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Viertes Capitel.

Ernst hatte Kilian die Viertelmeile Wegs bis in das Amt begleitet. Der Barbier blieb dort; Ernst ging allein nach Hause zurück. Die Nacht, die bisher wohlig kühl gewesen war, wurde zur Zeit des Morgengrauens windig kalt; das in scharfer Glut aufleuchtende Morgenroth hob den geheimnißvollen Schleier der Nacht und ließ die Welt in gespenstig farblosem Grau erscheinen. Der düstere Kampf des Tages und der Nacht fand in Ernst's Gemüthe seinen Wiederklang. Mit heftigen Schritten ging er vorwärts; dann blieb er wieder einmal stehen und stieß einen Fluch oder einen Seufzer über die Lippen, so daß sein Athem in der kalten Luft dampfte.

»So liebt er sie!« sagte er vor sich hin: »Und ich –? Barmherziger Gott –!Gott? Nein! Kein Gott! Und doch: was habe ich gethan?«

Vor seinen eigenen Lauten schrak er auf; Frost durchschüttelte ihn und er stürmte schnell vorwärts. Sein Vaterhaus sah er nahe vor sich; da zögerte er mit seinen Schritten, als scheue er, sich ihm zu nähern. In finsteres Sinnen versunken blieb er stehen. Die Müdigkeit der durchwachten Nacht fühlend, lehnte er sich an eine schlanke Birke, die am Wege stand. Er blickte zu den Wurzeln des Baumes nieder, die sich noch oberhalb des Bodens theilten und in die mütterliche Erde fest einklammerten, dann sah er den weißen Stamm hinauf nach der blätterreichen Krone, die anmuthsvoll und lustig in den Lüften schwankte.

Er sprach wieder zu sich: »So wächst die Natur aus dem Boden heraus, an den Boden gefesselt, ohne Mühe und Kampf; sie lebt, weil sie leben muß, weil Kraft und Bewegung sich von außen aufdrängen; bewußtlos erblüht sie und verblüht, – Alles, wie von selbst. Aber ich – ich Mensch, der Sohn Gottes, die Person gewordene Vernunft, ich lebe nur durch mich selbst; losgelöst bin ich von der Erde, an keinen Boden gefesselt; selbst muß ich das Leben mir erringen in stetem Kampf und Schmerz; ich bin nur durch den freien Willen und das schwere Ringen meines freien Geistes. Muß ich mir da nicht beantworten können, warum ich lebe, warum so, und warum nicht anders? Nichts da mit dem Dasein, wie Natur und Gewohnheit es mir aufzwingen wollen! Leben will ich, indem ich das Warum? mir beantworten, indem ich mir jeden Augenblick sagen kann, daß ich meine Bestimmung erfülle, – meine Bestimmung!«

Weiter sprach er nicht; seine Wangen waren todtenbleich geworden von der inneren Erhebung und von der Kälte des Morgenwindes; seine tiefliegenden Augen hatte schwärmerisches Feuer durchleuchtet. Jetzt fuhr er plötzlich zusammen; heftig trat er die Baumwurzel mit dem Fuße; die Blässe der Begeisterung wurde die Blässe der Verzweiflung. »Und das Alles jetzt dahin! Nun hier! hier! Warum –? Warum –?« rief er höhnend in die Leere um sich und, als wolle er der todten Natur diese Frage abdringen, rüttelte er an dem Baumstamme. Die großen Regentropfen fielen ihm auf Hand und Gesicht. Er wurde aus seinem Träumen erweckt. Es durchfröstelte ihn kalt; die Zähne schlugen ihm aneinander. Trostlos sah er um sich in die öde Farblosigkeit des grauenden Tages und das Einerlei der ländlichen Gegend. Feldarbeiter gingen bereits an die Arbeit. Er wollte nicht von ihnen bemerkt sein und schlich sich an den Gartenzäunen nach Hause.

Es war Sonnabend. Ernst saß neben Aennchen in der Gartenlaube. Sie nähte; er schrieb einen Brief an Doctor Ludwig Horn, Gymnasiallehrer in Berlin. Er schrieb:

»Hansdorf, den … Juni 1845.

Prost, Bruder Titan, College Demagoge, ich bin Dir nachgekommen. Ich habe die Examina doch noch gemacht und sitze nun auch mitten im Philisterium drin. Als wir vor vier Jahren bei Deinem Doctor- und Abschiedsschmause die letzten Gläser mit einander leerten, erinnerst Du Dich noch der Rede, mit der ich damals den Burschen Titan zu Grabe trug und Dich zum Philister Doctor taufte? Da nahm ich den Mund voll und nannte Dich einen Abtrünnigen von der Sache der Wahrheit, einen Feigling im Kampfe für die Freiheit! Und nun –! Ich dachte nicht, daß es so kommen würde, und doch muß es so sein. Mein Vater geht nächstens drauf, ich muß für eine Mutter und eine Cousine sorgen. Welch andrer Weg bleibt mir da offen, als meine Theologie wieder zu satteln und in die Stelle meines Vaters nachzurücken? Das Stundengeben und mein bischen Schriftstellern kann kaum Einen ernähren, viel weniger Drei.

Prophezeit nicht gerade das tiefe Weh, das durch die ganze Welt geht, die Geburtsstunde einer neuen Zeit? Die überall auftauchende, religiöse Bewegung, ist sie nicht das erste Aufdämmern des erwachenden Geistes? Fehlt ihr auch noch die Klarheit und Consequenz der absoluten Vernunft, sie wird ja doch durch den unwiderstehlichen Zwang der Wahrheit fortgerissen werden nach der Bestimmung der Geschichte; bald wird sie auch der Bethätigung unserer Ideen das Feld geebnet haben, so daß wir offen wirken können, die Propheten eines neuen vollendeten Evangeliums. O, wenn ich daran denke, dann haucht es mich an, wie der Athem der Weltgeschichte; dann ist es mir, als wenn der Geist, der heilige Geist der Zeiten über mich kommen und in Alles opfernder, Alles überwindender Begeisterung mich hinaustreiben wollte über diese kleinen Verhältnisse der Gewohnheit und Unvernunft in das beseligende Wirken für das Menschengeschlecht.

Und nun – sitzend auf der Dorfpfarre, gefesselt in diese beschränkte, todte Welt, in der kein Funke geistigen Bewußtseins sich regt und sich erregen läßt, deren ganzer Inhalt auf Nichts hinauskommt, als das tägliche Brot zu backen und zu verzehren. In Kummer werden diese Leute – Menschen kann ich sie nicht nennen – gezeugt und zu Kummer wachsen sie auf. Wenn sie aber einmal genießen und sich glücklich fühlen, dann sind sie wie die Kinder oder die Tölpel.

Da ist mein Vater! Wie liebe ich diesen guten, guten, alten Mann! Alles thue ich für ihn, was ich kann; und doch schaudert mich, wenn ich denken muß, ich könnte einst eben solch guter Mann werden. Wie ist sein Leben so in der Sorge zum Leben stecken geblieben, daß er selbst nie zum Leben gekommen ist. Sein ganzes Dasein ist nur ein Kümmern.

Und meine Mutter! O, wenn ich an meine Mutter denke, dann preßt sich in meinem Herzen auf einmal der Schmerz um zwei Leben zusammen. Meine Mutter ist auch nicht zum Bewußtsein des Geistes erwacht und hat die Frage des Warum? nicht aufzuwerfen gewagt. Aber ich weiß es, daß eine stete Sehnsucht ihr Herz geschwellt hat und noch jetzt eine tiefe Wehmuth der Entsagung über ihre Seele verbreitet. Und ich, der einzige Sprößling ihres Schosses, der Erbe ihrer Seele und ihrer Sehnsucht, soll ich ebenso dahinkümmern wie sie, ein ewiges Welken ohne Blühen? ›Mein Leben und deines sind ja eins. Ist es nicht meine heilige Pflicht, deine Ahnung von Liebe und Hoheit zur Wirklichkeit werden zu lassen?‹ So mahnt mich der wehmüthige Blick meiner Mutter, daß ich, Alles vergessend, zu dem Wagniß hinausstürmen und den zündenden Funken des Bewußtseins in die Welt werfen möchte, wenn auch der auflodernde Krater mich selbst verschlingen sollte; aber – ›wir werden Nichts zu essen haben‹, mahnt mich dann wieder ihr sorglicher Blick. Brot, Brot! Um meiner Mutter willen falle ich in den Staub vor der Gemeinheit nieder und widerrufe mein Leben: es war ja Alles nur Thorheit und Eitelkeit, ich bin ja Nichts als ihr, nur gebt mir Brot, Brot!

Um deiner Mutter willen? Du willst ein freier Geist sein und hast dich vom Schoose der Mutter noch nicht emancipirt? Kannst du nicht Vater und Mutter verlassen, um dem Rufe des Geistes zu folgen? Was geht es dich, den freien Geist, was geht es die Welt an, ob deine Mutter ihr gedankenloses Dasein in Glück oder Schmerz verträumt? – So raunen meine consequenten Gedanken mir zu. Sie haben Recht, und doch – nein, nein! ich kann es nicht denken! o, ich kann jetzt gar nicht mehr denken, nur noch sein, – sein, nicht wie ich will und soll, sondern wie ich muß, ein Mensch, der kein Mensch, ein Geist, der kein Geist ist, ein guter Sohn, ein treuer Diener des Staats und der Kirche, ein sogenannter Mann, auf dessen Grabstein stehen wird: er ward geboren, nahm ein Weib und starb.

Er nahm ein Weib! Ja, wie wir die Lücke zwischen dem Geborenwerden und dem Sterben ausfüllen, darauf kommt es an; aber das eine ›nahm ein Weib‹ füllt sie ganz aus und läßt nichts Andres zu. Ich habe diesen Passus für meinen Grabstein und mein Philisterium vollendet. Ich habe ein Weib genommen. Meine Eltern haben eine Nichte seit fünf Jahren im Hause erzogen; es ist ihr, d. h. meiner Eltern und des Mädchens Wunsch, daß ich sie heirathe. Als guter Sohn werde ich diesen Wunsch erfüllen. Sie ist ein ganz allerliebstes Kind, so gut und klug, als sie ein Philister braucht, und mehr bin ich ja doch nicht; ja, sie gefällt mir und macht mir selbst das Herz manchmal warm, aber lieben –? Was ist die Liebe? Ein Wahn, dessen Trug ich erkenne, aber nicht zerreißen will, weil er süßer ist als die Wirklichkeit. Es ist wahr, es liegt ein mystischer Zauber in der weiblichen Schönheit. Aber – Nichts da von Mystik! Es ist nur der lügnerische Reiz der Natur, der uns entzückende Gestalten vorgaukelt, aus denen ein hoher, ewiger Geist zu sprechen scheint. Wenn wir aber den idealischen Geist zu erfassen gedenken, dann ist mit einem mal der Zauber verschwunden: keine Spur von bewußtem Geiste, nichts als leerer Schein, eine hohle Larve, von deren Innerem uns das Nichts höhnisch angrinst. Ich habe einmal in meinem Leben von diesem räthselhaften Reize mich bezaubern lassen; welche große Seele, welchen erhabenen Geist glaubte ich damals in meiner ersten Jugendschwärmerei hinter den seelenvollen Augen und den idealischen Zügen der schönen Friederike zu finden! Jetzt habe ich sie auf ihrem Polterabend wieder gesehen und, ich sage Dir, ich hätte vor Entrüstung hineinschlagen können in diese lügnerische Larve; denn was kann das für eine große Seele sein, die sie so getrost an einen tölpelhaften Mistjunker verschenkt? was für ein erhabener Geist, der seine Bestimmung darin findet, zeitlebens Mägde und Knechte auszuzanken?

Ich fühle wohl das Bedürfniß der Liebe in meinem Herzen, der wahren, freien Liebe; ich trage in meinen Gedanken das Ideal eines Weibes, das ich lieben könnte, – ein großes, freies Weib, das mit mir ein Leben sich erränge aus der Idee heraus für die Idee, bei der ich wüßte, warum ich mein Leben mit ihr theile. Aber Aennchen –? Warum liebe ich dieses Aennchen? Sie ist ohne Bildung, ohne Größe, ohne geistiges Streben. Nur mein Herz, meine Sinne könnten sie lieben, mein Geist weiß Nichts davon. Nein, keine Liebe mehr. Meine Vernunft wenigstens will ich für mich behalten. Heirathen will ich das Mädchen, lieben kann ich sie nicht. Es ist das nicht Gefühllosigkeit, nur Vernünftigkeit. – –

Und was hilft mir alle meine Vernünftigkeit? Was wird daraus werden? Alter Freund, das Herz ist mir so schwer, wie Einem, der an das Gewissen glaubt und eine sogenannte Sünde begangen hat. – – Ich bin entsetzlich unglücklich. – Ich könnte – –«

»Fertig?« frug Aennchen ihren Vetter, der neben ihr in der Laube saß und plötzlich in den raschen Zügen inne hielt, mit denen er den Brief an seinen Freund niederschrieb. Er antwortete nicht, sondern warf die Feder fort und sah sie nachdenklich an. Aufathmend, als wäre sie selbst von dem Schreiben des langen Briefes ermattet, ließ sie ihre Hände mit der Näharbeit in den Schoos fallen, lehnte sich rückwärts an das Spalier der Laube und senkte das Köpfchen zurück zwischen die Ranken des wilden Weines. Erfreut, nun endlich seine Gesellschaft genießen zu können, lächelte sie mit so recht selbstzufriedener Sicherheit schelmisch aus den grünen Blättern zu ihrem Bräutigam hinüber: »Ach, Gott! solch ein langer Brief, wie ein ganzes Buch! Möcht ich doch wissen, was in der Welt man Einem so viel schreiben kann. Ich könnt nicht fertig werden, das zu lesen! Und erst, wenn ich wüßte, was für ein Gesicht du beim Schreiben gemacht hast –! brrrr!« scherzte sie muthwillig, ohne sich in ihrer behaglichen Lage zu rühren.

Die übermüthige Sicherheit, mit der das allerliebste Kind so spöttelte, foderte Ernst heraus, sich zu rächen und diese geschmeidige, wie von Mattigkeit zurückgesunkene Taille seine Macht fühlen zu lassen. »Wart, das sollst du büßen«, sagte er, und damit umfaßte und küßte er sie.

Sie suchte sich mit der Nadel zu wehren, aber es half doch Nichts, denn sie wagte nicht zu stechen. »Schäm dich was«, schalt sie ihn scherzhaft, »den Sonnabend so gottlos zu sein! Du bist gar kein rechter geistlicher Herr. Anstatt heute die Predigt zu memoriren, schreibt er Briefe und macht Faxen!«

Das mußte sie unter neuen Küssen büßen, und damit ließ er den Scherz, aber nicht ihr Köpfchen, sondern drückte sie inbrünstig an seine Brust und schaute ihr ernst und tief in die Augen. Ihre Blicke wurden weich; die Seele trat ihr in die Augen; auch sie mußte Neckerei und Widerstand aufgeben und schmiegte sich zärtlich an ihn, wie beängstigt von seinem bis in den Grund der Seele durchbohrenden Blicke. Es überkam ihn ein Gedanke wilden Glückes. Er war umstrickt von dem unbeschreiblichen Zauber, der in dem Gefühle liegt, die zarte Schwäche des Weibes, die keiner Vertheidigung fähig ist, als des Flehens, dem Stolze und der Grausamkeit der männlichen Uebermacht unterworfen zu haben, aber nur um mit der ganzen Fülle der Liebe sie zu überhäufen. Er wußte nicht, warum, aber er mußte sich doch gestehen: es liegt ein unwiderstehlicher, unendlich süßer Reiz in der kindischen Tändelei der Liebe. Heftig küßte er die süße Braut. Plötzlich entließ er sie aus seinen Armen, fuhr sich mit der Hand vor die Stirn, ergriff die Feder, und folgenden Schluß setzte er unter den abgebrochenen Brief:

»– Nein! Nein! Ich lüge! Es ist nicht wahr. Ich bin nicht unglücklich; ich muß und will es nicht sein. Ich Thor, der ich die Liebe verhöhne! Es gibt ein Glück der Beschränkung; muß ich mich einmal beschränken, so will ich doch dieses Glück genießen. Ja, ich liebe meine Braut. Wie ich hätte leben mögen, so wäre ich vielleicht – vielleicht! – groß geworden, so wie ich jetzt lebe, will ich glücklich sein!

Dein
Ernst Wagner.«

*


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