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Zwei Abende erwartete Delphine vergeblich auf ihrem gewöhnlichen Platze im Opernhause gegen Horn's in Trauer gekleideten Freund mit den dunkeln, schwärmerischen Augen cokettiren zu können.
Des Doctors Cur war am hartnäckigen Naturell des Patienten fehlgeschlagen. Ernst besaß nichts von dem leichten, weltmännischen Sinne, der sich willig den Verhältnissen fügt; er war einer von denen, in welchen die charaktervolle Widerspenstigkeit lebt, in der unvollkommenen, äußeren Welt stets die besseren Foderungen ihres Wesens durchsetzen zu wollen. Bei des Doctors Geniestreich hatte er gelernt, wie Liebe beglücken könne, aber nicht die Liebe, die er empfunden, sondern die er vermißt hatte. Den Leib allein zu besitzen, war ihm eine Qual gewesen; Leib und Seele zugleich verlangt die Liebe, um beglückt zu sein. Er trug aus jener wüstesten seiner Nächte den zehrenden Durst davon, des geahnten, aber verzweiflungsvoll entbehrten Glückes wahrer Liebe theilhaftig zu werden. Und diese Sehnsucht hing sich immer und immer wieder an Delphine an. Er verachtete, er verabscheute diese entsittlichte, junge Seele, und doch drängte all sein Empfinden und Denken sich ihr zu. Mit Absicht hatte er sich in den Gedanken an dieses Mädchen sinken lassen; er war der bewußte Schöpfer seiner Neigung und glaubte stets Herr derselben zu bleiben. Und dennoch, wie wenig er sich beantworten konnte: warum? –er mußte immer an sie denken. Wie oft er sich auch sagen mochte, daß sie seines Geistes so ganz unwerth sei und ihn nicht begreifen könne, daß er den Genuß, den er bei ihr suchen könne, auch anders finden werde, ohne dem Freunde sein Wort zu brechen, – er konnte doch nicht von dem Begehren nach ihr und ihr allein loskommen. Er war besessen von dem durch keine Reflexion zu rechtfertigenden Geize, dieses und gerade dieses Weib besitzen zu wollen. Der freie Denker fühlte zum ersten male in seinem Leben, was eine Leidenschaft ist. So gern wollte er einmal glücklich sein; aber wiederum diesem Genusse sich hinzugeben, das konnte ihm kein Glück gewähren. Schwer wie Alpdrücken lag das Bewußtsein dieser verworfenen Welt auf seinem Geiste; die Leidenschaft, die nicht in hellen Flammen aufschlagen konnte, erstickte dumpf betäubend seine Seele.
Verwirrt und in sich versunken schlich er am dritten Tage planlos durch die Straßen. Da taucht ihm aus dem fremden Menschengewühl, das er durchschreitet, plötzlich ein blasses, bekanntes Gesicht entgegen; die großen Augen sahen ihn bedeutungsvoll fragend an. Obgleich er keine Ursache hatte, und sich das Gegentheil vorgenommen, grüßte er Delphine mit rascher Verbeugung. Sie erwiderte den Gruß, erröthend, mit Freundlichkeit. Ihr Blick war so frei von aller Coketterie und Lüsternheit, ihr ganzes Ansehen voll jenes ernsten Stolzes, der seine Berechtigung in sich selber trägt, sodaß seine Ehrfurcht von ihr herausgefodert wurde. Einen Augenblick vergaß er sich ganz in dem Zauber der edlen Schönheit; dann trat ihm wieder die jähe Enttäuschung vor die Erinnerung. Wie war es möglich, dieses Bild, das ihm das Licht des Tages zeigte, die leidende Ruhe, das tiefe Sinnen zusammenzureimen mit dem üppigen Schwelgen, der wilden Sinnenglut, die er in der Dunkelheit jener Nacht empfunden? Aber wie unablässig seine Einbildungskraft sich abmühte, aus dem wüsten Taumel jener Nacht ein Bild Delphinens sich herzustellen, er konnte keiner andern Erinnerung mächtig werden, als des Schwellens weicher Lippen und Wangen und des Glühens dunkeler Augen, das traumhaft bisweilen seinen Blicken begegnet war.
Mit welcher Macht konnte die Leidenschaft in dieser jugendlich starken Natur rütteln, die ihren Angriffen noch nicht zu widerstehen gelernt und durch Unterliegen noch keine Kraft gebüßt hatte, sich ihr zu widersetzen! Mit welcher ursprünglich wilden Heftigkeit konnte hier das Verlangen nach überschwenglichem Glücke auftreten, und wie unermüdlich oft konnte es neu wiederkehren, wenn die Vernunft es bezwungen glaubte! Es wurde dem Denker unheimlich vor der Gewalt der dämonischen Mächte, die plötzlich aus dem Grunde seines eigenen Wesens in ihm auferstanden waren. Er mußte Klarheit haben. Er dachte und dachte, wie der quälende Widerspruch in dem Wesen dieses Mädchens zu lösen sei. Endlich kam ihm ein Gedanke: er, der Unerfahrene, müsse sie mit falschen Augen betrachtet haben, und jetzt, wo er sie kenne, werde er ihren wahren Charakter auch in ihren Zügen lesen. Er entschloß sich, ihren Anblick nicht mehr zu fliehen, sondern ihr gegenüber Auge gegen Auge von ihrem Zauber sich zu befreien.
Er ging denselben Abend in die Oper. Das Stück hatte bereits begonnen, als er in die gewohnte Loge trat, wo er Horn zu finden wußte. Sein erster Blick richtet sich auf die Loge vis-à-vis. Da sitzt wieder Delphine in ihrer eigenthümlichen Stellung, gebeugt, den Kopf aufgestützt, die Hand in den Scheitel gewühlt, als hätte sie sich nie von ihrem Platze gerührt, gleich einer Statue, wie man sie auf Gräbern als das Bild der Trauer findet. Ernst erschrak, als er sie scharf betrachtete; ihre Züge sahen kalt und todt aus, in der That wie ein Marmorbild; zwischen den Augenbrauen am unteren Ausgange der Stirn lag ein herber, finsterer Zug, der ihn beängstigte über die Härte des Gemüthes oder die Tiefe des Schmerzes, die er verrathen mußte. Auf ein geniales Weib deutete diese eigenthümliche Erscheinung; aber bei der Strenge der Züge, bei der Einfachheit und Nachlässigkeit des ganzen Aeußeren konnte man nur auf eine Gelehrte, eine Künstlerin schließen; von Koketterie und Lüsternheit fand Ernst nicht einen Zug.
Plötzlich, wie aus bösem Gewissen mußte Ernst zusammenfahren. Delphinens aufgeschlagenes, großes Auge hatte ihn getroffen, und in demselben Augenblicke verklärte und durchgeistete ein inneres Leuchten ihre Züge. Sie beugte sich vor, ihm entgegen, stützte das Kinn in die eine Hand und schaute ihn an mit Augen, aus denen ein Glanz zu ihm hinüberfluthete, weich und schwärmerisch wie der melancholische Schein des Mondes. Ihre Lippen lächelten wehmuthvolle Freundlichkeit zu ihm hinüber, als wollten sie sagen: Warum blickst du fort von mir? schau mich doch an; kennst du mich nicht mehr? wir sind ja so vertraut! Die Pfeiler seiner Grundsätze fühlte er hinwegschmelzen wie Eis vor der Frühlingsluft und er konnte nichts thun, sie aufrecht zu erhalten; es war ihm so wohl, dem warmen Lebenshauche seinen Busen zu öffnen, so wohl, all seinen stolzen, festen Willen schwinden zu sehen; er hätte niedersinken mögen vor diesem zweideutigen Mädchen und um den Preis seines Lebens sie bitten: O, sei mir so vertraut, so nah! laß mich glücklich sein in deinem Arm, daß ich Alles vergesse, die Welt und mich zuerst! Da begegnete er den hämisch blinzelnden Augen Horn's, der sich zu weiden schien an dem Anblick seiner Beängstigung. Damit erwachte in Ernst der Stolz seines bessern Selbst wieder. Er riß seine Gedanken los von der verführenden Sirene, aber seine Gedanken waren erfüllt von dem Räthsel: wie ist es möglich, so erhaben schön und doch so tief gesunken? Er verzweifelte daran, dieses Räthsel sich lösen zu können. Er wollte gar nicht mehr denken. Er suchte sich zu zerstreuen und der Oper zu folgen. Man gab Weber's Euryanthe. Die Aufführung konnte die Flamme seines Innern nur mehr anfachen. Der romantische Reiz verklärter Sinnlichkeit, der von dort aus durch Aug und Ohr sich in seine Seele schmeichelte, ließ ihm die Lust der Liebe nur köstlicher und den Mangel seines armen Herzens nur schmerzlicher erscheinen. Als nun in der Oper die beiden Liebenden nach langer Trennung sich wiederfinden und, Eins in den Armen des Andern, ihrem übermächtigen Entzücken Ausdruck geben in dem Gefühle:
»Nimm hin die Seele mein,
Athme mein Leben ein!«
und als er dabei hinüberblickte zu den Augen und Lippen, die mit ihrem holden Lächeln ihm all diese reine, heilige Seligkeit zu versprechen schienen, da überwältigte ihn der Kampf seines Innern. »Und du lügst doch, du himmlisch schönes, teuflisch falsches Weib!« hätte er ausrufen mögen. Er aber wollte sich nicht belügen lassen; er suchte sich zu zwingen und die Versuchung von sich zu weisen. Fort! Fort! Er brach auf. Als er die Treppen hinuntergeeilt war und am Ausgange über die freien Plätze blickte, auf denen es noch halb Tag war, fällt es ihm erst ein, daß er nicht weiß, wohin er sich begeben soll. Bei seiner Stimmung mochte er nicht allein bleiben und Gesellschaft wußte er nicht anders zu finden, als wenn er Horn im Theater wieder aufsuchte. Er kehrt um; ebenso rasch, wie er heruntergekommen, eilte er die Treppe hinauf. In seiner Hast merkt er nicht, daß die Stufen hinab ihm Jemand entgegenkommt; hart tritt er einer Dame entgegen und ist in Gefahr, sie über den Haufen zu rennen. Erschreckt reicht er ihr die Hand, um sie zu halten, und siehe da, Delphinens großer Blick ruht von oben herab mit freundlich schelmischem Lächeln auf ihm.
»Delphine!« ruft er bestürzt.
»Ernst!« lispelte sie leise und ließ, ein wenig erröthend, die Augen sinken, indem sie die Hand, die er ihr zur Stütze reichte, annahm und behielt.
»Sie kennen mich, Fräulein«, sagte Ernst schnell gefaßt, »– um so mehr muß ich um Vergebung bitten. Es war ein unverzeihliches Versehen.« Er verbeugte sich und ließ sie stehen. Er ging hinauf, aber nicht zu Louis. Er wollte ihm in seiner Aufregung nicht begegnen. Er setzte sich wieder in eine Loge, aber nach wenigen Augenblicken brach er von neuem auf. Hastig lief er die Straßen entlang. Es zog ihn über die Kurfürstenbrücke und dann immer vorwärts durch unbekannte Straßen einher.
Ernst, bei den zurückhaltenden Sitten seiner Jugendkreise, sah das kecke Entgegenkommen Delphinens, die im Theater ihm nachgelaufen war, für unweiblich an; er fühlte sie dadurch ihres idealen Nimbus zum großen Theil beraubt, und glaubte sie jetzt verstehen zu können. Dennoch aber drängte all sein Empfinden sich immer noch ihr zu. An ihre Züge hatte sich für ihn die Ahnung der höchsten Liebesseligkeit gebannt und unablässig verfolgte ihn das sehnende Verlangen: »Wenn sie in Wahrhaftigkeit dir sagte: ich liebe dich, mit jenem Lächeln, jenem Blicke, mit dem sie dir wiedersagte: nimm hin die Seele mein, athme mein Leben ein!«
»Aber so –! o, du himmlisch schönes, teuflisch falsches Weib!« Der Gedanke ihrer Verworfenheit gewann wieder die Oberhand in ihm. Dann stieg aus dem tiefsten Grunde seiner Seele wieder der Schmerz um sein verlorenes Dasein herauf und wälzte seine Gedanken und Empfindungen noch wüster chaotisch durcheinander. Endlich tauchte die Gestalt eines bestimmten Entschlusses daraus hervor. »Was will ich denn? Glück? Ist der Schein des Glückes nicht auch Glück? Ja, ist das Glück überhaupt nicht nur Schein? Warum mich nicht hingeben dem süßen Scheine des Glückes, wenn er mich nur glücklich macht? Warum laß ich mich nicht von ihr fangen? warum mir nicht sagen, daß sie mich liebt? warum mich nicht herzen und küssen? Ob sie lügt, was kümmert das mein Glück! Zum Glück gehört ja nichts als glauben, daß ich glücklich sei. Nun denn, so will ich glauben! Ja, Delphine, was kümmerts mich, wenn du lügst, wenn du auch Andere küssest, – nur liebe mich und küsse mich! Delphine! süße Delphine! wo find ich dich, Delphine?«
So lief er durch die Straßen, seiner Gewohnheit nach halb laut vor sich hinredend.
»Cesar, was rufen Sie mich?« so redete ihn plötzlich eine zarte Stimme an und es faßte ihn Jemand sanft beim Arme.
»Ha! Delphine!« schrak er, der den Gedanken eben so kühn gefaßt, heftig zusammen, als er an dessen Ausführung gehen sollte.
»Was? nicht Cesar? Herr mein Gott, Sie sinds!«
»Ich bins, Fräulein Delphine. Ernst, so nannten Sie mich selbst. Sie kannten mich also, – Delphine?« wagte er zu sagen.
»O, wohl kannte ich Sie. Aber – mein Gott, es ist fast Nacht, und wir bleiben stehen. Begleiten Sie mich!«
In dem bestimmten, vertrauten Tone, mit welchem sie das sagte, glaubte Ernst die Grisette erkannt zu haben. Wer so sicher in diese Heimlichkeit sich fand, mußte schon oft in solcher Situation gewesen sein. Trotzdem, vielleicht gerade deshalb begleitete er sie. Ein Sommerabend in den Straßen Berlins! Welches unendliche, wogende Meer des Menschenlebens, zauberisch halb verdeckt durch das Dunkel, durch Mondschein halb erleuchtet, hier aufflimmernd in feuchtglänzenden Augen, dort vorbeirauschend in Seidengewändern, stets bald leiser, bald lauter hin- und herflüsternd! Der junge Candidat fühlt das abenteuerliche Verlangen, in dieses geheimnißvolle Wogen erkennend niederzutauchen. Er kam sich vor wie Faust, der sich herabläßt, der sorglosen Heiterkeit dieser curiosen Welt nachzugehen. Er war entschlossen, mit seiner schönen Begleiterin zu gehen, so weit sie ihn gehen ließ. Noch aber hatte er nicht den Muth, ihr seinen Arm anzubieten. Das Drängen der Vorübergehenden trennte sie so oft, daß sie zu keinem Gespräche kommen konnten. Endlich erreichten sie den Alexanderplatz. Delphine schritt quer über den freien menschenleeren Raum, und so wie sie sich ungestört sah, begann sie: »Sie müssen sich wundern, Herr Wagner, daß ein junges Mädchen der Bekanntschaft mit einem Herrn so entgegenkommt. Aber Sie sind mir ja nicht fremd, ich kenne Sie schon längst und sehr genau.«
»Sie haben schon von mir gewußt?« frug Ernst, freudig überrascht. »Mein Freund Horn hat wol von mir erzählt?«
»Nicht blos das, er hat mir auch Ihre schönen Briefe gezeigt, und er schätzte Ihre Anhänglichkeit so hoch, daß ich ihn um Ihre Freundschaft beneiden mußte. Dieser Wunsch und das Vertrauen, das mir Alles einflößte, was ich von Ihnen hörte, hat mir den Muth gegeben, Ihrer Bekanntschaft mit einer Kühnheit entgegenzukommen, wie sie mir sonst bei keinem Manne auf Erden möglich gewesen wäre.«
Damit gewann sie für Ernst den Zauber der Hoheit wieder, den er schon gebannt zu haben meinte. Seine Sehnsucht, in Allem das Ideal zu finden, nahm ihm den Muth der Frivolität. Der kecke Don Juan wurde wieder zum schüchternen Candidaten. Aber – sollte die Eroberung sich denn von selbst ihm in die Arme werfen? Ehrgeiz und Verlangen stachelten seine Unternehmungslust von neuem auf. Auch dieses entschuldigende Erröthen konnte ja feine, neckende Kriegslist sein; sie war darum noch nicht unnahbar. Die gemeinschaftlich gekannte, dritte Person konnte leicht als Brücke für die Annäherung dienen. Ernst begann von Horn zu sprechen: »Sollte Horn meine Anhänglichkeit wirklich so hoch schätzen?«
»Davon sind Sie nicht überzeugt?«
»Ich bin es wohl, aber mehr dann, wenn ich ihm fern, als wenn ich ihm nahe bin. Der Kern seines Wesens ist edel und mir theuer; sein Benehmen aber ist abstoßend. Ich weiß es, da ich ihn aus den Jahren der jugendlichen Offenheit kenne, daß er viel Gefühl hat, ja, so viel Gefühl, daß er sich selbst davor fürchtet und sich durch äußerlichen Witz und durch das Renommiren mit Gemüthlosigkeit davon zu befreien sucht.«
»Lassen Sie uns umkehren!« sagte Delphine, als sie am Ende des Platzes angekommen waren, und erwiderte auf seine Rede: »Es ist unmöglich, in dieser Welt mit einem großen Herzen glücklich zu sein!«
Ernst, der nun wußte, daß das schwärmerische Pathos seiner Briefe ihn dem Mädchen interessant gemacht hatte, kehrte diese Seite seines Wesens absichtlich heraus; er, der sich sonst immer nur gab, wie er war, lernte heute, sich zu stellen, wie er scheinen wollte. Er entwickelte ihr mit dem vollsten Glanze seines schönrednerischen Talentes jene Ideale seiner Jugend, jene Träume, die er nicht Träume nennen könne, sondern die Wirklichkeit seines Wesens, die Wahrheit seines Ich u. s. w., von denen Louis Horn so treulos abgefallen sei. »Wahrheit und Glück«, so fuhr er fort, »dazwischen schwankt unser Leben. Entweder wir leben dem angebornen Adel unserer Gesinnung und kämpfen an gegen die Schranken der entgeisteten Welt; dann hat das Leben für uns keinen Augenblick der Ruhe, keinen Herzschlag der Freude. Oder der Mensch will den Genuß seines Daseins; dann muß er die Wahrheit verrathen und an die Falschheit der Welt sich wegwerfen. Horn hat den Muth für die Wahrheit verloren und sich in die Welt verirrt. Aber er kann nicht glücklich sein. Ein Geist wie er hat keine Liebe, keine Begeisterung, nur – Spaß! Und ich – o, ich kann gut reden von seiner Verirrung und bin doch demselben Schicksal verfallen, verkauft an ein Amt der Lüge, an eine Ehe ohne Liebe. Ich bin verlobt. Meine Braut, das gute Dorfkind, liebt mich; aber wie sie liebt, kann es mich nicht glücklich machen, und wie ich lieben möchte, das vermag sie nicht zu verstehen.«
Als er diese Worte gesprochen, mußte er vor sich selbst erröthen. Um sich diesem Mädchen von so zweideutigem Charakter interessant zu machen, hatte er das Heiligthum seiner Familie geschmäht. In seinem freien Bewußtsein gab es kein Heiligthum, aber es war heute das erste mal, daß er es durch ein Wort verleugnete, und mochte es vor seinem Denken gerechtfertigt sein, das Gefühl in seinem Blute schämte sich dessen. Obgleich er nichts davon wissen wollte, sein Gewissen beklemmte seine Brust; er sprich nicht weiter. Delphine, indem sie am andern Ende des Platzes wieder umkehrte und, wo es am einsamsten war, auf und abging, begann jetzt ihr Geständniß: »Als ich Ihre Briefe zu lesen bekam, Herr Wagner, da war mir bei manchem Ihrer Worte, als hätte ich das selbst schon gefühlt, als hätte mein Geist im Traume mit dem Ihren verkehrt und ich läse jetzt klar, was ich damals nur halb verstanden hatte. O, ihr Männer seid doch glücklich gegen uns! Ihr werdet euch dessen klar bewußt, was euch fehlt; euer Schmerz ist ein offener Kampf gegen die Welt, der euch groß und bewundernswerth macht. Bei uns schwachen Weibern aber ist es ein unendliches Weh, das sich nur erdulden läßt. Auch wir haben Ahnungen von Größe, Träume von einem unnennbar erhabenen Glücke; und was bietet uns die Welt? Nur Hohn über Alles, was wir als göttlich ersehnen. Wir können nichts thun für unsere Ideale, als uns sehnen und – weinen, daß wir uns ewig nur sehnen können.«
Ernst war verschämt über diese Enthüllung ihres Herzenslebens; noch nie hatte sich eine weibliche Seele so rückhaltslos nackt seinen Augen dargestellt. Doch schämte er sich vor sich selbst dieser Verschämtheit und zwang sich, darin die Größe des emancipirten Weibes zu bewundern. Voll aufrichtiger Theilnahme bat er: »Entdecken Sie mir Ihren Schmerz. Es ist ja meine Bestimmung, Seelsorger zu sein, wie könnte ich sie besser erfüllen, als Ihnen zu rathen!«
»Meinen Schmerz? Das ist ja mein Unglück, daß ich ihn nicht nennen kann; er ist ein namenloser Schmerz. Ich fühle eine Sehnsucht nach einem himmlischen Glücke; meine Seele hat die Fähigkeit und das Bedürfniß unendlicher Liebe; und doch ist nichts auf der Welt, was ich lieben, was ich ersehnen könnte; ich darf ja nichts je zu erreichen hoffen! Wie arm ist doch ein Mädchen! Sein Loos ist vorgeschrieben, sobald es das Licht erblickt. Was sich ihm nicht aufdringt, darf es nicht verlangen, denn nichts kann es selbständig sich erobern, – ohne Willen, ohne Selbstbestimmung, ohne That, nur dem lieblosen Schicksal verfallen. O, und mein Schicksal ist so arm!« Sie war stehen geblieben. Der Mond schien ihr ins Antlitz. Sie war eine der Schönheiten, die im Mondlichte am bezauberndsten sind; das große, gen Himmel blickende Auge strahlte erst jetzt seine volle Seele aus; die bleichen, durchschmerzten Züge zeigten sich in ihrer ganzen ausdrucksvollen Pracht. Ernst stand bewundernd vor ihr.
Nach einer Pause schritt sie wieder weiter und sprach in rascherem Tone: »Ich bin mein Leben lang unglücklich gewesen, so lange ich denken kann. Aber einen Trost hatte ich immer, den Glauben an Gott. Ich liebte auch damals das Leben nicht, aber ich fühlte mich glücklich, es nicht zu lieben; ich war ganz Schmerz, aber mein Schmerz war heilige Wonne. Es ist so süß, in dem Glauben zu leben, daß diese ganze Welt sündhaft und verworfen ist und die auserlesene Seele über sie hinaus in himmlische Seligkeit sich schwingen kann. Der Glaube ist süß, aber nur ein Kind kann glauben. Ihr gedankenreicher Freund hat mir den Glauben der Kindheit genommen und mir das Bewußtsein des Geistes gegeben. Ich bin seitdem erst ganz trostlos geworden; aber ich danke ihm, ich will lieber die Verzweiflung der Aufrichtigkeit als einen Trost, der Lüge ist.«
Atheistin! Dieser Gedanke entflammte den Theologen. In innerster vollster Hingebung war seine Seele zu ihr hingerissen. Bei der Hand sie festhaltend, sprach er mit erhobener Stimme: »Wie stark Sie sind! Ein echtes, freies Weib! Ja, das ist die wahre Sittlichkeit, nicht um der Ruhe des Gemüthes willen glauben, sondern die Wahrheit bekennen, trotz der Verzweiflung. Und doch verzweifeln Sie nicht, Delphine! Es gibt einen Gott, den Sie bekennen sollen und dessen Bekenntniß Sie beglücken wird, – nicht ein Gott, der in der Stunde der Schwäche und Zerknirschung in unser Herz einzieht, sondern der Gott, dessen wir uns bewußt werden im Gefühle unserer göttlichen Natur, dem wir dienen nicht im Entsagen, sondern im Erringen der Freiheit und des vollsten Glückes. Wir brauchen ihn nicht zu suchen, nur ihn nicht zu ertödten; er lebt in der Vernunft, im Herzen des Menschen selbst. Geben wir uns unserem eigenen menschlichen Wesen nur ganz hin und wir werden vollendet glücklich sein!«
Er brach in seiner Begeisterung plötzlich mit Verlegenheit ab. So wie er es ausgesprochen hatte, fiel ihm ein, daß er gesagt hatte: geben wir uns hin und wir werden glücklich sein! Ohne daß er es beabsichtigt hatte, klang das nicht wie eine Auffoderung? Sie war wieder stehen geblieben. Ihr großes, schwermüthiges Auge haftete auf ihm; er wagte nicht sie anzublicken, aber er fühlte es centnerschwer an sich hängen. Dieser stolze, heilige Blick, und – glücklich sein! Eine Erinnerung und eine Ahnung von diesem Glücke machte seine Gedanken verwirrt. Er wußte kein Wort weiter zu finden.
»Ich kenne diesen Gott«, sagte das Mädchen in weihevollem Tone; »aber das ist ja mein Unglück, daß ich ihm nicht leben kann. Wo habe ich die Kraft, mich loszureißen von den Schranken dieser Welt, mein eigenes Schicksal mir selbst zu schaffen? Ach, ich bin ein schwaches, verlassenes, unglückseliges Kind. Mein einziger Trost und Halt ist meine Mutter, meine selige Mutter. Am Sterbebette habe ich es ihr gelobt – es war eine schrecklich heilige Stunde, die ich nie vergessen werde, – ihren frommen Lehren stets zu gehorchen, ihr mein ganzes Leben zu weihen. Es versteht mich ja sonst doch Niemand. Jeder große Schmerz ist ein Eremit auf Erden.«
Sie blickte, die Hände in einander geschlagen, mit dem Ausdruck tiefen Schmerzes in den vertrauten Mond. Ernst hätte in Bewunderung vor ihr niedersinken mögen; und doch zwang er sich zu der frivolen Entschließung, die Fesseln der äußern Form zu durchbrechen und sie um die höchste Gunst zu bitten; aber er wußte nicht, mit welchem Worte er anknüpfen sollte. Endlich als sie jetzt schwieg, faßte er sich Muth: »Nein, Ihr Schmerz ist kein Eremit, wir verstehen uns, lassen Sie uns zusammen glücklich sein!« wollte er, ihr zu Füßen fallend, ausrufen, da hörten sie plötzlich die Uhr schlagen; es war zehn Uhr. Erschreckt reichte sie ihm die Hand: »Adieu, leben Sie wohl. Ich muß fort. Besuchen Sie mich morgen, ich bitte, morgen früh um elf Uhr.« Sie nannte ihm Straße und Nummer des Hauses, schlug seine Begleitung mit Bestimmtheit ab und war enteilt.
Ernst stand nun auf dem großen einsamen Platze und suchte im Scheine des Mondes seine Eindrücke zu sammeln. »Solch ein Weib! Das ist ja das große, freie Weib, das mein Leben lang mir vor der Seele stand! Ein heiliges Weib, erfüllt von der Idee, beseelt von derselben Religion wie ich!« So rief es in ihm. Er war aus seiner weltmännischen Keckheit wieder herausgefallen, diesmal in enthusiastische Bewunderung. Er mußte sich erst sammeln, um wieder daran zu denken: und doch so versunken! Wie war es denn aber möglich? Dieses Räthsel quälte ihn aufs neue in erhöhtem Grade. Wie sich bisher seine Phantasie vergeblich abgemüht, jene wüsten Erinnerungen in diese Züge einzutragen, so vermochte jetzt seine Vernunft den Widerspruch nicht zu lösen, wie diese erhabene Seele in jenes liederliche Leben verfallen konnte.
Je reizender ihm Delphine jetzt wieder geworden war, um so räthselhafter, und je räthselhafter, um so fesselnder war sie wieder. Zur Sehnsucht des Gefühles kam das Bedürfniß der Vernunft, die nicht davon ablassen konnte, diesen Zwiespalt begreifen zu wollen. Aber alles Suchen seiner Gedanken fand keinen Ausweg. Er raffte allen Leichtsinn, dessen er fähig war, wieder auf. Es sei, was es wolle! Er war entschlossen, das Abenteuer zu verfolgen. Konnte es ihn zurückhalten, daß er Horn das Wort brach? – wem hätte Horn das Wort gehalten, wenn es seinen Spaß beeinträchtigte? Und sollte er allein gegen alle Wirklichkeit sich anstemmen? Er wollte gemein sein wie die ganze Welt.
Als Ernst an diesem Abend sich zur Ruhe legte, kam er sich vor, wie ein fremder Mensch. Er hatte gelernt, frivol zu sein.
Dennoch schellte er verwirrt und bebend am andern Tage an Schulzens Thüre. Delphine reichte ihm beim Empfang wieder die Hand; mit einem Schreck durchbebte ihn das Gefühl dieser weichen Fülle, daß er keines Wortes mächtig war.
Er wurde in Tantchens Zimmer geführt und ihr vorgestellt als neuer Freund. Glücklicherweise konnte Tantchen nicht hören, daß der Fremde nicht sprach. Sie litt heute sehr an ihrem Gehörübel, und da sie immer noch zu eitel war, es Andern merken zu lassen, war es ihr angenehm, als Phindel nach wenigen Worten den Freund in ihre Stube führte.
Der Kampf seines Innern und das ungewohnte Leben malten sich in Ernst's Zügen. Er sah höchst interessant aus.
»Mein Gott, sind Sie krank? Sie sehen ja so blaß und verstört aus!« frug Delphine, als sie ihn betrachtete, und ein kleines Lächeln der Schadenfreude glaubte er um ihren Mund spielen zu sehen, das ihm tief in das Herz schnitt.
Er erschrak, sich verrathen zu sehen; mit aller Gewalt drängte es ihn, aus sich herauszugehen, seine Mutlosigkeit zu durchbrechen. Er suchte ein Gespräch anzuknüpfen, aber konnte es nur zu Fragen bringen. Delphine, die bei sehr guter Laune zu sein schien, übernahm allein die Unterhaltung. Sie plauderte über Theater und Literatur, über Jenny Lind und Fanny Lewald, Mantius und Theodor Mundt, Louise Aston und Bettina in Perioden und Bon-mots, die Ernst in Erstaunen setzten und beschämten. Er fühlte sich gedemüthigt, weit hinter diesem Mädchen an Bildung zurückzustehen. War es ihm denn gar nicht möglich, sich in dieser Welt zurecht zu finden und geltend zu machen? Darüber dachte Ernst nach, während sie fort und fort mit Lebhaftigkeit sprach, dann und wann eine Pause machte, ihn fragend ansehend, und wieder weiter sprach, wenn er das Wort nicht ergriff. Endlich hörte sie auf; sie lehnte sich zurück in das Sopha, legte die Hände in den Schoos und fing an, laut aufzulachen.
Ernst wußte nicht, worüber sie lachte, und was blieb ihm übrig, als sich selbst zum Lachen zu zwingen?
Als sie das sah, lachte sie nur lauter und sah ihm übermüthig ins Gesicht:
»Aber mein Gott, worüber lachen Sie denn?«
Ernst war verlegen, was er antworten sollte, und darum verletzt durch ihre Frage.
»Ueber dasselbe, mein Fräulein, worüber Sie lachen.«
»In der That? ja, dann muß ich aufhören. Denn wissen Sie, worüber ich lachte? Ueber das fürchterlich ernste Gesicht, das Sie zu meinem albernen Geschwätz machten. Aber, wenn Sie sich jetzt selber auslachen, dann habe ich kein Recht mehr zum Lachen, und so will ich ernst sein.«
Sie lehnte den Kopf in die Hand und stützte den Ellenbogen auf die Seitenlehne des Sophas, sodaß Ernst ihr Gesicht nicht sehen konnte, sondern nur das kleine, große Köpfchen mit den vollen dunkelen Scheiteln, die so üppig von dem Weiß des stolzen Halses abstachen.
Welche Wonne wäre es für Ernst gewesen, den Stolz dieses Halses an seinem Busen sich niederbeugen zu sehen und seine Wange in der schwellenden Fülle dieser duftenden Haarwolken zu bergen! Aber Unmuth und Zorn drängten all sein Begehren zurück. Er wähnte, Delphine neige ihr Gesicht, um ihr Lachen zu verbergen. »Die Schlange, die Cokette, da erkenn ich sie doch endlich!« dachte er, und froh, von dem Zauber der Unbegreiflichkeit erlöst zu sein, brach er auf. Er nahm seinen Hut und empfahl sich mit einer vornehm kalten Verbeugung.
»Wollen Sie schon gehen?« rief Delphine erschrocken, indem sie ihre Arme sinken ließ und ihr Haupt aufrichtete.
Da sah er sie an und gewahrte, daß ihre Blicke von Schwermuth erfüllt waren und ihn finster anschauten.
Als er sie so erblickte, da wollte er ja gerne bleiben, und ein Wort von ihr: er hätte gethan, was sie nur verlangte; aber – er hatte den Hut einmal in der Hand, und es wäre gegen die Form gewesen, jetzt wieder zu bleiben. Der Denker, der die Welt nach den Ideen seines Gehirns umgestalten wollte, hatte nicht den Muth, den Hut wieder abzulegen und zu sagen: Pardon, mein Fräulein, Sie schienen verstimmt. Er ging gegen seinen eigenen Willen.
An der Thüre nahm Delphine ihn bei der Hand. »Mein Gott«, sprach sie. »Was haben Sie gegen mich, daß Sie so fortgehen wollen? Haben Sie mir meinen Scherz übelgenommen? Wie können Sie mich so mißverstehen! Wie verlangte mich, Sie zu sprechen! Was Alles wollte ich Ihnen sagen und Sie fragen! Und nun – sind Sie denn böse auf mich?« fragte sie mit einem Lächeln, wie ein Kind, das nicht weiß, ob es weinen oder lachen soll.
»Wie können Sie fragen, ob ich böse bin! Als wäre ich ein Kind, das heute gut und morgen böse ist. Wenn ich erst weiß, daß ich Ihnen gut sein darf, dann –«
»Sie wissen's nicht?«
»Darf ich's? – Delphine?« frug er, bebend ihre Hand an seinen Mund drückend. Sie stand da vor ihm, schüchtern, mit niedergeschlagenen Augen, lautlos, mit wogendem Busen.
»Delphine?« frug er sie noch einmal, dringender, bebender. Da öffneten sich ihre Lippen, sie sprach einen Laut, so leise, daß Ernst nicht hörte was. Dann schlug sie ihre großen, geisterhaften Augen weit auf, so daß er glaubte, bis in ihre innerste Seele zu schauen; sie sah ihn ruhig und sicher mit einem durchdringenden Blicke an und dann sank sie an seine Brust, als wollte sie die schöne Seele, die sie in ihren Augen ihm eröffnet, nur ihm ganz anvertrauen. Einen Kuß drückte er auf ihr Haupt.
»O welch ein Weib! Du weißt nicht, wie ich dich liebe, Delphine!« so sprach er; er preßte sie an seine Brust, und ließ sein Angesicht auf ihre Stirne sinken. Eben fühlte er ihr Herz klopfen an dem seinigen, da riß sie sich los von ihm, legte ihren Arm auf seine Schulter und küßte einen Kuß auf seine heißen Lippen, so leise, daß er ihn fast nur an dem Hauche ihres Athems fühlte, und so kalt, wie von den Lippen eines Marmorbildes.
»Wann sprechen wir uns wieder?« frug er, als sie ihm die Thüre öffnete, »heute Abend?«
»Nein, heute nicht! – mein Onkel kommt – aber morgen können wir uns sprechen! Morgen Abend!«
»Morgen Abend«, sagte Ernst, und eilte fort. Die Zeit aber wollte nicht eilen. Er wartete so lange, so unendlich lange, und es war immer noch heut, und bis Morgen, und morgen noch bis Abend sollte er warten! Endlich fing der Tag an sich zu neigen und die ersten Schatten der Dämmerung senkten sich über die Stadt. Unser Freund wollte die Abendluft genießen; er ging spazieren. Ehe er sich's versah, befand er sich vor Delphinen's Haus, doch erst morgen Abend durfte er hinein. Er blieb stehen, um verdeckt von dem Schatten eines Brunnens ihrer Thüre gegenüber zu warten, bis er den Onkel gesehen. Es dauerte nicht lange – Cesar schlüpfte in das Haus. Eifersucht packte den verlangenden Denker und trieb ihn davon, durch die Straßen hin und her. Er trat in eine Restauration, um etwas zu genießen, um eine Zeitung zu lesen, aber seine Unruhe ließ ihn nicht bleiben. Er stürmte wieder weiter und weiter und er stand wieder vor ihrem Hause. Da die Fenster geöffnet waren, so glaubte er Laute zu vernehmen; jetzt – lachte sie nicht? – und sprach Cesar nicht so eben? Aber der Lärm der Straße verwehte jeden sichern Ton; in dem Augenblicke, wo er einen Laut erfaßt zu haben meinte, war er übertönt und er mußte glauben, sich geirrt zu haben. Endlich hatte er deutlich gehört, Delphine sang – da, jetzt wieder, ein langer Laufer durch zwei Octaven auf und abwärts, eine lebhafte ausgelassene Figur, ein athemlanger Triller in der höchsten Höhe, dann pötzlich der Grundton zwei Octaven tiefer kurz angegeben, und sie brach mit Cesar in lautes Lachen aus.
»Und um dieses Weibes willen soll deine Seele Schmerz empfinden?« Empört wandte er sich hinweg. Er sehnte sich fort aus diesem wüsten, verworrenen Leben, und jetzt schien ihm der reine Friede in seinem aelterlichen Hause wünschenswerth. Ein tiefes Heimweh zog in seine Brust ein und es war ihm, als könne er im engen Kreise der Liebe und Tugend doch glücklich werden. Er faßte gute Vorsätze, den schrankenlosen Drang seines Geistes zu bezwingen und den liebenden Seinen zu Liebe zu leben. Zu Hause angekommen, setzte er sich an den Secretair, um der Mutter und der Braut einen trostreichen Brief zu schreiben. Als er Worte des Trostes suchte und an das Unglück dachte, über das er sie trösten sollte, an den Verlust des Vaters, da kam ihm seine schwere Schuld in den Sinn, da war der Friede aus seiner Brust verscheucht, wild bäumte sein Gewissen sich empor, bis in den tiefsten Grund war seine Seele in angstvoller Unruhe aufgewühlt; er sprang auf von seinem Briefe und rannte die Hände ringend im Zimmer auf und nieder. »Ist das der Friede, der in deiner Heimat dich erwartet? Welche Stimmungen werden auf dich eindringen, wenn dort Alles und Alles dich erinnert an den Vatermord?«
Er nahm seine Zuflucht in die Region des freien Geistes und wollte durch die Dialektik der Vernunft die Stimme seines Gewissens hinwegdisputiren. »Ist der Tod des Vaters nicht nur Zufall? Hast du anders gehandelt, als du konntest?« So sagte er sich, aber war auch sein Denken überzeugt, sein Gefühl wollte nicht glauben an die Logik des freien Geistes. Und hätte er die Stimme in seinem Innern beschwichtigt, er mußte die lauten oder verschwiegenen Vorwürfe derer fürchten, die ihn umgeben würden; er dachte an die anklagenden Blicke seiner Mutter, an die rohen Aeußerungen des Collegen Striegnitz. »Wenn die Unterdrückung deiner Ueberzeugung mit solchem Frieden beginnt, womit wird sie enden?« Der Gegensatz seiner doppelten Pflicht war wieder jäh vor ihm auseinandergeklafft; in der Rettungslosigkeit der Verzweiflung stierten seine Gedanken hinab in die bodenlose Kluft. Da kam es in seiner Erstarrung über ihn wie ein erlösender Traum in der Qual des Fiebers; es trat an ihn heran, wie ein rettender Genius und faßte ihn bei der Hand und zog ihn unwiderstehlich sanft fort von dem gähnenden Abgrund in die Arme der Liebe. Er erwachte aus seinem Brüten, die Leidenschaft für Delphine hatte ihn umstrickt. »Fort, fort!« schrie er auf, mit den Armen von sich weisend; aber unsichtbare dämonische Macht hatte sein ganzes Denken und Fühlen umschlungen, besänftigte kosend seinen aufwallenden Zorn, führte ihn mit sich immer widerstandloser, und hielt ihn gefesselt in der Erinnerung an das unendlich wohlthuende Vergessen, das er in jener verhängnißvollen Nacht gekostet. Noch einmal empörte sein Geist sich dagegen. »Bin ich nicht frei?« rief er zu sich: »Um deine Freiheit doch in den Staub zu werfen?« antwortete es in ihm. Noch einmal blickte er in den Abgrund seines Schicksals und dann warf der freie Geist sich blind in die Arme der Leidenschaft. Die Qual des Gewissens und der Verzweiflung suchte er zu übertäuben im Sturm des Verlangens. Das Bewußtsein, nur drei Tage noch sich selbst zu gehören, trieb ihn nur mehr an, im Rausche des Genusses sich selbst zu vergessen.
Er setzte sich nieder an den Schreibtisch, zerriß den Brief an seine Mutter und schrieb an Delphine.
»Delphine! Was Alles wollte ich dir sagen, um was Alles dich anflehen, als du mir heute gestandest, daß ich dich lieben darf. Aber – was war meine Sprache? – ein rascher, tiefer Blick, ein einziger, langer Kuß, ein süßes Wort, das war Alles. Und doch – wie viel sagte das schon! Du sollst Alles erfahren. Was ich im Rausche des Entzückens an deinem Busen nicht aussprechen konnte, wozu ich unter deinem Kusse nicht die Worte zu finden wußte, das soll dieses Blatt dir sagen, dem ichs anvertraue, jetzt, wo ich mich gesammelt habe von der Uebermacht der Gefühle.
Du hast mit deinen Lippen die meinigen berührt und deinen Athem mir in die Seele gehaucht; warum war dein Kuß so leise und kalt und dein Athem so flüchtig und stumm? O, Delphine, ich habe eine Ahnung, eine furchtbar lebendige Ahnung von der Fülle des Lebens, die in deinen Lippen wohnt, habe wie im Traume schon einmal deinen Leib umschlungen und mit meiner Hand deinen Nacken an mich gedrückt, ich kenne die volle Wonne, die deinen Leib durchzittert. Die Gluth des Athems, die du mir eingehaucht, hat mein ganzes Inneres mit gewaltigen Flammen erfaßt, und seit ich dich geküßt, kann ich nicht mehr vergessen das Gefühl deines warmen Lebens. Diese eine Empfindung umfaßt mein ganzes Sein und verschlingt all mein Denken. O, Delphine, ich kann nicht mehr sein ohne dich; dir gehört mein ganzes Wesen, mein Leben und meine Seele.
– Dir? – Ist es nicht Wahnsinn, zum mindesten Unvernunft, was da aus dem Herzen mir in die Feder strömt? Ich, der ich immer in der Sphäre des Geistes thronen will, der ich keinem unbewußten Gefühle, sondern nur der Vernunft gehorche, indem ich Alles zugleich denke und nicht einseitig von einem mich ganz hinreißen lasse, ich schreibe: »dir!« – dir, die du nicht mein bist und nicht mein sein kannst, und der ich nicht gehören kann! Indem ich von dir mich hinreißen lasse, gebe mich hin dem Wahne der sinnlichen Triebe und begehe eine Sünde, die verrathend, der ich Treue gelobt! – Seis! Ich kann nicht anders. Was Sünde und Tugend! Was Pflicht und Pflichtvergessenheit! Der Geist ist frei. Ich kann dir nicht Hand und Haus anbieten, aber – soll der freie Geist sich den unvernünftigen Schranken fügen? Ich weiß, du bist ein freies Weib und weißt die freie Liebe zu schätzen. Mein Leben gehört nicht mir, ich kann es dir nicht schenken: aber frei ist meine Liebe und dir bring ich sie dar. Der Zug des freien Geistes geht hin zu dem verwandten Geiste, hin zu dir, du Quell des Lebens, du Strom der Liebe, du Meer der Wonne! O! wärst du das Meer, ich stürzte mich in die Flut, daß Alles, was ich fühle und fasse, nur du wärst und daß an allen Gliedern meines Leibes die Wogen deiner Liebe sich brächen, und sollten die Wellen mich begraben! Aber jetzt – Delphine, du bist nicht das Meer, aber du bist die Delphine, die große Seele mit dem süßen Leibe, mit den wunderbaren Blicken und den lächelnden Lippen, mit dem Nacken, so stolz wie der Hals der Schwäne, mit dem Busen, so warm und weich wie das Gefieder der Tauben. – O! der Liebreiz deines Wesens ist unendlich wie das Meer! Laß mich versinken darin, laß mich ruhen an deinem Busen, laß die Kraft meines Lebens sich brechen an der Fülle deines Leibes. Laß die freien Geister die freie Liebe genießen!«
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