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Zweites Buch.
Berliner Genies.

 

Erstes Capitel.

Wer von dem Frankfurter Bahnhofe zu Berlin in die Königsstadt eingeht, kommt durch lange, breite, mit kasernenartigen Häusern besetzte Straßen, die von dem Eigenthümlichen der Residenz nur das erdrückend Einförmige und Endlose, nicht aber die Pracht und das bewegte Treiben theilen. Dem Reisenden, der an der Pfarrerwohnung zu Hansdorf vorüberkam, deutete das freundliche Haus auf freundliche Einwohner und mußte in ihm den Wunsch erregen, einen Blick in das gemüthliche Leben derselben zu thun. Aber an dem Leben der Menge, die hinter diesen unendlichen, farblosen Wänden übereinandergethürmt ist, geht der Fremde mit wehmüthiger Gleichgültigkeit vorüber; nur Gewöhnlichkeit und Langeweile gähnen ihn an aus den drei- und vierfach übereinander gebauten Fensterreihen. Von diesen tausend und tausend blinden oder glänzenden Scheiben, da ist eine, hoch im dritten Stockwerke eines großen, unfreundlichen Gebäudes, die birgt eine Perle in diesem unendlichen Meere gleichgültigen Daseins, einen Stern, der in manches Leben noch Glück und Unglück hineinstrahlen sollte.

Da saß ein Mädchen, das Kinn in die Hand, den Arm auf das verblaßte Fensterkissen gestützt; der am Ellbogen geplatzte Aermel des dunkeln Kattunkleidchens verräth einen weißen Arm; das mitternachtschwarze Haar ist schlicht gescheitelt; zwei einfache Flechten biegen es an den Backen zurück; der Teint ist nicht ungewöhnlich zart, sogar ein wenig gelblich angekränkelt, auf dem länglichen Gesichte läßt ein Zug des Verdrusses nichts Anmuthiges wahrnehmen. In allem dem trug die Erscheinung nichts Auffallendes, ja sie war gleichgültig und langweilig wie ihre ganze Umgebung. Nur eins an ihr war doch auffallend, das Auge, aber nicht durch Frische und Lebhaftigkeit, sondern durch die ruhige Größe, durch die hohe Wölbung der aufgeschlagenen Lider, und die Tiefe des Nachdenkens, die unter ihnen hervorblickte. So saß das siebzehnjährige Mädchen alle Morgen dort in der frühesten Stunde des Tages und schien die Träume ihres Schlummers noch einmal nachzuträumen mit dem Gefühle, daß die Wirklichkeit ihnen so schroff widersprach. Es war nicht etwa ein zärtliches vis-à-vis, was sie ans Fenster lockte; sie schaute über die Dächer hinweg nach dem Himmel. War er klar, so sah sie mit wehmüthigem Andenken in seine unergründliche Tiefe; zogen Wolken darüber hin, so flogen ihre Gedanken in verlangender Sehnsucht mit ihnen hinweg; war er, wie heute, grau bedeckt, so versenkte er sie noch tiefer in finstere Schwermuth.

»Phindel! Komm deinen Kaffee trinken. Was du man immer am Fenster zu sitzen hast! Daß das man keine Sponsalie mit drüben ist!« So rief aus dem Nebenzimmer in gedehntem Berliner Tone eine grämliche Frauenstimme zu unserer Perle hinüber.

Sie ließ sich in ihrer Ruhe nicht stören; verächtlich verzog sie ihr Gesicht und sagte vor sich hin: »Pah! so grau wie die Häuser, so gräulich sind mir alle die Menschen.«

»Phindel!« rief nach einer Pause dieselbe Stimme noch grämlicher, indem man Löffel klappern hörte. »Kommst du denn nicht? Mach man, daß du deinen Kaffee trinkst. Du mußt mich heute noch zwei Stunden an deiner Häckelage arbeiten, und dann hast du noch in die Stunden zu laufen. Allens auf den Punkt, sagt der Onkel, und ein Frauenzimmer ist dazu geschaffen, Ordnung zu halten. Wenn du das nicht mal kannst; wer wird dir da heirathen wollen? Und du weißt, was der Onkel sagt, daß es bei dir gar sehr Noth thut, dir an Ordnung zu gewöhnen. Du hast ganz so den Penchant, in das Temperament deiner seligen Mutter einzuschlagen. Gott behüte, daß es mit dich so ein Ende nimmt, wie mit sie. Allein davor müssen wir sorgen. Nun wird's bald! Allons! Ich geb den Kaffee sonst der Juste raus.«

Phindel war bereits im Begriff gewesen, sich zu erheben, als aber das Wort »heirathen« fiel, blieb sie gerade sitzen und stemmte trotzig ihr Gesicht auf den Arm; es machte ihr eine boshafte Freude, die Tante die Frühpredigt plappern zu lassen, die sie alle Morgen hören mußte, um sich sagen zu können, daß sie doch ganz in den Wind gesprochen sei. Als jedoch die Drohung mit der Entziehung des Kaffees kam, wußte sie, daß nun die Andacht zu Ende sei; deshalb erhob sie sich, indem sie mit der Hand über die Augen fuhr und die Bilder aus einer andern Welt verscheuchte.

Ohne ein Wort zu reden, trat sie verdrießlich in das Zimmer, wo die alte, dicke Tante in nicht gerade sauberem Negligé auf einem dem entsprechenden Sopha bei einer großen Kaffeekanne von braunem Geschirr saß und eine Tasse nach der andern schlürfte. Phindel setzte sich ihr gegenüber, that das kleine Stückchen Zucker, das auf ihrer Untertasse lag, in den Kaffee und rührte ihn lange mit dem Löffel um. Während die Tante eine Prise nahm, paßte sie die Gelegenheit ab, in die Zuckerschale zu greifen und sich ein größeres Stück zu mausen. Es war das eine Gewohnheit, die sie sich von Kindheit an nicht zur Sünde anrechnete und sich jetzt um so mehr gestattete, da sie nun als Erwachsene das Recht zu haben meinte, ebenso süßen Kaffee zu trinken als die Tante.

Kaum hatte sie den sündlich süßen Kaffee und ihre Semmel verzehrt, so trieb die Tante sie auch zur Arbeit. »Punkt sieben sollst du anfangen, und ich habe es schon längst schlagen gesehen.« Nämlich der Zeiger der Wanduhr war lose und bezeichnete die Minuten nicht; schlagen aber konnte die Frau Tante es nicht hören, weil sie ein wenig harthörig war, und so mußte sie mit dem Auge auf das Sinken der Gewichte aufpassen, um zu wissen, daß die Stunde voll sei. Als die Nichte sich erhob, um zu gehorchen, fuhr sie fort: »Heute gebe ich dich kein Buch, dabei zu lesen, du kommst mich sonst gar nicht vom Flecke. Bähr's wollten die Decke in acht Tagen haben und du bist in vierzehn Tagen auch noch nicht fertig.«

Mit Unlust fügte das junge Mädchen sich in ihr Schicksal. Sie nahm ihre Arbeit aus der Commode und setzte sich im anderen Zimmer vor ihren Arbeitstisch auf den gewöhnlichen Platz am Fenster. Ihr gegenüber hing ein nicht ganz modern gemaltes und gekleidetes Portrait einer schönen, üppigen Frau. Die Züge waren Phindel so ähnlich, daß man das Bild ihrer Mutter darin errathen konnte. Wie alle Morgen saß die Tante auf dem Sopha von ungewisser Farbe und las, die große Hornbrille auf der Nase, einen Leihbibliothekenroman. Die Nichte hatte ihre Häckelarbeit vor sich; sie zwang sich zu arbeiten; oft aber ließ sie die Hände in den Schoos sinken und blickte aus den großen Augen wehmüthig zu dem schönen Bilde empor, jetzt selbst das schönere Bild einer schmerzvoll betenden Jungfrau. Nicht mehr ihr Auge allein war auszeichnend, ihr ganzes Antlitz bot den Zauber melancholischer Schwärmerei.

Als die Tante es neun Uhr hatte schlagen gesehen, wurde Phindel aus ihrem Sinnen geweckt und mußte sich aufmachen, um in einem entfernten Theil der Friedrichsstadt zwei Musikstunden zu geben, die ihr mit zwei guten Groschen bezahlt wurden. Sie warf ihr grau und gelb carrirtes Umschlagetuch über und setzte den vergilbten Strohhut mit der dunkelgrünen Schleife auf.

»Es wird noch regnen. Nimm dich den Parapluie mit«, commandirte die Alte. Phindel gehorchte und holte einen alten, rothen Familienschirm aus dem Kleiderschranke. Sie ging, ohne der Tante, die ihr mit dem Kopfe zunickte, adieu zu sagen.

»Komm man Punkt zwölf Uhr nach Hause; du weißt, der Onkel kann nicht mit dem Essen warten«, so rief diese ihr noch vom Sopha nach, als sie schon die Thüre schloß.

»Beste Juste, verstecken Sie mir den Regenschirm; ich soll ihn mitnehmen und kann doch mit dem Ungeheuer nicht auf die Straße gehen.«

»Schon gut, Fräulein Phindel«, sagte das Dienstmädchen lächelnd und Fräulein Phindel ging, indem sie den Regenschirm in der Küche stehen ließ. –

Das junge Mädchen war eine Waise. Ihre Mutter war eine schöne Frau gewesen, die ein unglückliches Ende nahm. Ihre Leidenschaft zur Kunst verführte sie, ihren wohlhabenden Mann zu verlassen und einem Schauspieler auf das Theater zu folgen. Von diesem verlassen, mittellos und leidend, mußte sie bei ihrem Bruder eine Zuflucht suchen, der sie unwillig aufnahm. Durch ihre Schicksale gebeugt, ihr Leben bereuend, verfiel sie nun in pietistische Ueberspanntheit und erzog ihre junge Tochter zu derselben religiösen Schwärmerei, zu der sie in einem stürmischen Leben sich emporgesündigt hatte. Sie bildete ihre musikalischen Talente aus; aber sie schied von ihr in das andere Leben, indem sie sich das Versprechen geben ließ, daß sie nie die Breter betreten wolle, um vor gleichem Unglück verschont zu bleiben und ihrer Seele Heil zu bewahren.

Das fünfzehnjährige Kind blieb nun in den Händen des Onkels und der Tante, die die Vollendung ihrer Erziehung aus den Händen ihrer schwärmerisch verehrten Mutter übernahmen. Der Onkel war Victualienhändler, eine geizige, rohe Krämerseele, dem die Erziehung des fremden Kindes eine Pflicht war, die er nun einmal nicht von sich weisen konnte. Er war ein Mann von Grundsätzen; er nannte alle Weiber leichtsinnig, weil die seinige ihm einmal eine Zeit lang davon gegangen war, und haßte alle Schauspieler als Verschwender, weil seine Schwester durch einen ins Unglück gerathen war. Mit diesen »Grundsätzen« erzog er seine Nichte; er setzte es sich zur Pflicht, das Temperament ihrer Mutter in ihr nicht aufkommen zu lassen. Um sie an Arbeitsamkeit zu gewöhnen, verlangte er mit unnachsichtiger Strenge von ihr die angestrengteste Beschäftigung; um sie zur Häuslichkeit zu erziehen, versagte er ihr jede gesellige Freude und hielt sie mit Unerbittlichkeit Wochentags und Sonntags im Hause eingeschlossen.

Aber – der arme Moralist hatte wol Recht, auf die Frauen erzürnt zu sein! Während seine Alte, Phindel's »Tantchen«, alle seine »Grundsätze« anerkannte und stets selbst im Munde führte, wurden sie hinter seinem Rücken doch umgangen. Die gute, alte Tante hatte nun einmal das zu gefällige Gemüth aus ihren schönen Jahren beibehalten und konnte gegen die liebe Jugend nicht so streng sein. Sie konnte die feinen Herren, die das Nichtchen in Onkels Abwesenheit besuchten, nicht abweisen; ja, sie hatte dieser die »schöne Stube« für ihren Aufenthalt und ihre Besuche eingeräumt und war trotz der strengen Grundsätze, die sie stets auf der Zunge trug, glückselig, wenn ihr Phindel »bekurt« wurde. Sie ließ es zu, daß das Mädchen Geschenke von ihren Verehrern annahm, die aufgetragenen Arbeiten oft außer Hause verfertigen ließ und statt dessen Clavier spielte und sang, sie erlaubte es Phindel, wöchentlich ein paar mal auf die Billets, die ihre Anbeter ihr besorgten, in das Theater zu gehen. Ja sie hatte ihren Alten sogar überredet, das Kind neulich in einem Concerte singen zu lassen. Die zwei Louisd'or, die sie dafür erhielt, hatte er als Vergütigung für ihre Beköstigung sich eingesteckt. Um sie aber durch den geernteten Beifall nicht stolz werden und zum Theater verführen zu lassen, glaubte er sie nun um so strenger und eingezogener halten zu müssen und hielt ihr für das geringste Vergehen die zornigste Strafpredigt, in die die Tante dann vollkommen einstimmte. Er hatte keine Ahnung von dem, was in seinem Hause und in Phindel's Herzen vorging. Morgens um sechs Uhr ging er in sein Geschäft; um zehn Uhr Abends kam er wieder. Nur eine halbe Stunde täglich konnte er sich von demselben trennen, um bei seinem Ehegespunst das Mittagsessen zu verschlucken. Während er seinen Lehrburschen allein ließ, mußte Juste ihm das Essen bringen und ihn überwachen. Punkt zwölf ging sie von Hause fort mit dem Topfe im Korbe; so wie sie in den Laden trat, ging der Onkel fort und sie blieb, bis er wieder kam.

Phindel traf heut kurz nach ihm ein; sie hatte den rothen Familienparapluie unter dem Arme, als sie in die Stube trat und setzte ihn in den Schrank. Der Himmel hatte sich aufgehellt, sodaß sie ohne Schirm trocken geblieben war. Der Onkel schmollte, daß sie so spät kam; sie hörte es gleichgültig an. Das ärmliche Essen schien ihr nicht zu schmecken; sie brachte kaum wenige Bissen davon hinunter. Der Onkel verschlang schmatzend seine große Portion. Zum Nachtisch trank er seine »kühle Blonde.« Mit unendlicher, fetter Behaglichkeit legte er sich in seinen Stuhl zurück, und überließ sich der wohlthuenden Wirkung des schäumenden Getränkes, indem er mit Anstrengung rülpste. »Wieder einen Thaler erspart!« sagte er bei jedem aufstoßenden Getöse, »ich werde noch ein reicher Mann.« Der Berliner muß Witze machen, und wenn er nicht selbst witzig ist, so macht er sie Andern nach. Dieser Witz des Herrn Schulze, den er täglich als Dessert auftischte, war aus einer ordinairen Localposse, und es konnte ihm keine die Verdauung mehr befördernde Aufregung zu Theil werden, als wenn ihn Jemand um die Erklärung dieser mystischen Redensart frug; er antwortete dann mit Selbstzufriedenheit: »Mit jedem male erspare ich doch einen Thaler bei Doctor und Apotheker!« Da er dieses Kitzels seiner Eitelkeit heute, wie gewöhnlich, nicht zu Theil werden konnte, vergnügte er sich damit, seine alte »Alte« in den ihm ebenbürtig fetten Nacken zu kneifen und sagte dabei: »Phindel, sieh nicht her! Das ist nicht gut für solche Backfischel!«

Mit einem Blicke stolzen Widerwillens wandte das junge Mädchen sich ab.

Als der Onkel fort war, hielt Tantchen heute, wie alle Tage ihre Nickstunde auf dem Sopha ab. Phindel durfte indeß in ihrem Romane lesen. Es war George Sand's Consuelo. Sie saß wieder vor dem Bildniß ihrer Mutter, aber jetzt wandte sie kein Auge zu ihm hinauf, sondern verschlang das Buch mit hastigen Blicken. Dann wurde wieder heute wie alle Tage Kaffee getrunken und wieder ein Stück Zucker gemaust.

Dann mußte Phindel heute wie alle Tage mit der Tante spazieren gehen. Diese konnte bei ihrem Gehörübel die Abendluft nicht ertragen und behauptete, es würde mit demselben besser, wenn sie recht ins Warme ginge. So pflegte sie im Sommer des Nachmittags in den heißesten Stunden und auf den heißesten Plätzen zu promeniren, und Phindel mußte ihren Teint und ihre Nerven diesen Rheumatismus ableitenden Promenaden mit aussetzen. In dem unscheinbaren Aeußeren ging sie neben der wackelnden Alten einher durch die schönen Straßen an den geputzten Menschen vorbei. Sie war tief niedergedrückt in dem Bewußtsein ihrer dürftigen Erscheinung und bildete sich ein, ein jeder Vorübergehende müsse es bemerken und sie für närrisch halten, daß sie stets die sonnigen Seiten der Straße aussuchten. Die Augen trug sie niedergeschlagen, den Kopf gebeugt und das erhitzte Gesicht durch einen finsteren, uninteressanten Zug entstellt. So glich sie ganz den vielen Mädchen, die durch Händearbeit für die Reichen selbst nur ein spärliches Dasein fristen; nichts erhob sie über die Langeweile und ärmliche Erscheinung des Vorstadtlebens.

Außer sich vor Erschöpfung und Verdruß kam sie nach Hause. Tuch und Hut warf sie von sich, und jetzt endlich konnte sie die Freude genießen, auf die sie den ganzen Tag gewartet hatte; sie konnte sich an den Flügel setzen. Gleichmäßig rein und gediegen, wie die Perlen an der Schnur, flossen die Töne ihr über die Lippen, so klar, wie der Klang von Silberglocken, so sanft wie Flötenspiel. Wie die hellsten, größten Sterne leuchteten die Augen Feuer der Begeisterung. Wunderbar schön war jetzt das blasse Gesicht, von künstlerischem Entzücken belebt. Als wären es Stimmen aus einer andern Welt, so klangen die Schubert'schen Lieder in dieses prosaische Leben hinein. Plötzlich selbst von den Liedern und ihrem Gesange hingerissen, bog sie sich zurück nach dem Bilde ihrer seligen Mutter und warf mit dem Lächeln liebe- und wehmuthvoller Erinnerung ihm ein Kußhändchen zu. Das reizende Kind in Wahrheit eine seltene Perle, ein anbetungswürdiger Stern!

Es schellte an der heiseren Klingel: ein Anbeter des Sternes fand sich ein. Ein schöner Elegant stand in der Thüre des niedrigen Zimmers, – schlanke, hochgewachsene Figur, stark und geschmeidig zugleich; stolzer, unternehmender Ausdruck in den Zügen, mit Spuren halb ausgetobter Leidenschaften; braunschwarze, volle Locken; wolliger Schnurr- und Kinnbart; dazwischen blendend weiße Zähne; endlich ein Paar stechende, graue Augen. Die gewählte einfache, aber kostbare Kleidung vollendete die Vornehmheit seiner Erscheinung.

Das junge Mädchen nickte ihm vertraulich den Gruß mit dem Kopfe zu und ließ sich in ihrem Gesang nicht unterbrechen. Unaufgefordert legte er seinen Hut ab und stellte sich hinter ihren Stuhl. Von dem Liede, das sie sang, hörte er einmal die Melodie an; das zweite mal sang er sie mit voller, sicherer Stimme mit. Bei dem Nachspiele des letzten Verses versuchte er in dem ausklingenden Accorde den ganzen Umfang seiner Stimme.

»Guten Tag«, sagte das Mädchen munter und freundlich, indem sie aufstehend ihm die Hand reichte. Er ergriff sie mit Anstand und führte sie an seinen Mund.

»Hier ist die Papeterie, die ich versprochen«, sagte er mit ausländischer Zunge, und reichte unter dem Arme eine elegante Briefmappe hervor. Ohne sich zu bedanken, nahm sie dieselbe schnell und versteckte sie unter Notenheften. »Und wie befindet man sich?« frug er, auf das Sopha niedersitzend.

»Ach, mein Gott, schlecht. Weltschmerz – Langeweile –« antwortete sie vor ihm stehend, indem sie sich mit beiden Händen über Augen und Wangen fuhr.

»Langeweile? dagegen kann ich vielleicht helfen; und Weltschmerz? – das hat Ihnen der Doctor eingeredet. Ich will Ihnen sagen, Sie haben schlecht geschlafen; ich sehe es in Ihren Augen. Dann müssen Sie besser schlafen. Oder – haben Sie zu süß geschlafen? haben Sie zu viel geträumt, chère mignon?«

»Ich träume nie«, sagte sie, ein leises Erröthen zurückdrängend, mit kecker Miene.

»O, pardon, wie oft haben wir von Ihren Träumen gesprochen! Sie haben es mir ja schon selbst gestanden, daß Sie von mir geträumt haben. Qui s'excuse, s'accuse. Vraiment, Sie haben diese Nacht von mir geträumt.«

»O, Sie eingebildeter Mann!«

»Wollen Sie maliciös sein?«

»Ja, ich will es.«

»Eh bien! Ich nehme das Spiel auf und vergelte Gleiches mit Gleichem. Ich werde mir eine Unart erlauben, die für mich so viel Artiges hat, daß ich Ihren Zorn wol wagen möchte.«

»Wie meinen Sie das?« frug sie, indem sie die Arme übereinanderlegte und ihn herausfordernd ansah.

»Ich brauchte ja nur –« sprach er, und mit kecker Gewandtheit hatte er ihre Taille umfaßt und suchte sie mit seinen bärtigen Lippen zu küssen. Sie aber entwandte sich seinen Armen und stechenden Blicken und floh lachend in die Ecke des Zimmers; der Elegant eilte ihr nach, aber wieder griff er in die leere Luft; sie war, gewandt wie ein Wiesel, bereits in die entgegengesetzte Ecke geschlüpft und frohlockte, in die Hände klatschend, über ihre eigene Kriegslist. Der Gegner unternahm jetzt einen geordneteren Angriff.

»Gib mir den Kuß, mein Leben.
Komm zu mir auf den Schoos.
Da hilft kein Widerstreben,
Du mußt dich mir ergeben.«

So sang er schmachtend und keck, mit so viel Grazie, als der Don Juan im Opernhause nur aufbieten konnte. Sie sang zwar:

»Nein, nein, ich darf's nicht wagen.
Mein Herz warnt mich davor –«

mit der reizenden Widerspenstigkeit der cokettesten Zerline; eilte aber endlich mit ebenso reizender, neckischer Hingebung in die Arme ihres Don Juan:

»Dein zu sein auf ewig,
Wie selig, o, wie selig werd ich sein.«

In dem Augenblicke, wo sie sich gefangen gegeben, und er sie küssen wollte, schellte es draußen; sie fuhr erblassend zurück; die Thür öffnete sich, und hereintrat, den Hut in der Hand, mit steif gezierten Manieren grüßend, verwundert über die Anwesenheit des andern Gastes, der bekannte Doctor Louis Horn.

»Ergebenster Diener, Fräulein Delphine. – Ah, Cesar! Das ist ja ein baldiges Wiedersehen!« So wandte er sich, Verlegenheit überwindend, an den andern Herrn.

»Hätten Sie doch gesagt, daß Sie hierher gingen! Sie hätten mit mir fahren können!« sagte Cesar.

»Ich wollte in der That ins Theater, als wir uns bei Josti trennten, aber es war mir zu heiß. Es ist wirklich polizeiwidrig heiß«, sagte Horn abgespannt, mit dem gelbseidenen Taschentuche sich Kühlung und Parfüm zufächelnd. »Ich kann die Recension auch schreiben, ohne die Aufführung gesehen zu haben.«

Delphine setzte sich mit Selbstgefühl auf Tantchens Staatssopha. Dem Doctor, als sei er der Geehrtere, winkte sie, neben sich auf demselben Platz zu nehmen. Cesar war dadurch nicht im Nachtheil; er rückte einen Stuhl nahe an die Sophalehne, und indem er mit anmuthiger Dreistigkeit sich über dieselbe beugte, hatte er die vertraulichere Stellung zu der Schönen inne.

»Wie befinden Sie Sich, bestes Fräulein?« frug der Doctor noch immer in förmlicher Höflichkeit.

»Das kann ich Ihnen beantworten, lieber Doctor«, sprach Cesar dazwischen. »Schlecht, Langeweile – Weltschmerz! Und Sie sind ein schlechter Doctor, Doctor, wenn Sie fragen und nicht helfen können.«

»Pah, da hilft meine ganze Philosophie nicht. Langeweile, Weltschmerz«, declamirte der Doctor, »das ist das Leiden des Zeitalters. Die Ehe und die Polizei sind daran Schuld. Curirt die Welt von diesen beiden Epidemien, und wir werden glücklich sein, wie die Götter.«

»Wollen Sie so lange warten, Phinchen, bis die Welt aus lauter Junghegelianern besteht?« frug Cesar mit leichtem Spott. »Ich dächte, Delphinchen, wir kümmern uns um das Princip und die Welt nicht, sondern wir lieben das Leben, und – leben, wie wirs lieben. Was habt Ihr nur, Doctor, gegen die Ehe? Bei Gott, ich weiß nicht, ob ich nicht sehr bald nach dem ruhigen Hafen des Familienlebens mich sehnen werde!«

»Sie wollen heirathen?« lachte Delphine auf. »Entsetzlicher Mensch!«

»Warum denn nicht? Bei Gott, ich möchte des Doctors jungdeutsche Theorien an Ihnen zu Schande werden lassen und Ihnen beweisen, daß …«

»Nicht weiter! Bitte, bitte«, unterbrach sie ihn mit Bestimmtheit.

»Nun, ein andermal mehr davon«, sagte er mit schadenfreudigem Blick auf Horn. Da das Gespräch einen Augenblick stockte, fuhr er gegen diesen fort: »Sagen Sie, Doctor, wie weit ist die Menschheit heute? Wie viel Standpunkte sind seit vorgestern überwunden?«

Horn konnte dem höflichen Spotte des Franzosen keine gleiche Feinheit entgegensetzen. Er wurde grob und frug: »Und wie viel Frauen haben Sie seit gestern verführt?«

»O, pardon«, erwiderte jener, dem Tone nach noch immer gleichgültig scherzend. »Sie wissen ja, ich theile Ihre Grundsätze nicht, nach welchen die schrankenlose Menschenliebe beider Geschlechter sociale Pflicht ist. Wie steht es, wenn man fragen darf, mit Ihren socialistischen Studien im Voigtlande, lieber Doctor?«

»Ich werde mich nächstens durch ein Werk darüber berühmt machen«, sagte Horn und wandte dann, an Delphine gerichtet, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand: »Ich habe heute einen Brief bekommen, der Sie interessiren wird.«

»Von meinem unbekannten Freunde? Sagen Sie!« so ging sie lebhaft darauf ein.

»Hier lesen Sie.«

»Richtig von ihm! Ich erkenne es schon an der Handschrift. – O weh! Der Unglückliche! Sein Vater ist gestorben. Aber er selbst kommt her. Das ist köstlich. Sie müssen ihn herbringen, bester Herr Doctor, ich muß ihn kennen lernen. Werden Sie es?«

»Wenn Sie es wünschen –«

»O, dafür könnt' ich Sie umarmen! Wenn Ernst so ist, wie er seine Briefe schreibt, muß er ein herrlicher Mensch sein. Es liegt darin etwas so Erhabenes, so Romantisches.«

»Ganz recht, Romantiker ist er durch und durch«, lachte Horn.

Cesar bat ihn, er möge Herrn Wagner ja auffordern, ihn zu besuchen, sobald er angekommen, da er seine persönliche Bekanntschaft sehnlichst zu machen wünsche.

Es trat jetzt eine Pause im Gespräche ein. Delphine wußte mit anerkennungswerther Unparteilichkeit ihre Freundlichkeit und Aufmerksamkeit, ihr Lächeln, ihre Blicke, ihr Hinneigen zwischen den beiden Gästen zu vertheilen. Dennoch schien der Doctor durch die Gegenwart des Malers unangenehm berührt zu sein und brach auf. Delphine gab dem Andern unbemerkt einen Wink und auch er erhob sich, um zu gehen.

Horn ging noch in das Zimmer der Tante, um dieser sein Compliment zu machen und nach ihrem Befinden zu fragen, – eine Frage, die sie von selbst beantwortete, ehe er sie ausgesprochen.

Phindel entließ indeß den galanten Franzosen. An der Thüre gab sie ihm einen herzlichen Kuß. Es war der Dank für das Portefeuille. Als Horn gleich darauf sich auch verabschiedete, küßte er sie; sie ließ es sich ruhig gefallen; aber ein Zug, wie des Widerwillens, umzuckte ihre Lippen. Sie erinnerte ihn noch beim Weggehen: »Vergessen Sie ja nicht, Ernst Wagner mich kennen zu lehren!«

*


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