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Neuntes Capitel.

Fast eine Woche darauf, – es war Sonntag – als Wagner in seinem bescheidenen Studirzimmer begierig in der Zeitung den Fortgang der Krakauer Ereignisse verfolgte, wurde er plötzlich von einem nicht geringen Schreck getroffen. Er las in dem Blatte, das ein Organ der Regierung war, von einem großen Wechsel, der vor wenigen Tagen von Agenten der polnischen Propaganda erhoben sei. Man hoffte, hieß es, dadurch einen der Quellpunkte der Verschwörung aufzudecken und eine bevorstehende Verhaftung werde das Publikum darüber aufklären, was es aus der freien Entwickelung des sogenannten »deutschen Geistes« für patriotische Bestrebungen zu erwarten habe.

Wagner wußte, daß Niemand anders gemeint sei als er. Ein jäher Schreck lähmte den Weltumstürzer; alle seine Glieder zitterten; für einen Augenblick war er keines Nachdenkens fähig.

Der Candidat der Theologie, der Sohn der frommen Pfarrerfamilie, der Privatgelehrte aus der Dachstube wurde auf der Höhe des weltgeschichtlichen Lebens vom Schwindel ergriffen. Die unerschütterliche, ihrer selbst ewig sichere Vernunft war aus den Fugen gerückt, als sie sich dem handfesten Gensd'armen und massiven Festungsmauern, dem ganzen brutalen Apparate der preußischen Reaction feindlich gegenüber sah.

Daß man ihn verhaften, Gewalt gegen ihn gebrauchen, daß man frevelhaft mit roher Hand in die Entwicklung der Geschichte eingreifen werde, das hatte er sich nicht denken können, – er, der mit der polnischen Insurrection durch Pulver und Blei seine Principien verbreitete!

Er hatte geglaubt, die Geschichte, mache sich von selbst, und nun er ins Gedränge kam und entscheidend einschreiten mußte, hatte er Kopf und Herz verloren. Die angeerbte krankhafte Gemüthsunruhe überkam den geschichtlichen Geist. Er mußte an Vergangenheit und Zukunft denken. Was hilft alle Dialektik des Verstandes! – Reue kam ihm von dort, Sorge von hier entgegen. Der todte Vater, todt aus Gram am Sohne, lebte auf in seiner Seele; und die Leiden Aennchens und der Mutter sich vorzustellen, welchen weiten Spielraum hatte dazu seine Phantasie bei den dürftigen, nur durch Verschweigen klagenden Nachrichten, die er von ihnen erhalten hatte! Welchen Eindruck mußte seine Verhaftung auf die Mutter machen. Und doch, er konnte sein gegebenes Wort nicht brechen, die Geschichte nicht im Stiche lassen. Er mußte unaufhaltsam weiter und zwang sich wieder hinauf in die ewig klare Höhe der Vernunft. Er wußte nicht wie vorwärts, und konnte auch nicht rückwärts; Gemüth und Gedanke rissen sein Ich empor und hernieder. Wie im Starrkrampfe sah, hörte, fühlte er Alles, wußte er sich mitten im Leben drin; und doch vermochte er nicht, sich zu regen, nirgends hin aus sich herauszugehen; in fürchterlicher Angst mußte er thatlos verharren, während jeden Augenblick das Verderben über ihn hereinbrechen konnte.

Da brachte der Postbote einen Brief,

»Lieber Ernst!

Die Mutter weiß nicht, daß ich, dir schreibe. Sie ist in großer Angst um dich und sehr krank. Sie wollte nie, daß du es wissen sollst; aber den ganzen Winter ist sie so schwach gewesen und hat Husten und Zahnweh gehabt. Ach! wenn du sie sähest, du würdest erschrecken, wie sie verändert ist. Seit die große Kälte vorüber ist und wir das gute Wetter haben, hatte sie sich ein wenig erholt. Aber da kam der Herr Pastor Striegnitz zu uns und brachte uns Zeitungen, in denen du stehst. Wir haben erst gar nicht glauben wollen, daß du es bist. Es kann ja doch nicht wahr sein, was sie dir nachsagen. Du bist ja immer ein ganz guter Mensch gewesen. Du glaubst gar nicht, was die Leute Böses von dir denken. Lieber Ernst, wenn du es kannst, sieh, daß du es anders machen kannst. Sei nicht böse, daß ich dir das schreibe; du bist gewiß auch nicht glücklich; aber ich bin deiner Mutter zu gut und weiß, daß du es auch bist. Denk an deine Mutter. Mir geht es gut.

Deine Cousine
Anna.«

Mit einem Schlage war jetzt der Starrkrampf gelöst, die Macht des klaren Denkens war gebrochen und entfesselt tobten in seiner Brust die unverständigen Gefühle der Natur. Die Thränen, die seit lange nur die Begeisterung nach seinen Augen gedrängt hatte, quollen jetzt aus zügellosem Schmerz in ungekämmtem Strome hervor, – welche Wollust, ganz dem Schmerze sich hinzugeben, von dem Zwange der Gedanken entfesselt ganz willenlos dem Zuge des Herzens zu folgen! Aufgelöst in natürliches Empfinden ließ er ungehindert seine Thränen strömen; jede Thräne ein Tropfen der Wonne! Er kannte nur noch einen höhern Wunsch; als die Perlen über das Halstuch ihm auf die Brust fielen, dachte er: »o, wären es lieber noch rasche Kugeln des Feindes, die so mein Herz träfen!«

Es ist der Tod durch die feindliche Kugel nicht das einzige, nicht das schwerste Opfer, das die Freiheit fodert! Rasch und wonnig ist die Empfängniß des Gedankens, mit der Menschheit eine neue Zeit zu zeugen; aber schwer und langsam sind die Wehen. Welch schmerzliche Spannung, welch Hin- und Wiederzerren zwischen dem, was durch Liebe und Leben verbunden ist, ehe es zum Bruche kommt zwischen dem Alten und dem Neuen! Und wenn der Bruch geschieht, wie viel Herzen trennt er, durch wie viele geht er mitten hindurch!

Ernst wollte sich einreden: »laß das Herz deiner Mutter brechen, du gehörst nicht dir selbst, du warst verloren in jener fürchterlichsten Nacht deines Lebens; nur dem Gedanken, der dich damals rettete, darfst du leben; du gehörst nur dem Geiste, der durch dich handelt«; – aber die Schmerzen und Gewissensbisse, die er empfand, übernahm der Geist nicht, der durch ihn handelte! Verzweiflung tobte vernichtend in seinem Herzen. Er fand keinen Ausweg in den Verhältnissen, keine Hülfe in sich, keine befreundete Seele außer sich, der er sich anvertrauen konnte; auf sich selbst allein war er angewiesen, und er selbst war zusammengebrochen. Da brach unwillkürlich der Name über seine Lippen, den er seit Jahren aus Princip nicht angerufen: »Mein Gott, o mein Gott!« – aber schnell antwortete er sich höhnend selber, über den Ton erschreckt: »Mein Gott? Gott soll dir helfen, der nicht ist? Ja, nichts kann dir helfen. Nichts! Und doch, wenn ein Gott mir jetzt seinen Engel zur Rettung sendete –« so brach er in tollen Humor der Verzweiflung aus, »ich wollte an ihn glauben!«

Da pocht es an die Thüre. Ernst im Augenblick gesammelt, seinen Schmerz vor Fremden verbergend, öffnet. Eine ältere Frau fragt ihn: »Kann mein Fräulein den Herrn Prediger sprechen?« Er erklärt sich bereit. Eine tief verschleierte Dame, von anmuthigem, edlem Anstande tritt in sein Zimmer. Als sie sich mit Wagner allein sieht, schlägt sie den Schleier zurück, – es ist Constanze.

Mit bebender Stimme, die ihm unendlich süßer klang, als Delphinens Gesang, denn es war nichts von Kunst darin, redete sie ihn hastig an: »Herr Wagner, diesen unbegreiflichen Schritt von mir werden Sie begreifen, wenn Sie wissen, in welcher Gefahr ich Sie sehe. Ich muß ein paar Fragen an Sie thun, – beantworten Sie dieselben nicht mir, nur sich selber! Sind Sie in diesen Tagen mit einem polnischen Grafen hier zusammen gekommen? Haben Sie bei einem hiesigen Banquier den großen Wechsel erhoben? Haben Sie endlich Schriftstücke der polnischen Propaganda in Händen?«

Ernst erbleichte. Er antwortete nicht, aber sie wußte, daß er das Alles sich selber bejahte. Damit hatte sie die ganze Entschlossenheit ihres Charakters wiedergewonnen. Sie fuhr mit sicherer Stimme fort: »Wenn dem so ist, so droht Ihnen die größte Gefahr. Mein Bruder hat Freunde in Berlin im Ministerium, – man hat ihm mitgetheilt, daß Ihnen die Verhaftung bevorsteht. Er wird Sie nicht retten wollen; durch Zufall, durch List habe ich noch zur Zeit die Entdeckung gemacht. Nur die größte Eile kann Sie retten!«

Wagner wurde jetzt durch die Gewißheit der Gefahr weniger erschreckt, als vorher durch ihre Ahnung. Mit unerschütterter Ruhe antwortete er dem jungen Mädchen: »Wie soll ich mich retten? Ich kann nichts thun, ich werde Alles über mich ergehen lassen.«

»Nein, das dürfen Sie nicht; Sie müssen fliehen, augenblicklich fliehen.«

»Fliehen? Wohin? Mit welchen Mitteln?«

»Sorgen Sie nicht dafür. Hier ist meine Chatoulle. Es sind nur ein paar hundert Thaler. Sie werden Ihnen hinreichen, um nach Paris zu kommen. Ich kann Ihnen das anbieten, weil ich weiß, daß Sie mir nicht dafür danken werden: zwischen Menschen, die für dieselbe Gesinnung leben wie wir, versteht sich das von selbst; diese äußeren Mittel haben uns keinen Werth, weder wenn wir sie geben, noch wenn wir sie nehmen. Drum – nur Eile! Augenblicklich entschließen Sie sich! Fort, fort von hier!«

»Ich darf nicht. Ich kann meine gute Sache nicht verlassen im ersten Augenblicke, wo Gefahr an mich herankommt.«

»Sie sollen ja Ihre, – unsere Sache nicht verlassen; retten sollen Sie sich ihr! Eilen Sie über die Grenze, warten Sie die Untersuchung ab, vernichten Sie noch jetzt alle gefährlichen Papiere, und, wenn Sie freigesprochen sind, kehren Sie wieder, – Sie stellen sich dann mit der Welt in ein versöhnteres Verhältniß, – nicht wahr? gehören wieder dem Vaterlande und – Ihren Freunden!«

Bei diesen letzten Worten hüpften wieder einmal ihre Locken; in ihrer neckischen Art schüttelte sie den Kopf, und ein Strahl von Coketterie blickte aus dem Auge, das heute von muthiger Entschlossenheit düster leuchtete.

Verständiges Ueberlegen war Ernst unbequem; er suchte vor sich selbst einen Vorwand dagegen und zwang sich zu heroischem Aufschwunge, indem er antwortete: »Ich kann und kann nicht vom Platze. Sie ahnen nicht, in welche Verwickelungen ich mich verstrickt habe. Ein heiliges Wort fesselt mich. Sie können mich nicht retten, aber Sie können mir helfen. Wenn Sie etwas für mich thun wollen, nehmen Sie diese gefährlichen Papiere an sich. Ich weiß, bei Ihnen sind sie sicher. Und wenn ich ein Unglück haben sollte, händigen Sie dieselben dem aus, der Ihnen das Siegel zeigt, mit dem diese Schriften geschlossen sind. Das ist das Einzige, was ich von Ihnen bitten kann. Wollen Sie es erfüllen?«

Constanze war eifrig dazu bereit; sie trauerte nur, keine größere Gefahr übernehmen zu können, denn sie ahnte nicht, wie groß schon diese Gefahr war, sie ahnte nicht, welchen Schritt sie gethan, indem sie in das Haus eines Compromittirten ging, das von allen Seiten policeilich umlauert wurde.

Wagner gab ihr das von Cesar ihm anvertraute Packet. Constanze sah die Veranlassung ihres Besuches erledigt, aber sie konnte so noch nicht scheiden. Welche Ueberwindung ihrer mädchenhaften Schüchternheit hatte dieser Schritt ihr gekostet, – all ihr Lebensglück stand auf dem Spiele; sie wollte den entscheidenden Moment nicht verloren geben. Wagner hatte sie mit seiner finsteren Miene empfangen, wie einen bloßen Parteigenossen, ohne die Dame in ihr zu sehen, ohne ihre cokette Andeutung mit einer Herzlichkeit zu beantworten. Sie wußte mit zartem Tacte ihn zu erinnern, daß sie auch zu ihm gekommen als das Mädchen. »Verzeihen Sie eine Frage, Herr Wagner«, sagte sie mit tief niedergeschlagenem Blicke, – »es ist das eine Frage, die ich an keinen Mann thun dürfte, und die ich nur an einen Mann wage, der mir mehr werth ist als alle anderen. Herr Wagner, ist es wahr, was mein Bruder Ihnen vorwirft, daß Sie zu der schönen Sängerin, die Sie bei uns trafen, – ein Verhältniß haben?«

Durch diese Frage endlich wurde Wagner auf die Gesinnung Constanze's aufmerksam gemacht. Er blickte ihr ins Gesicht, und da ihr Auge sich zur Erde senkte, hatte er den Muth, sie länger zu betrachten. Er war schon einmal durch Constanze's liebliche Schönheit überrascht worden, heute aber war er bezaubert von der echt weiblichen Schamhaftigkeit in diesen geistig belebten Zügen. Er erkannte zum ersten male, was das heißt: Jungfräulichkeit. Er gedachte an Delphinens diabolisches Lächeln und dachte, daß Jungfräulichkeit in ihren Zügen nicht wohnte. Der weite Gegensatz dieser beiden weiblichen Wesen wurde ihm jetzt klar. Er mußte sich vor diesem Mädchen schämen, durch jene Dame verdächtigt zu sein, und nach dem, was zwischen ihm und Delphine zuletzt vorgegangen, glaubte er das Recht bei sich, sagen zu dürfen: »Nein, bei Allem, was mir heilig ist, ich stehe außer allem Verhältniß mit dieser Dame, ich habe nichts mit ihr gemein.«

»Ich wußte es ja«, sagte Constanze, ihn unterbrechend, und, indem sie ihren Kopf wieder emporwarf zu seiner kecken Haltung, dankte sie ihm durch einen Blick, der seelenvoll war, aber so ganz anders als Delphinens seelenvolle Blicke; dieser kam aus einem klaren, tiefblauen Auge, jener aus einem Auge, dessen unbestimmte Farbe er sich nicht einmal gemerkt hatte, das ihm aber plötzlich entsetzlich unheimlich dünkte. In dem Unterschiede dieser Augen erkannte er erst, daß es Seelen geben kann, die innerlichst falsch sind, und daß hier eine Seele sprach, deren er ganz sicher sein, der er ganz trauen konnte: hier ging ihm auf, hier ist eine Liebe möglich, die weiß, warum sie liebt, die ihrer selbst ewig, ewig gewiß ist!

»Constanze!« seufzte er, durch den fürchterlichen Irrthum seines Lebens erschreckt.

»Nun?« frug sie, ihre Schamhaftigkeit unter neckischem Uebermuth verbergend, aber die Stimmung des Augenblickes war doch zu erschütternd. Es wurde ihr plötzlich so weh. Sie seufzte, nicht um ihm Abschied zu geben, sondern um zu zeigen, wie schwer er ihr wurde: »Leben Sie wohl«, und Thränen füllten ihre Augen. »Erhalten Sie sich der Freiheit und denen, die – Sie lieben.«

Thränen aus diesen Augen um ihn, und über diese Lippen das Wort »Freiheit«, – mußte der Denker daran nicht das Mädchen erkennen, das ihn verstand, das ihn liebte, wie er geliebt sein wollte! In der krampfhaften Stimmung, in der er vorhin, in Verzweiflung niedergeschmettert, einen Gott anrief, fühlte er sich jetzt gen Himmel getragen und glaubte fast abergläubisch, den von Gott gesandten Engel vor sich zu sehen. In seiner Verlassenheit, von aller Welt verrathen oder verdammt, faßte ihn ein wahnsinniges Entzücken über diese Seele, die ihn liebevoll tröstend kam, daß er vor ihr auf die Knie sank und ihre Hände küssend ausrief: »O, du gottgesandter Engel! Welchen Trost Sie mir in dieser Stunde gewähren, Constanze, das ahnen Sie nicht. Von dem Schmerze, der in meinem Busen wühlt, hat Ihre Seele keinen Begriff. Ich wollte so unendlich lieben, ich bedarf so viel Liebe, und – überall bin ich verrathen!«

Dieser renommistische Ausbruch seines wüsten Schmerzes machte einen tiefen, das Leben überdauernden Eindruck auf dieses Mädchenherz, das, stets von einem ungetrübt heiteren Leben umgeben, nun, wo es zum ersten mal der Glut der Leidenschaft sich erschließt, von solchen, die Grundpfeiler des Daseins erschütternden Stürmen getroffen wird. Bei dem Mitleid, das sie beim Leiden des Geliebten jetzt ergriff, war sie nicht mehr das schüchterne, sondern das liebende Mädchen, das stark genug ist, der Lebensentscheidung entgegenzugehen. »Um Alles in der Welt«, bat sie ihn, ihre Hand auf sein Haupt legend, »wenn Niemand Sie liebt, – retten Sie sich für mich!«

»Ich kann's nicht! Ach, wenn Sie wüßten, was für mich in den Worten liegt: ich kann's nicht!« So rief er aus, indem er sie verließ und sein Gesicht mit den Händen bedeckte: er konnte sich nicht mehr retten. Er war entschieden radical, weil er nichts mehr mit sich anzufangen wußte, weil er ein Banquerotteur war, banquerott mit seinen philosophischen Speculationen, wie die ordinairen Radicalen der freien Gemeinde es waren mit ihren pecuniairen. Er konnte sich nicht mehr retten, er konnte nur noch ein Märtyrer werden.

So ließ er Constanze von sich scheiden.

Zu Hause durch die prächtigen, lichten Zimmer triumphirend einherschreitend, fühlte Constanze ihr jugendfrisches Herz so groß und darum so glücklich, wie sie meinte, daß es noch Niemand in den Räumen dieses reichen Kaufmannshauses gewesen sei. Die peinliche Sorge um eine Nebenbuhlerin war von ihrem Herzen genommen, der Geliebte betete sie an; nur ein tragisches Schicksal trennte sie, und ein Schicksal zu haben, für einen Gedanken Alles thun, Alles leiden können, – darin glaubte dieses lebenskräftige, lebenersehnende Herz die Erfüllung seiner Bestimmung zu finden. Auch dieses Mädchen, ohne daß sie es gewollt hatte, war emancipirt, hinausgetragen über die Gesellschaft, um die Entscheidung über sich selbst – sich selber zu bewahren. Dieses Bewußtsein des echten Mädchenstolzes gab ihr Kraft, dem Vermeidlichen die That entgegenzusetzen, das Unvermeidliche mit Fassung zu tragen.

In Wagner's Brust tönte das »ich kann's nicht!« fürchterlich wieder. Noch nie war ihm sein Untergang, seine Unfähigkeit zu leben, so klar geworden, als jetzt, wo ein neues Glück ihm lächelte. Aber je mehr er erkannte, daß das erst sein wahres Glück sei, um so mehr mußte er den Contrast fühlen zwischen dem Heroismus dieses reinen Kindes und der wüsten Verzweiflung seiner zertobten Seele; um so mehr mußte er fühlen, daß er – er, der Denker, der Apostel des Geistes, der Idealist, der mehr auf sich selber gab als auf die ganze Welt, daß er jenes kindlichen Herzens nicht mehr würdig sei! Er mußte untergehen! Nur noch Eins konnte er thun: untergehn mit Brillantfeuer. Den Funken wollte er in eine Pulvermine werfen, um sich selber mit Eclat in die Luft zu sprengen.

Die polnische Insurrection hatte unterdeß eine traurige Wendung genommen. Es ist bekannt, wie die Erhebung der galizischen Bauern, die dem Krakauer Unternehmen den Ausschlag geben sollte, für die Sache der Regierungen in die Wagschale fiel. Krakau war so gut wie verloren und die ganze Conspiration war es, wenn nicht an irgend einer andern Stelle die Flamme von neuem aus dem Boden schlug. Es cursirten allerhand Gerüchte; bald war Lemberg von den Insurgenten besetzt, bald sollte in Posen der Aufstand losbrechen, bald stand ganz Preußisch-Polen in hellen Flammen. Was man wünscht, glaubt man so gern; und Wagner vermochte für Augenblicke eine ganze neue, herrliche Zukunft auf solchen Glauben zu setzen. Eben war das Gerücht angekommen von einem Reitergefecht, in dem die Polen gesiegt hätten; die Radicalen waren wüthend, daß »das Volk« die Truppen aus der Stadt nach der Grenze ziehen ließ; dem Polen hatte er das Wort gegeben, die Aufregung zu steigern, womöglich zum Ausbruch zu leiten, – er wollte das Seinige thun. Alle Sonntage Nachmittag hatte die freie Gemeinde in einem großen Saale eine Versammlung, die von dem großen Publikum stets zahlreich besucht wurde. Wagner hielt jedesmal eine Rede; diesmal sprach er, auf das Gerücht von seiner Verhaftung und der Aufhebung der Gemeinde sich beziehend:

»– Der Ruf des Geistes hat uns zusammengeführt und verbunden; nach der Wahrheit ringen wir mit der ganzen Anstrengung unseres Daseins, mit dem besten Willen unseres Herzens, dem besten Wissen unserer Ueberzeugung; unser Ziel ist die ewige Vernunft, unser Weg der untrügliche Gedanke –, und nun tritt uns der Gegner dazwischen mit ganz anderen Gründen, mit der Logik der Sergeantensäbel und der Bajonette.«

»Du großer König, der du auf Sanssouci mit den geistreichen, witzelnden Genies dir einen neuen Zeitgeist nach deinem Sinn zurechtstutzen willst, fühlst du nicht, wie wenig groß es ist, mit solchen Waffen den Kampf des Geistes zu entscheiden, – wie der böse Feind, der die göttlichen Saaten darniederschlägt!«

»Nun denn, wohlan! Du bietest uns den Kampf, wir nehmen ihn auf. Hier stehe ich, ein einsamer, armer Mann, ich habe nichts als den Geist, meine Feder und das Wort; du – ein Heer von Tausenden von Schwertern. Ich – den Geist, du – das Commando! Ich fodere dich zur Schlacht!…«

»Brause, Gott, mit Sturmesodem durch die fürchterliche Stille«, so citirte Wagner den Dichter und schloß: »Reißt die Kreuze aus der Erden, sie sollen alle Schwerter werden!« – aber wenn er diese Rede für den Zünder oder seine Versammlung für eine Pulvermine hielt, so irrte er sich. Es blieb mäuschenstill; Alles war vor Schreck und Angst versteinert; zwei oder drei Stimmen, die exaltirt Bravo riefen, zeigten nur, daß die ganze andere Versammlung schweigen wollte, und hatten keinen anderen Erfolg, als daß sie von dem anwesenden Policeibeamten notirt wurden.

Wagner war von fiebrischem Schwindel erfaßt, als er so sprach; bei dieser Lautlosigkeit schrak er plötzlich daraus auf und fühlte sich auf festem Boden, – auf dem Boden der verhaßten Wirklichkeit. Matt von dem Schrecke des Erwecktwerdens, wünschte er nichts, als daß sogleich der Policeigensd'arm ihn der Sorge für sich selbst überhöbe. Mechanisch griff er nach dem Hute, der neben ihm auf dem Tische stand, und in den aus der Versammlung Zettel mit den Fragen, die zur weiteren Debatte anregen sollten, eingesammelt waren. Ohne zu verstehen, was er sprach, verlas er dieselben; plötzlich stockte er: »Ich muß um unserer Liebe willen – so hatte er vorgelesen, und sah daß es weiter hieß: »– dich noch heute bei mir sprechen. Ewig die Deine.« Er wandte die mit goldenem Schnitt gezierte Karte um, – es war Delphinens Visitenkarte.

Der Philosoph hatte Delphinen sehr unrecht gethan, als er ihr vorwarf, sie sei verständig. Was er an ihr nicht begriff, war eben, daß sie genial, daß sie durch und durch –, aber auch nur Poesie war. Sie war nur aus ihrer Kunst zu begreifen. Von ihr mußte man sagen, daß sie nicht nur durch die Musik ihre Seele ausdrücke, sondern daß ihre Seele selbst ganz Musik war. Der Inhalt der Musik ist ein unbestimmtes, namenloses Fühlen, ein überschwängliches Sehnen; den Gegenstand dieses Gefühles aber erfaßt sie nicht, das Ziel ihrer Sehnsucht kann der Ton nicht bezeichnen. Wie das Herz gestimmt ist, ob Freude oder Schmerz, Haß oder Liebe, Heiterkeit oder Schwermuth darin wohnen, das kann die Musik schildern; warum aber und wofür das eine oder das andere, ob für Gott oder Menschen, für einen Geliebten oder einen Freund, für diesen oder für jenen, das spricht der bloße Klang nicht aus. So ließ Delphine alle Stimmungen auf sich eindringen, die ganze Skala der Gefühle stieg ihre Seele auf und nieder; sie kannte nur eine Sehnsucht und nur ein Recht, nach der Poesie zu haschen, wo sie sich ihr bot; sie war dabei naiv genug, jede ihrer Stimmungen für ewig zu halten und gab sich der Liebe und Leidenschaft jedesmal mit aller Excentricität hin. Sie ahnte nicht, daß das Wort etwas Wirkliches geworden war, das blieb, wenn ihre Stimmung verblüht war; und wenn sich dann das Recht der Realität gegen sie geltend machte, dann kannte sie keine Rücksicht, die Prosa von sich zu stoßen; dann kannte sie keine Scheu, nach den Hausmitteln der weiblichen List, nach Lüge und Intrigue zu greifen. Daher ihre Herzlosigkeit bei aller Empfindsamkeit, daher die kleinliche Falschheit bei jener Hoheit der Leidenschaft!

Die erste unklarste Gestalt hatte jene überschwängliche Sehnsucht gefunden in der Liebe zur seligen Mutter. Dann schwärmte sie für Horn seines tragischen Schicksales, für Cesar seiner schönen Augen wegen, bis Ernst den Preis davontrug, weil beides, Augen und Schicksal, ihn interessant machten.

Als sie aber diesen nur einer langweiligen Schwärmerei für die Menschheit fähig fand, war sie von ihrer eigenen enttäuscht. Alle ihre Sehnsucht war wieder entfesselt; durch alle Regionen schwärmte ihre Seele haltlos einher, wie ein Stern, der aus den Himmeln gefallen; sie wollte bald nur der seligen Mutter, bald dem todten Horn angehören, bald dem lebendigen Cesar, welcher bei seinem überraschenden Erscheinen durch das tragische Schicksal, das er sich nun auch angeschafft hatte, ihre ganze pathetische Theilnahme gewann und durch seine romantische Frivolität ihre Sehnsucht nach idealisch hoher Glückseligkeit, ohne sie erfüllen zu können, aufs Höchste gespannt hatte.

Wie Ernst in seiner Art, so in anderer lechzte sie nach der eigenthümlichen Wollust einer tragischen Katastrophe, und da Ernst ihr näher war als Cesar, so hing ihre musikalische Sehnsucht sich wieder an ihn an. Als sie am Sonntage von der Gefahr hörte, die ihm drohe, war sie in erotischem Heroismus über alle Rücksichten hinweggesetzt; das Mitleid mischte sich zur Liebe; sie ging, um ihren ernsten Willen zur Versöhnung ihm zu bezeigen, in die Versammlung der freien Gemeinde und, die kleine Intrigue so liebend, nahm sie die Gelegenheit wahr, beim Einsammeln der Fragezettel in seinen Hut ihn durch ein Billet-doux zu überraschen.

Ernst war auf seiner weltgeschichtlichen Höhe so bange wie einem Kinde, das von der Mutter verlassen ist. Er fühlte sich sinken, und in verzweifelter Hast griff er danach, wo sich der Schein einer Stütze ihm zeigte. Den großen, ewig ruhigen Geist hatte all das naturwüchsige Leben und Bangen des Liebesverlangens erfaßt. Er kannte nur noch eine Angst: wenn er nur auf dem Wege zu ihr nicht verhaftet wurde!

Mit pochendem Herzen, mit fliegendem Athem überschritt er ihre Schwelle. Sie erwartete ihn schon an der Thüre. Wie in der schönsten Blütezeit ihrer Liebe warf sie sich ihm um den Hals, strahlend von Schönheit, glühend von Leidenschaft. Sie brauchte nur zu sagen: »Mein Geliebter – es war nur unglückseliges Misverständniß – du bist doch nicht böse«, – und er hatte wieder alle Zweifel vergessen. Ihre Liebe war ihm so sicher wie sein eigenes Dasein. Was man wünscht, glaubt man so gern, und Wagner konnte an Untreue nicht glauben, weil sie seinem eigenen Herzen so fremd war.

Delphine war eine gelehrige Schülerin; sie hatte Cesar's Lection schnell anwenden gelernt. Gleich den Tag nach seiner Abreise hatte sie den Friseur gerufen und ihr reiches, schwarzes Haar in Locken arrangiren lassen. Cesar's Gedanke war sehr treffend gewesen: die schlanke Knospe war dadurch zur vollen, üppigen Blume entfaltet. Die Züge des Gesichtes waren belebter, das Auge strahlend, die Haltung des Kopfes majestätisch, das Lächeln triumphirend in dem Bewußtsein ihrer Unwiderstehlichkeit, und auch unter diesem holden Lächeln tauchte jenes diabolische hervor, zu dem lüsternen Verlangen reizend, es ganz in Liebe hinschmelzen zu sehen, – sie war eine brillante, eine dämonisch verlockende Schönheit.

Es war ein kostbares Glück, das dieses große Antlitz verhieß, aber ein ganz anderes als das edle, sichere Glück, mit dem die Seele, die aus Constanze's Augen sprach, beschenken konnte; diese Seele begehrte ein rastlos zu erhaschendes Glück und lockte, mit ihr es im Strudel verzehrender Leidenschaft zu suchen.

Ernst ließ sein Ich, das ihm selbst so zur Last war, von diesem bezaubernden Anblicke fortreißen. Obgleich er wußte, daß sie seinem Geiste fremd war, obgleich er sich nicht mehr beantworten konnte, warum er sie liebe, – es war ihm so unendlich bang, ein fürchterlicher Schmerz drückte sein Herz, nur die Liebe konnte ihn erlösen. Mochte seine Leidenschaft vor der Vernunft sich rechtfertigen lassen oder nicht, mochte sie Geist oder Natur, Wahrheit oder Täuschung sein, er mußte, wenn auch nur für den Augenblick, erlöst werden, und diese Erlösung dünkte ihm unendliche Wonne.

Er saß neben ihr und berauschte sich absichtlich in dem Anblick ihrer Schönheit. Er küßte ihr die Hände; sie strich die Haare ihm aus der Stirn. Er drückte sie an seine Brust; sie schwur ihm unter glühenden Küssen ewige Liebe, ewige Treue.

Er kannte nur ewige Liebe und er traute ihren Schwüren wieder wie seinem eigenen Selbst. Er fühlte sich wieder unerschütterlich fest in der Harmonie mit ihr, und es mochte geschehen, was da wollte, er konnte jetzt Alles tragen in dem Gedanken an die ihrer selbst ewig sichere Liebe.

Aber diese Liebe war nicht mehr das in sich ruhende Bewußtsein des geistigen Bundes, es war der Drang eines zusammengepreßten Herzens, seine Leidenschaft auszuströmen, sich selbst verlierend, an ein anderes Wesen sich hinzugeben.

In der Unendlichkeit des Gefühles verloren sie die Worte. Schweigend saßen sie nebeneinander. Aber das Schweigen, in dem sie den Tact ihrer Herzen und das Stocken des Athmens hörten, erhöhte ihre Verwirrung. Delphinens Wangen, die sonst stets bleich gewesen, glühten. Sie kam Ernst so zauberhaft sonderbar vor, wie er sie noch nie gesehen. Er fürchtete sich vor ihr, als wäre sie ihm ganz fremd. In seiner Verwirrung stand er auf und trat an das Fenster, seine heiße Stirn an den feuchten Scheiben zu kühlen. Er erschrak, als er daran dachte, daß man so seine Gestalt draußen erkennen könne, und trat zurück. Delphine war ins Sopha zurückgesunken, die Hände über das Gesicht deckend. Er hörte sie seufzen und frug, ihre Hand ergreifend, mit dem Tone innigster Zärtlichkeit: »Was fehlt dir, Geliebte? Bist du ermüdet? Ich will gehen und dich schlafen lassen.«

»Nein, bleib hier«, sagte sie, zutraulich sich an ihn lehnend, mit schlaftrunkenem Blicke. »Ich will noch nicht schlafen. Ich schlafe so ungern, denn ich träume so viel – von dir!«

»Von mir? Doch nichts Böses?«

»Nein, nur Liebes«, lispelte sie heimlich; »– im Traume wenigstens bin ich glücklich in deiner Liebe.«

Bei diesen Worten schlüpfte ein Lächeln um ihren Mund, das die Ueberlegenheit bezeugte, die sie über ihren schüchternen Amoroso hatte. Sie besaß eine schnelle Fassungsgabe für das praktische Leben und hatte schnell gelernt, gegen Ernst die Rolle zu spielen, die Cesar neulich gegen sie gespielt.

Ernst dagegen verlor mit der Deutung jener Worte die Macht über sich selbst; wie von einem elektrischen Schlage getroffen, lehnte er bewußtlos an ihrer Schulter; der weiße Battist war scheuer als sie selbst und floh vor seiner Berührung; seine Wange ruhte auf einer marmorweißen, lebenswarmen Schulter; seine Lippen bedeckten einen wogenden Busen mit glühenden Küssen. In wonnevoller Willenlosigkeit ließ er sich zu ihren Füßen niedersinken. Bebend umklammerte er ihre Knie. Als wolle sie ihn abwehren, streckte sie ihm die Hände entgegen und ließ sie wie segnend auf sein Haupt sinken. Flehentlich erhob er sein Auge zu ihr, – welchem Blicke begegnete er da. Ein stiller, süßer Wahnsinn schwamm in dem matten Glanze ihrer weitgeöffneten Augen; Wonne und Angst, Verlangen und Bangen, Flehen um Liebe und Flehen um Schonung tauchten daraus hervor.

»O, sieh mich nicht so an!« rief Ernst von diesem Wahnsinn angesteckt; einst hatte er zwar diesem Blicke widerstanden, damals als er in Berlin in der Nacht vor Horn's Tode, vermeintlich auf immer, von Delphine Abschied nahm; damals aber fesselten ihn noch Pflichten und das Leben lag noch vor ihm; jetzt aber hatte er nichts mehr vor sich; für ihn gab es keine Sünde.

»O, sieh mich nicht so an, ich weiß nicht, was ich thue«, rief er, als der Basiliskenblick noch immer dämonisch auf ihm ruhte. Er hatte keine Kraft mehr, zu widerstehn; in wonniger Angst barg er sein Gesicht in ihrem Kleide. Leise wie ein Athemzug hauchte ein Kuß auf seinen Scheitel. Muthig entflammt von diesem Glutwehen sprang er auf –

– »Mein Gott, was war das?«

– »Was ist das?«

– »Aufgemacht! Im Namen des Gesetzes!«

– »Sind Sie Herr Ernst Wagner?«

– »Der bin ich.«

– »Sie sind mein Gefangener.«

Und drei Herren in blauen Röcken mit rothen Kragen führten Ernst aus den Armen der Braut in die Einsamkeit des Untersuchungsarrestes.

*

Am anderen Morgen traten Policeibeamte in Hermann's Haus und durchsuchten Constanze's Zimmer. In ihrem Bette, unter dem Kopfkissen verborgen fanden sie das von Ernst ihr anvertraute Packet.

Man hatte sie beobachtet bei ihrem Besuche in Wagner's Wohnung, und sie trug von ihrer aufopfernden Liebe nichts davon als die Schande vor der Welt und in sich selbst den Schmerz, von dem Geliebten betrogen zu sein, denn es war ein öffentlicher Scandal, daß Wagner bei seiner Verhaftung in den Armen der Schauspielerin gefunden war, – eine Ungalanterie, die die Policei sich absichtlich zu Schulden kommen ließ, um ihre Gegner moralisch zu discreditiren.

Die Papiere, die man Constanze abnahm, enthielten Schriftstücke, die Ernst Wagner als Mittelpunkt der Verschwörung darstellten und ihm wegen Hochverraths und Verschwörung zum Umsturz der Staatsverfassung eine Strafe von zwanzigjährigem Festungsarrest zuzogen.

Delphine verfiel über den Schreck an jenem Abende und aus Aerger über ihre compromittirte Ehre in ein nervöses Fieber.

Als sie nach mehreren Tagen aus dem bewußtlosen Zustande des Phantasirens erwachte, fand sie in ihrer Nähe außer der gnädigen Frau Generalin einen Lakai, den diese zur Unterstützung ihrer Pflege im Zimmer litt.

Als Delphine sich einigermaßen zu erholen anfing, und sie gerade von ihrer Pflegerin verlassen war, fühlte sie auf ihrer Hand, die sie über das Bett herabhängen ließ, glühende Küsse.

Erschreckt und empört wandte sie sich um, aber – sie zog die Hand nicht zurück, denn sie erkannte an den stechenden Augen unter der königlichen Stirn den verkleideten Grafen Cesar.

Er hatte sich, eine leichte Verwundung am Arme als gefährlicher vorschützend, denn sie wirklich war, aus der Insurrection davon gemacht und suchte in dieser Verkappung bei Delphine die Zufluchtsstätte, die sie – natürlich nur der Notwendigkeit nachgebend – ihm gewährte.

Als er einige Zeit darauf von einem Ausschusse der Propaganda aufgefordert wurde, Rechnung über die von ihm verwalteten Hunderttausende zu geben, bedauert er, daß die detaillirten Ausführungen seiner Ausgaben sich unter den bei Ernst Wagner's Verhaftung mit Beschlag belegten Papieren befänden!

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Der reformatorische Probst mit der Lutherstatur, über die Predigt, in der er mit so viel Selbstgefühl die Göttlichkeit Christi bezweifelt hatte, vom Consistorium zur Rede gestellt, bot Alles auf, um nicht mit den Aufwieglern, mit den Leuten ohne Sittlichkeit und Gottesglauben verwechselt zu werden. Er hielt eine Predigt: »Christus über Alles! Jesus Christus heute und Jesus Christus gestern und derselbe auch in Ewigkeit!« Er hatte sich damit restaurirt vor der Regierung und vor der guten Gesellschaft.

Kommerzienrath Hermann, um eine gleiche Verwechselung seiner Person zu vermeiden, gab eine neue Champagnerfête, bei der an der Spitze der Tafel der Oberpräsident der Provinz saß. Er brachte auch heute wieder einen Toast, in dem er diesmal sich berief auf die »wahrhaft königlichen Worte: Ich liebe eine gesinnungsvolle Opposition.« »Auch wir«, so fuhr er fort, »wollen das Recht Polens, wollen eine Constitution für Preußen. Aber wir wollen es nicht durch die Revolution, denn wir wissen, wenn wieder einmal Gefahr von außen drängt, wenn wieder einmal die eisernen Würfel fallen auf das rothe Feld der Schlachten, dann wird man von selbst sagen: hier, Preußen, eure Constitution! hier, Polen, euer Recht!«

Ein Jahr darauf, in Folge der Abtretung Krakaus an Oesterreich, machte Kommerzienrath Hermann Bankerott und – gab keine Champagnerfêtes mehr.

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