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Siebentes Capitel.

Zänkisch und dumm« hatte Ernst von seinem Aennchen geschrieben. Er war gewiß von Allen, die sie kannten, der Einzige, der so über sie urtheilte. Die Veranlassung dazu war ein Vorfall gewesen, der in dieser Art Aennchen nur bei ihrer empfindlichen Stimmung begegnen und auch nur von dem mürrischen Ernst so beurtheilt werden konnte.

Hanne, die Küchenmagd, hatte von Aennchen, der Verwalterin des Hauses, Vorwürfe erhalten, weil sie alle Abende mit ihrem Geliebten hinter dem Gartenzaune stände und dadurch die Hausgeschäfte vernachlässige. Anna hatte ihr das in ihrer unglücklichen Stimmung vielleicht etwas härter gesagt, als sie sonst es pflegte. Hanne ließ sich ungern von der jüngeren Gebieterin etwas befehlen, und so entspann sich darüber ein Streit, wie er in jedem Hauswesen, wo die Dienstboten, dem Stande und der Bildung nach weit unter der Herrschaft stehend, nicht in die Familie aufgenommen sind, mehr oder weniger vorzukommen pflegt. Der Wortwechsel war so heftig, daß Ernst ihn in seinem Studirzimmer hörte. Er ging hinunter und als er halb vernommen hatte, um was es sich handle, redete er Aennchen zu, sie möchte doch dem armen Mädchen nicht aus bloßer Lust, zu befehlen, ihre einzige Freude nehmen, und schien dadurch der Magd das Recht zu geben. Er dachte dabei an die allgemeine Liebe, die jedes Menschen Dasein zu einem menschlichen Dasein erheben wolle und auch der Magd aus freiem Triebe das gewährte, was das Schicksal ihr versagt.

Aennchen fing an zu weinen, das wäre doch zu schön, daß er noch die Partei der Magd gegen sie ergriffe, und er sei ihr gewiß auch gar nicht mehr gut, daß er sie so behandele; das Mädchen versäume ihre Geschäfte, ließe sie selbst Alles verrichten, und sei zum Danke noch grob gegen sie – und so klagte sie weiter. Sie war so gereizt, daß sie sich nicht zu bezwingen vermochte. Als es ihr Geliebter aber vergeblich fand, seine socialistischen Ideen gegen sie anzuführen und ihr den Rücken drehte, da fühlte sie es, daß sie ihm albern und unzart erschienen sei. Mit wehmüthigem Auge sah sie ihm nach und hätte ihn flehend um Verzeihung für ihr Betragen bitten mögen. Aber er verschloß sich wieder in sein Zimmer, und sie ging einsam in die Laube, um sich den neuen Schmerz auszuweinen, daß sie in ihrer schmerzlichen Stimmung sich so dumm benommen. »Ach, das kommt Alles von dem einen Unglücke«, dachte sie bei sich, »und es wird immer und immer schlimmer; wir werden uns zuletzt noch ganz gram.« Sie sah es klar vor Augen, wie ihr inniges Verhältniß zu Ernst schon so gelockert sei und Gefahr liefe ganz gelöst zu werden. Unter den Thränen gekränkter Liebe nahm sie sich vor, Ernst demüthig um Entschuldigung zu bitten für den heutigen Vorfall und ihm zu sagen, wie sehr sie liebe und wie sehr sie leide.

Am nächsten Abende wollte sie deshalb sich den Muth nehmen, Ernst zu bitten, daß er mit ihr spazieren gehe. Er war den Nachmittag fort nach dem nächsten Postamte, um den Brief an Dr. Horn nach Berlin zu schicken. Als er wiederkam, paßte ihm Aennchen auf, um ihn nicht wieder entschlüpfen, zu lassen. Er aber ahnte ihre Absichten und erklärte ungefragt, er sei heute schon so weit gelaufen, daß er müde sei und deshalb nicht mehr gehen werde; er wolle heut Abend einmal den Herrn Cantor besuchen.

Aennchen war tief niedergeschlagen darüber; sie sah die Aufklärung zwischen ihr und dem Geliebten wieder hinausgeschoben; und dann war es ihr im Besondern unlieb, daß er gerade den Cantor besuchte, da dessen noch immer schöne und junge Frau nicht im besten Rufe stand. Sie beschloß, Ernst bei der Rückkehr zu erwarten, um dann noch mit ihm reden zu können.

Herr Cantor Zabel war ein verdorbenes, musikalisches Genie und hatte sich lange in Berlin herumgetrieben, ohne es zu Etwas bringen zu können, bis er seine Frau, eine Sängerin vom Theater, heirathete, wie man sagte, die Maitresse eines Prinzen vierten Grades, die zur Aussteuer durch die Cantorstelle apanagirt sei. Aus Herrn Zabel's gelbem, ewig lächelndem Gesichte las man den Kriecher heraus, der gegen seine Umgebung dabei eine hinterlistige Verachtung fühlt. Er hatte Menschenkenntniß genug, um Ernst's Stellung zu seinem Amte und seiner Familie zu durchschauen und sich ihm gegenüber als verkanntes Genie, als Schicksalsgenossen zu benehmen. Durch treffend scharfe Bemerkungen, die er ihm im Vertrauen mittheilte, hatte er dessen Aufmerksamkeit erweckt, und durch Erzählung von den musikalischen Unterhaltungen seiner Familie das Verlangen nach seinem Umgange rege gemacht.

Ernst wurde äußerst zuvorkommend von Herrn Zabel, seiner Tony und deren Schwester Fanny empfangen. Um Grund zu haben, eine Punschbowle zu machen und den jungen Herrn Pastor den Abend über in seinem Hause zu behalten, gab dieser vor, es sei heute Tony's Geburtstag, worauf sie schnell einzugehen wußte, indem sie Ernst bat, ihr Fest durch seine Gegenwart zu verherrlichen.

Die Bowle dampfte bald auf dem Tische, die Fensterladen wurden geschlossen und es begann die poetisch-frivole Unterhaltung, die das saubere Ehepaar aus der Berliner Grisettenwirthschaft in die stille Landwohnung mitgebracht hatte. Zuerst wurde musicirt, auf dem Flügel und der Violine gespielt und gesungen. Man sah es den Dreien an, daß die Musik in ihnen lebte, und Ernst erinnerte sich nicht, sie besser gehört zu haben, wenigstens hatte sie nie einen so lebhaften Eindruck auf ihn gemacht wie heute auf sein empfindliches Gemüth. Der Sinnenreiz der Musik, das berauschende Getränk und die ausgelassene Gesellschaft versetzten den jungen Geistlichen in eine Fröhlichkeit, die allen seinen Kummer zurückdrängte. Aber es war das jene übertäubende Fröhlichkeit, der das Gemüth sich hingibt mit dem Gedanken: Thor, weil du es sonst nicht sein kannst, willst du diesen Augenblick auch nicht fröhlich sein? – eine Fröhlichkeit, die weit entfernt war von jenem ruhigen Glücke, das Ernst's Mutter zu derselben Stunde beim Anblick des Sonnenunterganges empfand.

Madame Tony war zuerst des Singens müde und setzte sich neben ihren Gast auf das Sopha, während ihr Herr Gemahl in der Fensternische ungenirt laut mit der schöneren Schwägerin schäkerte. Sie ließ ihre weißen Zähne nach Möglichkeit sehen, warf mit den großen, lebhaften Augen und den dichten, schwarzen Locken um sich und wußte sich bei dem jungen Theologen, der im Umgange mit Frauen eine kindliche Befangenheit besaß, noch gar reizend zu machen.

Der Cantor setzte sich mit Fanny dann auch zu dem Punschnapfe und da er wol wußte, welches Thema seinem Herrn Pastor das liebste Gespräch sei, so fing er an auf die Regierung zu schimpfen, und raisonnirte darüber, daß man die ausgedienten Corporale wieder zu Schullehrern machen wolle, wie in den glorreichen Zeiten des alten Fritz. »Das Beste des Volkes wollen die Herren«, sagte er, indem er einen Witz, den er in der Zeitung gelesen hatte, anbrachte. »Aber was ist unser Bestes? – das Geld! und das wollen sie.«

Auch Ernst machte seinem lange zurückgedrängten Grolle Luft; er freute sich, wieder einmal gegen Jemand seine Meinung äußern zu können, und nahm diese seltene Gelegenheit wahr, all seine Bitterkeit zu erschöpfen. Er sprach von der Regierung, die aus dem Volke hervorgeht, und von dem Königthum von Gottes Gnaden und sagte dann: »Das größte Elend dabei ist das, daß der Geist des Volkes krank wird und verkrüppelt. Alle höheren Kräfte des Menschen richten sich auf das Allgemeine, sie streben dem Staate zu. Das Leben des Staats aber ist uns abgeschnitten, und die Geisteskraft, die ihrer Bestimmung nicht folgen kann, richtet sich gegen sich selbst, entartet in der Unnatur und reibt sich in sich selber auf. Die Gängelbänder sind gut für das Kind, das noch nicht gehen kann; wenn das Kind aber wächst, und die Schnürbänder werden nicht erweitert, dann muß es ein Krüppel werden, oder – es wird seine Schnürbänder zersprengen. Und wehe, wehe, wenn –«

Bei diesen Worten pochte es an den Fensterladen. Alle fuhren zusammen; Tony fiel vor Schreck ins Sopha zurück an Ernst's Seite und stellte sich halb ohnmächtig, sodaß er ihr behülflich sein mußte, ihr enges Kleid zu lüften. Herr Zabel öffnete das Fenster.

»Herr Cantor, ob Sie vielleicht eine Herrschaft für die Nacht in die Fremdenstube bei sich einlogiren könnten? Sie sind vor dem Kruge mit der Kutsche angekommen und der Herr Krüger will sie nicht gern haben; er meint, es ist bei ihm nicht fein genug und das macht nur viel Schererei. Sie haben nämlich die Axe gebrochen und darum sind sie so spät angekommen. Sie wollten anfangs bei Pastors gehen, allein ich meinte, das ginge nicht, die gehen um 9 Uhr zu Bett.« So sprach die näselnde Stimme des Nachtwächters zum Fenster hinein.

»Ei was!« rief die befehlerische Tony, ärgerlich, gestört zu sein, von ihrem Platze ihm zu, ohne abzuwarten, was der Mann sagen würde. »Wir wollen die Schererei auch nicht haben. Sag Er nur, wir haben Besuch und es geht nicht.«

Der Störer wurde abgefertigt und Herr Zabel, indem er das Fenster wieder schloß, fügte hinzu: »Das vornehme Pack kann immerhin die Strohsäcke einmal probiren. Sie muthen uns sonst ein zu dickes Fell zu; mag sie's auch einmal drücken!«

Man lachte nun über den Schreck. Tony aber, die noch sehr angegriffen that, bat, ja nichts Hochverräterisches mehr zu reden. Ernst brachte einen Toast auf das Geburtstagskind und Jeder leerte sein Glas, um wieder guter Dinge zu sein. Der Punsch war kalt geworden und trank sich schneller. Tony füllte ihrem Nachbar Glas auf Glas und zog ihn durch ihre Liebenswürdigkeit in ein lebhaftes Gespräch. Sie erzählte von ihrer künstlerischen Laufbahn, ihren Partien und ihren Triumphen. Der unerfahrene Theologe glaubte Alles, was sie sagte, und hörte ihr staunend aufmerksam zu, indem ihm der Punsch schon gewaltig im Kopfe herum ging. Sie sprach lebhafter und lebhafter, er wurde mehr und mehr eingenommen und vergaß über sie ganz die andere Gesellschaft, als er es plötzlich wie einen schmatzenden Kuß durch die Stube schallen hörte. Er wandte sich um. Fanny war trunken in die Lehne des Stuhls zurückgesunken; ihr üppiger Busen wogte heftig, als wolle er dem beengenden Mieder entquillen; der Kopf war ihr zurück ins Genicke gefallen, ihr Schwager hatte ihn von hinten erfaßt und küßte sie mit einem wahrhaften Satyrgesicht, halb lüstern, halb boshaft.

Ernst fürchtete nun eine Scene von Tony's ausbrechender Eifersucht; diese aber lachte laut auf und sagte: »Warte, liebes Ehegespunst, das will ich rächen.« Damit bog sie sich zu ihrem Nachbar hinüber und setzte den schüchternen Candidaten in die Verlegenheit, sie küssen zu müssen. Ernst glaubte darin nur Scherz zu sehen, sie aber legte ihre feuchte Hand an sein entblößtes Genick und preßte sein Gesicht so heftig an sich, daß er im Kusse ihre Zähne fühlte. Die Falten ihres Kleides bauschten sich bei der Armbewegung. Ernst's Sinne schwindelten. Wie ein jäher Schreck fuhr es ihm durch die Glieder. Er fühlte sich beängstigt, unwohl und brach auf.

Taumelnd trat er in die frische Nachtluft. Eine weiche, schwelgerische Ruhe war über die Erde ausgebreitet. Der Mond schien nicht und die Sterne flimmerten hell vom Himmel; kein Lüftchen regte sich, kein Laut war zu vernehmen; die Luft war duftig lau. Ernst wankte über die Straße an der Kirche vorbei. In seiner Brust fühlte er eine wüste Leere. Er mußte sich sagen: »Diese Leute leben doch wenigstens, und sie wissen doch, warum sie nicht sterben möchten!« Aber – hätte er so leben mögen? Ihm schauderte vor dem Gedanken, so tief sinken zu können. Seine Verzweiflung, so eben übertäubt, begann durch den Rausch verstärkt in ihm wach zu werden. Er blickte um sich und gewahrte die tiefe, selige Stille, in die die Natur sich versenkt hatte. Aber sein Gemüth war nicht fähig, ihr sich hinzugeben und in ihr Besänftigung für seinen Kummer zu finden; empört wurde er über diese Ruhe, die so schroff der Ruhelosigkeit in seinem Busen widersprach. O, unvereinbarer Gegensatz! rings der anmuthende Friede der Natur, hier im Menschenherzen der ewig fortdrängende Kampf des Geistes! Ernst fühlte diesen Riß mitten durch sein Wesen gehen. Nichts konnte er thun, um ihn zu heilen! Sein Auge starrte in das leere Dunkel, es konnte kein Ende absehen. Geballt streckte er seine Fäuste vor sich, die Natur zum Kampf um ihren Frieden herausfodernd. Krampfhaft verzogen sich seine Mienen; in seiner Verzweiflung wußte er nichts, als im tollen Humor der Trunkenheit dem Himmel ein Gesicht zu schneiden.

Die Thurmuhr, die über ihm die Mitternachtsstunde anzeigte, weckte ihn aus seinen Phantasien. Er mußte der Wirklichkeit wieder angehören und nach Hause gehen. Er klopfte an der Thür des Pfarrhauses. Alsbald wurde geöffnet und seine Braut stand vor ihm.

Leichenblaß und bebend vor Ermüdung und Aufregung stand sie da, in der einen Hand den Leuchter, mit der andern das Umschlagetuch sittsam unter dem feinen, leidenden Gesichte zusammenhaltend; wie ein Heiligenschein glänzten die Strahlen des Lichtes auf den einfachen, goldblonden Scheiteln; die schüchternen, blauen Augen waren so matt, als wollten sie jeden Augenblick zufallen, wenn nicht die feuchten Perlen dazwischen gelegen hätten; die Lippen waren bleich und dicht geschlossen; eine ernste Festigkeit ruhte auf ihnen, die sonst ihrem sanften Wesen fremd war. In wenig Stunden war das liebende Mädchen so anders, so viel größer geworden; der Schmerz hatte sie verklärt und erhöht. Als die Tante und dann auch Hanne zur Ruhe gegangen waren und sie Stunde um Stunde auf Ernst wartete, war der Gedanke ihr eingekommen, er könne ihr untreu werden; nur die Möglichkeit davon war ihr eine nagende Qual und sie fühlte in dieser Qual zum ersten mal, was eine Leidenschaft ist. Als er ihr nun verstört entgegentrat, die Augen tiefliegend, die dunkeln Haare verwirrt ins blasse Gesicht hängend, schrak sie zusammen: »Herr Gott! Wie siehst du aus, Ernst? Was fehlt dir?«

»Mir?« lallte er, »Nichts – Alles.« Er blickte sie an und empfand jetzt, was diese schüchterne, reine Schönheit war gegenüber der frechen Ueppigkeit, die ihn eben zu verführen suchte. Die Macht, welche das liebliche, heitere Aennchen über ihn nicht gewonnen hatte, übte die ernste, trauernde Schönheit an ihm aus. Wie bezaubert versank er in ihren Anblick und fühlte sich niedergezogen zu ihren Füßen. Demuthvoll erfaßte er den Saum ihres Tuches und mit gefalteten Händen betete er sie an in stummer Entzückung. Sie fürchtete sich vor ihm, hüllte sich fester in ihr Tuch und, indem sie wie abweisend sich mehr emporrichtete, sah sie mit ernstem Blick zu ihm nieder.

»Engel!« bebten endlich seine Lippen, und er sah sie an mit einem Blicke ernster, wehmüthiger Trunkenheit, der ganz Hingebung und Offenheit war, als wäre die Seele selbst herausgetreten vor die Fenster, hinter denen sie sich sonst nur ahnen läßt, – ein Blick, wie er nur möglich ist in der Berauschung des Weines oder der Liebe, wo die Seele nur Empfinden ist und das Denken vergißt. »Engel«, sprach er dringender mit zitternder Stimme, »himmlische Unschuld du, so rein, so rein –! Anbeten muß ich dich! So göttlich schön kann die Natur sein, – hat sie nicht die Macht, mich glücklich zu machen? Anna, du bist so zauberisch schön, so himmlisch groß, kannst du mich nicht bezaubern? kannst du mich nicht glücklich machen? O, bitte, bitte, Anna, um meiner Seele willen, mach mich glücklich!« Im Taumel seiner Empfindungen brach sein tiefster Schmerz hervor; wie in verzweifeltem Gebete zog er heftig an ihrem Tuche; seine Stimme erstickte in Thränen.

Anna konnte nicht begreifen, was er sagen wollte. Sie hatte noch den Verdacht im Gedanken, der sie den ganzen Abend gequält, und verstand das Glücklichmachen im falschen Sinne. »Geh, du bist häßlich«, sagte sie, indem sie sich von ihm losmachen wollte, »du bist betrunken!«

Ernst merkte aus dem Tone, mit dem sie das »betrunken« sprach, welche Sünde, welcher Widerwille für sie darin lag, die unter so nüchternen Menschen aufgewachsen war. Er fühlte sich beschämt und, um ihr Abbitte zu leisten, ließ er sie mit der Offenheit, deren er nur im Rausche der Gefühle gegen sie fähig war, auf den Grund seiner Seele blicken und die Ursache seiner Zerrissenheit erkennen, die er ihr sonst fest verschlossen hätte. Er änderte seinen Ton und suchte die Trunkenheit zu verbergen, die aber wieder bei jedem Worte mehr aus seinem exaltirten Wesen hervorbrach. »Zürne mir nicht, liebe Anna«, bat er sie; »ich bin schon so unglücklich. O, du ahnst es nicht, wie ein Mensch leiden kann; du ahnst es nicht, was für ein Riß mitten durch mein Herz geht, wie ich dich liebe und wie es mich von dir reißt. Aber – ich kann meine Gedanken nicht vergessen. Nein, meine Gedanken kann ich doch nicht vergessen! Und darum kann ich dieser Welt nicht gehören, dieser Welt der Kleinlichkeit und der Gemeinheit, diesem verhunzten Afterbild des Geistes –!« Hier fluchte er plötzlich mit auffunkelndem Blicke so wild, daß das Mädchen zusammenfuhr. Er hielt ein, um sich wieder zu sammeln und sprach weiter, in wehmuthsvolles, sanftes Träumen versinkend: »Ja, du bist so schön, meine Anna, so rein, so hold, so groß – wie ist es nur möglich, daß der Geist dir fehlt, daß die befreiende Idee nicht lebendig in dir geworden ist! Ich! ich werde irre am Geiste, an mir selbst, an meinem ganzen Leben – ich bin todtmüde – ich möchte für immer einschlafen zu deinen Füßen – versinken ins Nichts –.« So lallte er, indem er sein Gesicht in ihr Tuch hüllte, und war nahe daran, von seiner Besinnung verlassen zu werden.

Anna sah trübe vor sich in das verflackernde Licht; sie konnte kein Verständniß ihres Schicksals finden. »Ernst, das Licht brennt herunter, du mußt gehen«, rief sie ihn. Er raffte sich mit einem Seufzer auf, gab ihr in Trübsinn versunken die Hand und stolperte die Treppe hinauf. Angekleidet warf er sich auf sein Bett und versank in todähnlichen Schlaf.

Auch Anna vergaß es, sich zu entkleiden. Erschüttert sank sie vor ihrem Bette nieder. Der Kummer, der sie lange schwer gedrückt, brach plötzlich in lauten Schmerz aus. Wie durch einen fremden Zauber war wider seinen Willen das Herz des Geliebten ihren Blicken bloßgestellt worden. Sie, die sich nur mit Wohlbehagen in der Welt bewegt und in steter Eintracht mit den Kreisen dahingelebt hatte, die sie selbst sich geordnet und verschönt, sah nun mit einem male eine jähe Kluft vor sich geöffnet und jenseits eine neue, ungeahnte, dunkle Welt, und dort hinüber war das Herz gerissen, das ihr das theuerste war auf Erden. An einem Abgrund stand sie händeringend, thränenlos vor Entsetzen. Dann brach ihr Schmerz in heftigen Krampf aus; laut schluchzte sie, Thränen strömten aus ihren Augen, verzweifelnd schlug sie sich den Busen. Sie suchte sich von sich selbst zu befreien und empfahl sich Gott. »Steh mir bei, himmlischer Vater, steh mir bei!« sagte sie außer sich unaufhörlich, um den Krampf ihres Herzens zu beschwören. Endlich wurde sie ruhiger; die Thränen flossen sanfter; ihr Köpfchen sank zurück in die Kissen; noch ein paar mal schluchzte sie laut; dann seufzte sie nur noch ein mal tief auf und – war in Schlaf versunken. Die ungestörte Harmonie ihrer Natur, in der Leib und Seele noch nicht durch Kampf und Ueberreizung in ungleiches Schwanken gerissen waren, zog mit der körperlichen Ermüdung den ringenden Geist in die wohlige, schmerzlose Dämmerung des Nichtseins dahin.

*


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