer ganz, mit Leib und Seele, sein müssen. Schon als Knabe war er in das Pensionat der Klosterschule gekommen; fern von der Familie, frei von allen Beziehungen zum wirklichen Leben, hatte sein Geist nur aus den Büchern Nahrung gezogen und sein jugendliches, ungeschwächtes Naturell hatte keinen andern Lebenszweck kennen gelernt, als einzig seinen Gedanken anzugehören. Noch hatte er keine Erfahrungen in der Welt gemacht, die ihm Menschenkenntniß geschenkt, aber die Unschuld des Gemüthes geraubt hätten. Sollte dem neuen Geiste Bahn gebrochen und die Befreiung versucht werden, so mußte zuerst der Kopf der Gesellschaft, die Intelligenz der Nation, aus den Schlingen des Staats- und Hofdienstes, aus dem Bann der Theologie befreit werden; und so hatte Ernst mit dem ungebeugten Sinne der Jugend, dem die Gesinnung über Alles geht, der nur in dem Bekenntniß der Wahrheit Glück findet, vier Jahre den Unwillen des Vaters ertragen und von der mühseligen Thätigkeit eines Correctors bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift ein elendes Brot gezehrt. Die zunehmende Krankheit des Vaters zwang ihn dennoch, um für die Zukunft der Mutter und der Cousine zu sorgen, seiner Gesinnung untreu zu werden und die Tugend der Wahrheit für die Tugend der Aelternliebe zu opfern.

Der himmelstürmende Denker, der in der ländlichen Heimat vor Gewissensbissen über seine Sünde an der Wahrheit keinen Herzschlag der Freude finden zu können geglaubt hatte, mußte sich nun doch eingestehen, daß der Candidat des Predigtamtes, der in der Hoffnung auf eine Pfründe ein Weib nehmen könne, wenn er nur wolle, ein gut Theil Glück besitzen könne, groß genug, um das Leben lebenswerth zu finden. Ernst wollte es versuchen, in diesem Glück zufrieden zu sein, und in den vier Tagen seit dem Polterabende hatte er wirklich angefangen aufzuleben. Was für eine Fülle von Herzlichkeit begann ihm in dem engen ländlichen Kreise des Pfarrhauses aus dem Umgange mit dem liebenden Mädchen zu erblühen! Unwillkürlich wurde er in ihre Tändeleien hineingezogen und, während mit den andern Bewohnern des Hauses das alte Verhältniß der Abgeschlossenheit bestehen blieb, öffneten sich diese beiden Herzen in mittheilender Zärtlichkeit. Wie unbeabsichtigt fanden sie sich stets zusammen; als verstände es sich von selbst, leistete er ihr hundert kleine Aufmerksamkeiten, half ihr Spargel stechen, die Wege harken, Blumen pflücken. Heiterer und immer heiterer wurde er; dann und wann war schon aller Trübsinn von seinem Gesichte verscheucht, und einmal sogar gab er für den Augenblick in vollem Lachen sich dem kindlichsten Scherze hin. Aennchen saß mit der Dienstmagd Sonnabend Abends in der Küche, und sie schälten die letzten Kartoffeln, die vom Wintervorrath übrig geblieben waren; die meisten derselben waren von der Kartoffelkrankheit befallen und Hanne wurde jedes mal böser, wenn sie wieder eine fortwerfen mußte. Aennchen lachte laut auf über ihre Wuth. Als Hanne an ein Gartengeschäft gehen mußte, machte Ernst sich den Scherz, eine Küchenschürze vorzubinden, sich an das Kartoffelschälen zu machen und Aennchen durch das Nachahmen von Hanne's bäurischem Dialekte und komischem Zorne in noch größeres Lachen zu versetzen.

Anna war glückselig, als sie die frostige Rinde vom Benehmen ihres Geliebten abthauen und sein herzliches Wesen immer offener hervortreten sah. Mit welcher Sorgfalt hing sie an seinen Mienen, mit welchem Entzücken sah sie eine finstere Falte nach der andern daraus hinwegschmelzen und ein Lächeln der Zufriedenheit erblühen! Weit mehr als die lauten Bezeugungen seiner Zärtlichkeit, schlugen diese stillen, unwillkürlichen Zeugnisse seiner Empfindung für sie tiefe Wurzel in ihrer Seele und verwuchsen unauflöslich mit ihrem innersten Gemüthsleben. Wie ihr Gemüth in süßer Glückseligkeit, so entfaltete ihre Erscheinung sich in blühender Schönheit. Ihr Auge wurde leuchtender, ihre Gesichtszüge schwellender, ihr Gang schwungvoller. Schönheit und Glück der beiden Liebenden blühten mehr und mehr auf für und durch einander, wechselseitig durch Hinneigen und Anziehen sich erhöhend.

Der junge Herr Pastor half noch lange bei dem Schälen der Erdäpfel. Die beiden Vertrauten lachten und scherzten mit einander. Ernst stellte sich ungeschickt und ließ sich necken; dann rächte er sich an ihr und warf sie mit den Schalen, worüber sie in neues Gelächter ausbrachen. Der Sonderling schien heute ganz in den kindischen Neckereien aufzugehen; er lachte über das ganze Gesicht und keine Spur von seiner Düsterheit blieb darin zurück. So in der besten Laune schieden sie von einander, als es Zeit war, zur Ruhe zu gehen; sie hatten sich dabei keine Zärtlichkeit bewiesen, als durch Neckerei und kein anderes Glück genossen, als so recht aus vollem Herzen gelacht.

Als Ernst in sein Dachstübchen trat, fühlte er sich ganz und gar glücklich. Wie war es doch so zauberisch süß, dem unerklärlichen Reize der weiblichen Schönheit, der Verblendung und dem Wahne der Liebe sich ganz hingegeben zu haben! Sein Glück war ein so freudiges, daß er noch immer sanft vor sich hin lachte, und es war so innig, daß ihm die Thränen dabei in die Augen traten. Er mußte aus dieser kindlichen Glückseligkeit, diesen kleinlichen Tändeleien an das Unendliche und die großen Forderungen seines Geistes denken. Es ging ihm der Gedanke auf, daß es auch möglich sein müsse, bei diesem Glücke groß genug zu sein, bei der Liebe in diesem engen Leben den Ansprüchen des Geistes treu zu bleiben, die Arbeit seines Denkens fortzusetzen. Neue, heftigere Thränen rollten über seine Wangen. »Ja! ich werde glücklich sein! Ich werde mich den Meinen fügen und ich werde doch mich selbst nicht aufgeben!«

So rief er vor sich aus. Er war tief bewegt. Wie Anna in der Nacht nach dem Polterabend, so sah er sich jetzt an einem Wendepunkte seines Lebens angekommen; er sah eine glückliche Lösung vor sich und konnte mit gleicher Ruhe auf die Zukunft und die Vergangenheit blicken. Aber das Gemüth des Mannes konnte seine Empfindung nicht still in sich verschließen. Mächtig regte es ihn auf, sie aus sich herauszusprechen, der Geberin seines Glückes sie mitzutheilen. Mit heftigen Schritten ging er im Zimmer auf und ab und suchte sich zu beruhigen. Sobald er der Thür sich nahte, drängte es ihn mit neuer Gewalt zu ihr hin. Er wollte nicht unter kindischem Schäkern an diesem glücklichsten Tage von ihr geschieden sein; er mußte ihr sein Herz ausschütten und ihr sagen, was er noch nie so gefühlt als heute, wie unendlich seine Liebe, wie unendlich sein Glück sei.

Er schlich sich über die Flur und klopfte leise an ihr Zimmer. »Herr Gott! wer ist da«, fuhr Aennchen erschreckt zusammen.

»Sei ruhig, Aennchen«, flüsterte er sanft. »Erschrick nicht, ich will nichts von dir. Ich will dir nur sagen, daß du es gar nicht weißt, wie gut ich dir bin. Ich habe es dir noch nicht gesagt, weil ich es selbst noch nicht gewußt habe, was du mir bist, wie glücklich du mich machst. O, bleib du mir nur so gut, dann ist Alles gut! Meine himmlische Anna, nun schlafe wohl! Gute, gute Nacht – –!«

Sie hatte Nichts von sich vernehmen lassen, aber sie stand lauschend da und hörte jedes Wort, zitternd vor Glückseligkeit. Als sie hörte, daß er endete, ergriff es sie gewaltig, ihm zu zeigen, wie sie ihm dankbar sei. Sie wußte ja, wie ehrenwerth er war und wie fest sie selbst. Ohne Scheu öffnete sie hastig die verriegelte Thür; im Dunkeln brauchte sie sich ihres losen Nachtkleides nicht zu schämen; ehe er in sein Zimmer getreten war, hing sie zu seiner Ueberraschung ihm am Halse. Mit all der Heftigkeit der Empfindung, deren ihr starkes Naturell fähig war, hob sie sich an seiner Brust empor und preßte sie ihn an sich, so daß er erschrak über die Gewalt ihrer Bewegungen. »O du liebster, liebster –« brachte sie über die Lippen; ihre weitern Worte erstickten unter Küssen.

»Daß ich dich so lieb haben würde, o, das wußte ich gar nicht, als ich's zum ersten mal dir sagte, du mein Himmel, du mein Alles –«

Anna konnte mit keinem Worte ihm antworten; nur ein summendes Wimmern des Entzückens drang durch ihre geschlossenen Lippen; noch ein mal von der Allgewalt der süßesten Empfindung erfaßt, drückte sie ihn Brust an Brust, Lippe an Lippe. »Wenn wir erst Hochzeit haben –«, lispelte sie, und im nächsten Augenblicke war sie von ihm losgerissen und in ihr Zimmer verschwunden.

Ruhig wie ein Kind und so süß wie je schlief Anna die Nacht hindurch. Ernst war kaum entschlafen, so wachte er wieder auf. So rasch wie sein Blut durch seine Adern schoß, drängten sich Gedanken auf Gedanken durch seine aufgeregte Seele. Er, der sich mit so holder Stimmung niedergelegt, der heute zum ersten mal das Glück genossen, in solcher Entzückung ein geliebtes Mädchen an den Busen zu drücken, und die Zuversicht gewonnen, bei ihr das Glück seines Lebens zu finden, war jetzt seinen einsamen Gedanken und den kalten Zweifeln verfallen. »Ernst! Ernst!« sagten sie ihm, »du mit deinen Fähigkeiten, mit den Bedürfnissen, mit den Wünschen deines Geistes, willst dich an ein Weib fesseln? zeitlebens an dieses Weib? Bedenke! Was sie dir nicht erfüllt, dem mußt du entsagen, du, der freie, starke Geist, dem die Ehe nichts ist als ein Zwang, ein Aberglaube, der die zerfallene Gesellschaft äußerlich zusammenkitten soll!« Die Gedanken quälten ihn; er suchte sie los zu werden, aber er konnte nicht wieder einschlafen. Er mußte denken: »ist das nicht ganz die Unruhe deines Vaters, die dich da überkommt? der du die Gemüthsschwäche des Greises verspotten mußt, verfällst du ihr nicht schon so jung? – Ist das Erblichkeit? hat die Natur solche Macht über den Geist? O, dann wehe, ein Mensch zu sein! Oder ist es eine Folge dieses geist- und kraftlosen Lebens? Dann gib dich ihm nur hin, finde nur dein Glück in dem engen Kreise der Familie und die Jahre werden dich bald zu eben der schwachen, mürrischen Unfähigkeit bringen, wie sie an deinem Vater dich erschreckt!« Der hypochondrische Jüngling sah sich schon als den abgelebten Greis, das erschreckende Bild der frühen Abgestorbenheit. Dann sagte er sich wieder: »wie anders möchte es sein, wenn ich dem Zuge meines Genius folgend, Geist und Körper in ewiger Spannung hielte!« Und er kam wieder auf die Vorwürfe zurück, daß er sich selber untreu werden und die Freiheit seines Geistes verrathen wollte. So kehrten diese Gedanken stets in ihm wieder; unaufhörlich auf und nieder wälzten sie sich in seiner Seele. Er warf sich von der rechten Seite auf die linke und wieder auf die rechte, aber er konnte die Ruhe nicht erzwingen. Endlich, als schon der Morgen graute, senkte sich der Schlaf über ihn. Er ruhte ermattet ein paar Stunden. Dann fühlte er sich gewaltsam geweckt. Seine Mutter stand vor ihm und rief ihn, sich zur Kirche zurecht zu machen.

So holde Bilder umgaukelten ihn, als er sich niederlegte. Jetzt hatten die rastlosen Gedanken sie zerrissen und die kahle Leere des Zweifels starrte ihn von allen Seiten an. Geistig und körperlich ermattet ging er an sein trostloses Handwerk.

Nichts begegnete ihm heute, als was ihn störte oder verletzte. Der Schlaf am späten Morgen hatte seine Nerven erschlafft; die Erschreckung beim Erwachen hatte ihm Kopfschmerz zugezogen. Als er zum Frühstück in das Wohnzimmer trat, fiel die erdrückende, warme Temperatur auf ihn und machte sein Befinden noch mehr unleidlich. Der Segen des Vaters und die Rührung der Mutter beim Abgange zur Kirche vollendeten seine Verstimmung.

Durch den Wechsel der Stimmungen und den Kampf der Entschlüsse war das Gemüth des jungen Geistlichen heute empfindsam wie eine Frauenseele. Wunderbar wehmüthig wurde er berührt durch die heilige Stille der einfachen weißen Kirche, in die der Sonnenschein so hell und andächtig hineinfiel. Als nun aber das Brausen der Orgel, die der Cantor mit Meisterschaft spielte, ihn umrauschte und mächtiger und immer mächtiger in schwellender Flut auf seine Sinne eindrang, fühlte auch er sich zu heiliger Stimmung gewaltig emporgehoben. Aber wieder waren es seine Gedanken, die in schneidenden Contrast zu der Empfindung traten, der sein Gemüth sich hingeben mußte. Hinauf, hinauf wollten die Orgeltöne ihn erheben. Bei sich aber mußte er denken: »Wohin hinauf? Ins Leere? ins Nichts? – O, du Gott, an den ich glaube, du Gott des Weltgeistes, Geist der Menschheit, für dich sollte ich mich fortreißen lassen, aber vorwärts, vorwärts, weiter und ewig weiter ins volle Menschenleben hinein! hier auf dem sichern Boden der Erde, nicht ins Oede der Wolken hinauf! O, mein Gott, kann ich dich verrathen? kann ich nicht dir mich nachreißen? muß ich deinen dahinbrausenden Gang über mich hinwegschreiten lassen?«

Das Orgelspiel endigt. Der letzte Vers des Kirchenliedes wird ohne Begleitung begonnen. Ernst besteigt die Kanzel und verräth aufs Neue seinen Gott und sich selbst. Was er predigte, waren die schwülstigen Anschauungen der Philosophie, die das Unbegreifliche des Christenthums als reinste Vernunft begreifen will. Ernst verstand selbst nicht diese Theosophie, und keiner von den Landleuten konnte ihn verstehen. Bei jedem Worte fühlte er, wie durch und durch unbrauchbar er für das Amt dieser heiligen Stätte war: um seiner Gemeinde zu genügen, mußte er heucheln und doch konnte er sie auch durch seine Heuchelei nicht befriedigen.

»Amen!« sagte er, als er den Gottesdienst schloß und dieses Amen hörte er immer noch in seinem Geiste fort. Er hatte den Nachmittag einsilbiger und mürrischer wie je im Familienzirkel hinter sich gebracht und stahl sich, als der Alte vor der lauen Abendluft in die Stube floh, in die Laube von wildem Wein. Es war ein herrlicher, friedlicher, erquickender Abend; die Luft war so würzig, die Nachtigall sang, die Grillen zirpten, der Mondschein fiel durch das Blätterdach der Laube und zitterte auf dem Tische darin. Ernst hatte den Kopf auf den Tisch gelegt.

»Amen!« seufzte er vor sich hin, »Amen!« Einen Fluch statt dieses Amen hätte er von der Kanzel schleudern mögen und trug ihn noch immer auf der Zunge.

Schon manchen harten Kampf hatte er, der denkende Philosoph, gegenüber dem bestehenden Dogma in sich durchgemacht, aber noch nie war ihm der Gegensatz zwischen den Forderungen der Kirche und den Bedingungen seiner Vernunft so schneidend scharf ins Herz geschnitten. Bei den meisten Menschen gilt die alte Lebensweisheit, daß der Gegensatz der Principien, der in der Theorie hervortritt, im praktischen Leben sich von selbst versöhne. Ernst Wagner gehörte nicht zu diesen vermittelnden Charakteren. Aus jedem Worte, das er jetzt von der Kanzel sprechen mußte, tönte die Lüge zurück gegen sein anders denkendes Selbst. Von dieser Lüge sah er sich nun zeitlebens unterworfen und gefesselt. Der Muth der Ueberzeugung, der ihn früher gegenüber der Macht der Kirche beseelt hatte, wurde jetzt in ihm zum bittersten Hasse gegen sie und den Glauben, den sie aufrecht erhielt.

Von solchen Gedanken umdüstert, genoß Ernst in der Weinlaube Nichts von dem Frieden, den der schönste Sommerabend rings um ihn über die ländliche Umgebung ergoß: auch die Natur schien den Sonntag heiligen zu wollen und hatte ihr Feierkleid angethan. Er aber fühlte Nichts, als Fluch für das Fest, all die feierliche Stille der Natur erhöhte nur den Schmerz, den der Kampf des Geistes in seinem Busen anrichtete. Er verschloß sich in sich selbst und wollte Nichts wahrnehmen von all den Reizen der Dämmerung, des Duftes und des Nachtigallengesanges. Er sah auch nicht, wie ein helles Sonntagskleid zwischen den Sträuchern des Gartens hin und her schlüpfte. Es huschte ein mal bei der Laube dicht vorbei und wieder, und dann blieb es dicht davor stehen. Es war Aennchen, die den festlichen Abend mit dem Bräutigam feiern wollte und für die heilige Andacht in der Kirche ihn mit einer süßen Andacht zu belohnen wünschte. Sie hatte ihn in den Garten gehen sehen und war schon betrübt, er möchte sich fortgestohlen haben zu einem einsamen Spaziergange. Nur in der Laube konnte er noch sein. Sie steckte das Köpfchen durch die Zweige und siehe da, dort saß er, den Kopf auf den Tisch gelegt, und der Mondschein flimmerte auf seinen schwarzen Locken. Sie dachte, er schliefe, und so blieb sie an der Laube stehen und blickte auf den lieben, heiligen Freund, indem sie ihre glühenden Wangen an die kühlen Weinblätter streifte. Ihr Blick wetteiferte mit dem Lächeln des Mondes, nur daß sie sich von seiner Melancholie nicht anstecken ließ; ihre Augen schauten so treuherzig und so heimlich munter wie die eines Rehes durch das zitternde Laub. Sie mußte ihren blassen Mitzuschauer nur darum beneiden, daß er mit seinen Strahlen das Haupt ihres Geliebten küssen konnte. Sie konnte der Lockung nicht widerstehen; ohne daß er erwachen sollte, hauchte sie einen ganz leisen, leisen Kuß auf seine dunkeln Locken. Er aber schlief nicht; er sah ihr Kleid an seinem Fuße sich niederbeugen und, ohne daß sie es ahnte, rauschte sein Arm hinter ihr an den Ranken vorbei und zog sie zu ihm hinab auf die Bank.

»Du schläfst nicht?« frug sie, indem sie von dem holden Schreck sich rasch erholte. Mit einem tiefen Seufzer drückte er sie an seine Brust und küßte sie sanft. Sie blickte ihm in die Augen, die so wehmüthig glänzten, und sah eine Thräne an seiner Wange hängen. Mit heiliger Ehrfurcht schaute sie ihn jetzt an und schlug dann die Augen so andächtig und ernst nieder, wie wenn sie in die Kirche ging. Sie glaubte, er habe gebetet und vor Inbrunst geweint.

Sie hatte den Sonntag noch nicht vergessen; festlich, wie ihr Anzug, war die Stimmung ihres Gemüthes. Hoch pochte ihr Herz vor feierlicher Rührung: der Mann, der heute die ganze Gemeinde erbaut, der Gottes Wort verkündet hatte, der nannte sich jetzt den ihren.

Ernst herzte sie und mit seinem schwermüthigen bethränten Blicke regte er in ihr auf, was von weichen Gefühlen in ihrem Busen schlummerte. Eine Fülle unaussprechlicher Ehrfurcht zugleich und Liebe schwellte ihr Herz; das Uebermaß des Gefühls trat ihr in die Augen; Thränen süßer Rührung rollten über ihre Wangen. Sie fand kein Wort für ihre Gefühle; sanft kosend legte sie die zarten Hände an sein Kinn und blickte ihn an mit liebevollem, überglücklichem Lächeln – o, dieses Lächeln unter Thränen, und diese Thränen, die so leicht hinwegrollten über die blühenden Wangen! – mußten sie doch selbst den zweifelnden Denker zu tiefer Wehmuth rühren!

Als er ihr in die holden Augen schaute, in denen der Mond sich wiederspiegelte, da war es ihm, als könne sein forttreibender Geist durch den Zauber in ihnen zu friedlicher Stille gebannt werden, als blickte aus ihnen in trauter Ruhe auch eine Unendlichkeit, die seinen Geist umfassen könne. Mit wie überirdischer Tiefe war der enge Friede gepaart, der in diesen blauen Zauberkreisen wohnte! War es doch, als hätten in diesen Augen die Veilchen des Waldes sich vermählt mit dem nächtlichen Himmel voll Sternenglanz! Traute, einfache Veilchen schienen sich hier erschlossen zu haben zur unendlichen Weite des tiefen Himmels, und der unermeßliche Himmel war niedergethaut in solch ein blaues Waldblümchen.

»Mein guter, guter Ernst, bin ich dein auch werth?« brach Anna das Schweigen. Wie stieg sie durch diese Frage in seinem Ansehen! Sie ahnt also die Größe deines Geistes und den Abstand des ihren? Wird sie sich vielleicht noch zu dir hinauf zu schwingen vermögen?

»Ach«, fuhr sie fort, »du bist so fromm, so fromm! Ich bin lange nicht so fromm wie du. Ich habe mir oft Vorwürfe gemacht, daß ich so weltlich bin; aber ich weiß mich nicht zu zwingen. Nicht wahr, du wirst mich lehren so andächtig beten wie du? Ich bin gar nicht so zerknirscht, und kann gar nicht weinen, wenn ich an Gott denke. Ich möchte es manchmal von ganzem Herzen, aber ich bin zu leichtsinnig und zu zerstreut. Nur zu Neujahr kann ich weinen, wenn die ganze Kirche weint –«

»Fromm?« war das einzige Wort, das er hervorbrachte. Die Hände, mit denen er sie umfaßt hatte, ließ er sinken. Dann strich er sich damit über das Gesicht. »Ich bin todtmüde«, sagte er, und legte seinen Kopf in ihren Schoos, ohne weiter ein Wort zu sprechen. Aennchen war erschreckt über sein plötzlich verändertes Wesen, aber sie konnte auf keinen Gedanken kommen, was die Schuld davon sei. –

Am Abende darauf foderte die Frau Pastorin ihren Sohn auf, mit ihr spazieren zu gehen. Sie gingen nach dem Kirschberge, um von der Rasenbank die Sonne untergehen zu sehen. Als sie dort ankamen, waren große Gewölke über den Abendhimmel gebreitet und sie konnten die Sonnenscheibe nicht niedersinken sehen. Die vor ihnen lagernden Wolken waren in trostloses Grau gehüllt; nur hie und da war ein orangefarbener Rand, an dem die Strahlen der Sonne sich brachen. Allmälig aber begannen diese matten Streifen mehr und mehr entzündet zu werden und weiter und weiter griff die Glut um sich; von innen schien ein belebendes Feuer die todten Massen zu durchglühen und hatte endlich den ganzen Himmel mit seinen Flammen umfaßt. Unten am Horizont war der geheimnißvoll verdeckte Quell des Lichts, das den ganzen westlichen Himmel feuerroth durchdrang und weit im Osten in kleinen, zertheilten Wolken sanft verblühte. Es war als wenn das Leben der Gottheit, von dem Urquell ausströmend, die todten Massen der Elemente zu durchdringen strebte.

Die Mutter empfand diesen Gedanken; aber sie war gewohnt, ihre Empfindungen in sich zu verschließen und sagte nur: »Gott ist die Liebe!«

Ernst verstand, was sie damit sagen wollte; aber er hielt das einfache Bild nicht für werth, davon zu reden. Er mochte die ganze, schöne Natur nicht leiden. Er wollte für das kein Interesse haben, was tausend und tausend mal geschehen und ganz natürlich sei. »Wenn mir dieser Anblick das erste mal wirklich Genuß gewährt, so darf mein Geist nicht träge dabei stehen bleiben, sondern muß in steter Entwickelung in immer Höherem immer höheren Genuß suchen. Aus dem Dasein der Natur will der Geist, der Geist ist, in das Leben der Geschichte. Und warum ergötzt mich dieses bunte Durcheinander der geistlos pinselnden Natur? Bringt es mich weiter? Erkenne ich die Wahrheit daraus? Es ergötzt und ergötzt mich, und ich bleibe dumm wie zuvor.« So dachte Ernst.

Die Frau Pastorin, als sie zurück den Berg hinuntergingen und der abendliche Himmel sich hie und da mit einem Sterne zwischen den zertheilten Wolken schmückte, sagte zu ihrem Sohne: »So lange Jemand nur den Himmel ansehen kann, ist er doch nie ganz arm und immer noch reich genug, um dem Schöpfer für sein Dasein zu danken.«

Am Fuße des Hügels wandten sie sich nach der andern Seite, um auf einem weitern Wege längs der Gartenzäune um das Dorf zurückzukehren. Ernst hatte noch kein Wort gesprochen. Die Mutter hatte ein paar mal ihn angeredet, er hatte nicht geantwortet, um ihr nicht zu widersprechen.

Endlich begann die Mutter von neuem: »Ich bin dir auch einen Dank schuldig. Du hast mir durch deine Predigten eine große Freude gemacht. Du sprichst recht lebhaft und herzlich. Aber auf eins muß ich dich aufmerksam machen, lieber Sohn, du sprichst zu gelehrt; wir können das nicht verstehen. Nimm dich doch zusammen, gewöhnlicher zu reden.«

»Ich werde von jetzt ab nur aus des Vaters Postille predigen«, antwortete er, verletzt und niedergedrückt durch den Gedanken, daß es ihm unmöglich war, sich in einfachem, populairem Tone zu bewegen.

Die Mutter merkte nicht die Ironie, die in seinen Worten lag, und sagte: »Du möchtest wol lieber in einer Stadtgemeinde predigen? Dorthin würdest du besser passen.«

»Laß das gut sein, liebe Mutter. So unendlich weit können meine Aussichten nicht gehen. Ich muß froh sein, wenn ich es noch so weit bringe, diese Dorfpfarre nothdürftig zu verwalten, und die Herren, die über das, was wahr ist, jetzt entscheiden, mich hier eine Stätte für mein Leben finden lassen.«

»Ich sehe es dir wol an«, sprach die Mutter, »und kann es mir sehr gut denken, daß dir dieses Landleben nicht ganz genügt. Aber sei guten Muthes; der tüchtige Mensch findet überall viel Gutes zu wirken, und brav und edel ist Jeder, der den Platz ausfüllt, an den der Herr ihn gestellt hat.«

Ernst schwieg. Sie gingen wieder eine Weile sprachlos neben einander her. Die Mutter wollte sehen, ob sie nicht aus seinen Mienen lesen könne, was er ihr nicht sagte; aber im Schatten der Obstbäume, neben denen sie gingen, war es schon zu dunkel; sie konnte seine Züge nicht mehr erkennen.

Sie mußte das Gespräch von neuem beginnen: »Glaubst du auch Alles, was du gepredigt hast?«

»Das weißt du ja, Mutter, wie ist es möglich, so viel zu glauben, als man zu einer Predigt braucht!«

»Ich mußte es mir allerdings denken und mache dir keinen Vorwurf deshalb. Auch ich bestrebe mich, dem Herrn wohlgefällig zu sein; aber es will mir Manches nicht einleuchten, was ich glauben sollte; und doch denke ich auch ohne dies, Gott ergeben zu sein. Man kann Christ sein ohne die todten Satzungen. Und doch habe ich oft mit Sorge an dich gedacht, mein Sohn, ob du auch nicht allen Halt verloren hast. Ist es denn wahr, daß du nicht an Gott glaubst?«

»Mutter, frag mich nicht darüber. Ich bin Mensch, und habe über mich selbst so viel nachzudenken, daß ich zu manchem Andern gar nicht kommen kann. Ich finde einen so unendlichen Reichthum des Geistes in dem Menschen, daß ich das Göttliche außer ihm gar nicht vermisse. Glaub mir, Alles was wir Göttliches in den Himmel versetzen, das haben wir in uns selbst. Wir wissen von Gott und dem Ueberirdischen gar nichts, als was wir aus unserer eigenen Brust genommen haben. Streben wir nur, Mensch, ganz Mensch zu sein, und wir werden uns selbst so genug sein, daß wir gar nichts über dem Menschen zu suchen haben.«

Ein jedes dieser Worte fiel der klugen Frau gewichtvoll in das Herz. Sie ahnte den ganzen Umfang dessen, was er damit sagen wollte. Nachdem sie eine Weile schweigend überlegt hatte, sprach sie wieder: »Aber unsterblich ist dieser vollkommene Menschengeist doch? Das wirst du doch nicht leugnen?«

»Ja, Mutter, das weiß ich so fest, wie je ein Christ an Gott geglaubt. Der Geist der Menschheit ist unsterblich; unendlicher Vollkommenheit strebt er zu.«

»Und der Geist des Einzelnen nicht auch?«

»Das – weiß ich nicht«, sagte der Sohn kurz.

»Also bezweifelst du's? Nein, Ernst, das darfst du nicht. Wir können nicht sterblich sein. O, du kennst noch die Liebe nicht, wie ich sie kenne. Die Liebe geht über das Leben hinaus; die Liebe sagt uns, daß wir mit dieser Erde uns nicht trennen, und in einer andern Welt uns wiedersehen. Ach! wozu wäre denn dieses ganze Leben, wenn es mit dem Tode aufhörte? Hier finden wir ja keine Befriedigung; mein ganzes Dasein ist nur eine Sehnsucht gewesen, und sollte sie nie erfüllt werden? Nein, mein Sohn, dann wäre das Leben mir unerträglich.«

Ernst schwieg. Er vermochte kein Wort des Widerspruchs zu sagen. Da liegt es ja, dachte er, wenn wir so leben, wie wir leben! Aber gibt es denn kein Leben, das in sich selbst Befriedigung und Vollendung findet, das der Vertröstung auf den Himmel nicht bedarf? Sein wir rücksichtslos: es gibt kein zweites Leben! und drum richten wir uns das Leben so ein, daß wir der Unsterblichkeit nicht bedürfen! – Das dachte der Theologe, aber er konnte seine Mutter kein Wort seiner innersten, freudigsten Ueberzeugung ahnen lassen. Sie hatte nun einmal nicht so leben können, daß die Sehnsucht ihrer Seele erfüllt war; und nun, da der Glaube an die Ewigkeit ihr der einzige, letzte Trost für das verfehlte Leben war, sollte er ihr auch diesen noch nehmen und sie haltlos in sich zusammenbrechen lassen? Das neue Evangelium, mit dem er sich und die Menschheit befreien und beglücken wollte, mußte er bei der Seele, die ihm die verwandteste war, still in sich verbergen, wie das Gift schändlicher Gesinnung.

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