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Zweites Capitel.

Es hatten seit dem Jahre sechsundvierzig die beiden Gegensätze, die mit dem Regierungsantritte des neuen Königs in Preußen in offene Fehde getreten waren, sich in vollster Schärfe ausgebildet und ihre schroffsten Spitzen einander entgegengekehrt.

Die Reaction, die von der Spitze der Regierung ausging, war schulmäßiger Idealismus, ebenso wie der studentenhafte Radicalismus des jungen Theologen, der seine Gesinnungstüchtigkeit als Hochverräther auf der Festung büßen mußte. Das Streben, die Zustände der Wirklichkeit auf ewige Principien zu begründen, das nach abstracten Schemen mit den gegebenen Verhältnissen experimentiren wollte, um sie zum Idealen zu gestalten, dieses selbe, modern titanenhafte Streben saß auf dem Throne. Hier wie dort waren es mehr oder weniger unbewußter Egoismus, ehrenwerther Ehrgeiz, Caprice der Unzufriedenheit, Hochmuth der Genialität, die mit allgemeinen Principien, mit den Inspirationen, hier eines persönlichen, dort eines unpersönlichen Götzen masquirt, auf den Phaetonswagen sich drängten, um der Welt das wahre Licht zu bringen, um die Rosse der Zeiten in die wahre Bahn zu lenken.

Hier wie dort war es Mangel an dem gediegenen Charakter, der in die beschränkende Unterordnung unter das Allgemeine sich fügt und mit Ausdauer in kleinen, sicheren Schritten ein Ziel verfolgt, an echtem, staatsmännischem Genie, was die beiden ringenden Sonnenlenker in falsche Gleise brachte. Die Demagogen wollten nichts als ziellose Revolution; die schwungvolle Romantik der reactionairen Staatsmänner kannte keinen Ausweg als im Macchiavellismus der Stabilität, in der Metternich'schen Intrigue.

Die beiden rangen um die Zügel der Apollorosse. In wetterndem Fluge vorwärts zur Höhe des Himmels stachelten die Einen an; die Andern wollten zurück in die nächtlichen Nebel, aber sie wußten wohl: die Rosse der Zeit wenden sich nie dem Osten zu, und mit vorwärts gerichtetem Gespann hofften sie rückwärts zu zügeln. Die Politik dieser Lenker, ohne aufzugeben, machte Concessionen, um zu beschränken, – sie ließ die Zügel einen Augenblick frei, um im nächsten mit heftigem Rucke sie desto straffer zu fassen. Die Rosse widerstrebten – man manoeuvrirte sie hin und her; sie bäumten sich – der allzu sichere Lenker verlor Sicherheit und Ruhe, er wurde trotzig, dann schmeichlerisch, dann wieder zornig, – da drohete hier, drohete dort Kanonendonner, rings flackerten bunte Freiheitsfahnen, helle Freudenfeuer, und die Rosse, wild geworden, stürzten in unhemmbarem Schusse dahin, dem Lenker die Zügel entreißend, der, von seinem Throne taumelnd, froh war, am Rade des Wagens einen Halt zu finden.

Es war am achtzehnten März Nachmittags nach halb zwei Uhr, – der heiterste Frühlingssonnenschein lachte über der Stadt Berlin, – als König Friedrich Wilhelm IV. vor das in ungeduldigen Massen sich drängende Volk auf den Balcon seines Schlosses trat und die Concessionen verkündete, die er seinem Volke verlieh: Freiheit der Rede und der Presse, das Recht, Versammlungen zu halten, und die Volkswahlen.

»Nur jetzt keine Concessionen!« war gerade nach dem Ausbruche der Pariser Februarrevolution das Feldgeschrei der Hofpartei des altpreußischen Staatsmechanismus gewesen, und der König hatte ihm beigestimmt: »Nur jetzt keine Concessionen, damit man nicht dazu gezwungen erscheine!«

Die Regierungspresse ermahnte das Volk, mit seinen Wünschen geduldig zu harren, bis es sich entschieden habe, ob Krieg oder Friede mit dem Auslande die Losung sei.

Am 14. März veröffentlichte die Allgemeine Preußische Zeitung den Entschluß der Regierung, mit Oesterreich einen deutschen Fürstencongreß zu berufen »zur Berathung alles dessen, was unter den gegebenen Umständen das Wohl Deutschlands erheische.« Als aber die an diesem Tage bereits entschiedene Wiener Revolution in Berlin bekannt geworden war, äußerte dieselbe Allgemeine Preußische Zeitung, in feigem Aufgeben dieses Bundesgenossen, ihre Freude, daß » demnach nun auch Oesterreich in die Bahn der Reformbewegung getreten ist, der es so lange sich verschlossen hatte: Hoffen wir, daß dadurch sein Verhältniß zu Deutschland und vorzugsweise zu Preußen, welches diesen Weg längst betreten hat, und auf ihm consequent fortzuschreiten gedenkt, ein innigeres werde!«

Dabei erhielten die Deputationen Antworten, daß die »alte deutsche Ordnung« nicht zu stören, die auf den Besitz gegründete Standschaft nicht anzutasten sei; man erließ Drohungen gegen jeden Versuch, die »bestehende rechtliche Ordnung in Deutschland zu ändern«; verzögerte nicht nur die Anerkennung der freien Presse, sondern verschärfte auch die Censur; schloß den Königsberger Bürgerverein, weil er eine Adresse an den König berathen; verbot die Volksversammlungen bei Zuchthausstrafe und säbelte und ritt zu Breslau und Berlin das Volk nieder, obgleich man selbst im »Conversationstone« es anerkannt hatte, daß »die Stimmung des Volkes, wenn es rings siede, nicht auf dem Gefrierpunkte bleiben könne.«

So hatte die öffentliche Meinung in dem Verhalten der Regierung nichts gesehn als die stete Schlangenwindung, der beengenden Lage zu entgehen, als die Intrigue, um das königliche Wort zu halten, daß keine Macht der Erde ihn zwingen solle, ein Blatt Papier zwischen ihn und sein Volk zu schieben. Selbst in den letzten Concessionen, konnten da nicht in der sonderbaren Form von »Vorschlägen«, »Foderungen«, »Wünschen«, welche der König von Preußen an seine deutschen Bundesgenossen richtete, ein Rückhalt liegen, um doch noch das vor Gott und der Welt abgelegte Gelöbniß zu wahren: die Krone, ungeschmälert, wie sie ererbt war, dem Nachfolger zu überliefern?

Dieses Halten an einem Absoluten, dieses Entgegenstemmen gegen die ganze Wirklichkeit um einer Idee willen, das den demagogischen Schwärmer auf die Festung gebracht hatte, erschütterte jetzt einen seit Jahrhunderten fest begründeten Thron.

Konnte das Volk vor dem Schlosse nicht den Concessionen trauen, die von derselben Bühne verkündet wurden, wo dieselbe Stimme durch jene trotzigen Schwüre zu Gott die ganze öffentliche Meinung des Volks gehöhnt hatte? Einen Treubruch mußte man fürchten: sollte man eher glauben an den Treubruch gegen den angebeteten Gott oder an den gegen das verachtete Volk?

Mit dem Pochen auf eine prophetische Bestimmung, auf die Inspirationen des Absoluten ist keine Vereinbarung, keine staatsmännische Unterhandlung möglich. So lange jene Bajonette des Kaiseralexanderregimentes den Thron in die unnahbare Entfernung eines transcendenten Himmels erhoben, war für das Volk keine Versöhnung, kein Vertrauen möglich.

»Militair hinweg! Militair hinweg!« Dieses Unterpfand der Treue foderte in unverständlichem Brausen neben dem jauchzenden Jubel der tausendstimmige Ruf des Volkes vom Könige, die Verkündigung seiner Concessionen unterbrechend.

Ihn, der sonst durch sein beredtes Wort auf diesem Platze die athemlose Stille der Tausende hervorgezaubert hatte, der gewohnt war, durch sein befehlendes Wort den Gehorsam von Millionen zu erlangen, ihn ließ man heute nicht zu Worte kommen!

Er trat zurück vom Balcone in den Saal des Schlosses, der mit Offizieren, Ministern, Prinzen erfüllt war.

In seinem finstern Blicke erheiterten sich die Mienen anderer, im Hintergrunde um eine hohe Frau versammelter Männer, – der Männer jener im Augenblicke verdrängten Partei, die auch jetzt noch nichts von Concessionen wissen wollte.

Der Minister Graf Arnim trat an den König, um ihm den unverstandenen Ruf der Massen zu erklären. Die Antwort lautete mit Heftigkeit: Ein unehrenhafter Rückzug könne doch nicht im Ernst gefodert werden?

Jene Männer aus dem Hintergrunde traten näher. Ihre lauernden Blicke hingen an den Mienen des Monarchen; sie freuten sich sichtlich seiner unentschiedenen Haltung.

Das wüste Geschrei draußen wuchs zu unbändigem Toben. Des Königs unstäter Blick fiel auf die rechthaberischen Mienen jener Männer. Er hatte Alles gewährt, mehr vielleicht, als er jetzt, wo es geschehen war, vor sich verantworten zu können meinte. Er war verletzt durch das Gebahren der Masse, die sein Erscheinen, sein Gnadengeschenk nicht mehr zu achten schien; beunruhigt durch die Besorgniß vor ausländischen Emissären und geheimen Conspirationen, die im Schlosse so oft ausgesprochen war; er war endlich angestachelt durch die Blicke jener Männer, denen er nun doch Recht geben sollte. Er wollte den Augenblick wahrnehmen, um diesen, um der Welt zu zeigen, daß seine Concessionen keine erzwungenen seien, daß er freier Herr seiner selbst war: »Ich will Ruhe haben in meinem Hause!«

Auf diese Worte drängten sich jene lauernden Männer an den König. Es entstand eine Bewegung im Saale. Adjutanten eilten durch die Menge. Nach wenigen Augenblicken verwandelte sich draußen der brausende Lärm in Angstgekreisch und Wuthgeheul. Es fielen zwei Schüsse. Wenige Minuten darauf herrschte nach dem fürchterlichsten Getöse plötzlich, wie durch das Werk eines Zauberers, lähmende, schauervolle Stille.

Auf dem Platze vor dem Schlosse waren von der Stechbahn aus die Dragoner, von den Portalen die Garden gegen die versammelte Menge ausgerückt. Hierbei fielen die verhängnißvollen Schüsse des Misverständnisses. Das Volk stieb auseinander, um hinter den Barricaden sich zu sammeln.

Der Commandeur von Berlin, der greise General von Pfuel, von jener intriguirenden Partei die »halbe Maßregel« genannt, weil er den bestimmten Beschluß ausgesprochen: nicht auf das Volk schießen zu lassen, als bis es selbst und mit anderen Waffen als einzelnen Steinwürfen den Kampf beginne, hatte sich am Vormittage aus dem Schlosse nach Hause begeben, um nach mehreren Nachtwachen wenige Stunden der Ruhe zu genießen. Als er jetzt, vom Racheruf des Volkes erweckt, zum Schlosse eilte, kam ihm in dem Saale, den der König so eben verlassen, um sich in sein Cabinet zurückzuziehen, ein Adjutant mit der Meldung entgegen, daß er nicht mehr Commandant von Berlin sei.

»Wo ist die Ordre?« fragte der Erstaunte,

»Hier!« entgegnete im wegwerfenden Tone ein Minister, einer der eifrigsten Anhänger des Prinzen von Preußen, und zeigte ein Blatt, das mit noch frisch glänzendem königlichem Namenszuge so eben aus dem Cabinet kam: »General von Prittwitz ist Ihr Nachfolger.«

Zerschmettert stand der Greis da, all das Unglück ahnend, das nun folgen sollte. An ihm vorüber eilten die Adjutanten mit der Ordre des Kampfes. Nach einer Viertelstunde knatterte von der Kurfürstenbrücke und dann aus der »breiten Straße« her das Pelotonfeuer des angreifenden Militairs.

Die Männer, die im Hintergrunde finster drein schauten, als der König auf dem Balcon stand, triumphirten jetzt sichtlich, und sichtlicher mit jedem dröhnenden Feuer. Der Prinz und die Prinzessin von Preußen nebst dem Minister von Arnim befinden sich mit dem Könige allein im Cabinet.

An mehr und mehr Orten entbrannte rings der Kampf. In das Knattern des Gewehrfeuers mischte sich der dröhnende Kanonendonner. Ordonnanzen erschienen im Schlosse; Generale verlangten den König zu sprechen; Deputationen sammelten sich auf Treppe und Vorhof. Die Thür des königlichen Cabinets wurde nicht geöffnet.

Endlich ist der Zudrang nicht mehr zurückzuhalten. Würdige Männer der Stadt Berlin werden vom Prinzen von Preußen empfangen. Mit angstvollen Mienen wagen sie einen letzten Vermittlungsversuch. Die Antwort ist: »Das Militair wird keinen Zoll breit weichen!«

Der Saal wurde wieder leer. Der Prinz ging in das Cabinet zum Könige zurück. Man hörte heftige Worte. Endlich trat der König daraus hervor. Die hohe Frau folgte ihm. Er schritt in heftiger Bewegung durch den Saal auf und ab. Jene hielt ihn fest im Auge. Er vernahm draußen das von neuem vermehrte Geräusch Einlaßbegehrender. Er ließ die Thüre öffnen. Ein Strom von Menschen verschiedenen Alters und Standes, die zum Theil heut zum ersten male das Schloß betraten, drang ein. Knaben aus dem Volke warfen sich dem Herrscher zu Füßen; Frauen umklammerten seine Knie; Männer, als gute Patrioten bekannt, streckten die Hände ihm entgegen; es war ein einziges, herzzerreißendes Flehen: Schonung, Schonung des Bürgerblutes, das mit jedem der Schüsse, die man unzählig fallen hörte, vergossen werden mochte!

»Sire! schonen Sie das Blut Ihrer Unterthanen«, so tönte endlich eine bebende Stimme durch den allgemeinen Wirrwarr, – es waren die Worte des greisen Bischofs von Berlin, denen der König sich zuwandte. »Sire!« so sprach der Geistliche, »es ist keine Pöbelemeute. Ich selbst komme vom Schauplatz; gute Patrioten, edle Männer sah ich unter den Kämpfenden, – sie sind im Irrthum, sie sind verblendet. Aber schonen Sie ihrer! Suchen Sie auf gütlichem Wege diesen unglückseligen Zwiespalt auszugleichen!«

»Mein Gewissen spricht mich frei! Ich will Gehorsam. Ich bin König!« Das war die Antwort, aber sie war mit zitternder Stimme gegeben und das Auge des Sprechenden blickte zerstreut und unentschieden um sich. Es begegnete der hohen Frau mit dem beobachtenden Blicke und fuhr von ihr zurück. Es traf auf einen alten, befreundeten Gelehrten, der in der Fensternische schon lange harrte, ohne eine Anrede zu wagen. Die Beiden standen jetzt zusammen. Eine geschlossene Colonne höherer Officiere umstellte den Platz, wo sie sich befanden, um den Zudrang der Menge zu hindern. Die hohe Frau biß sich auf die schmale, feingezeichnete Lippe, als sie diese Unterredung bemerkte. Sie sprach mit den Deputationen, mit einigen Frauen, die sich an sie wandten, aber immer richtete sich ihr Auge auf das, was im Kreise jener Officiere geschah. Als der Gelehrte lebhafter und immer lebhafter sprach, verlor sie die Aufmerksamkeit auf die Personen, die mit ihr redeten und vermochte ihre Aengstlichkeit kaum zu verbergen.

Da sprang aus einer Deputation, die eben eingetreten war, ein kecker Sprecher hervor; in bestäubter Reisekleidung, mit hastiger, vor Leidenschaft stotternder Stimme rief er aus: »Sire! Die Bürger werden sich bis auf den letzten Blutstropfen vertheidigen. Sie werden es nicht sein, die da weichen; beim Himmel, sie nicht! sie werden siegen. Sire, bedenken Sie, was dann Ihr Loos, was das Loos der Stadt sein wird!«

Es war der westphälische Freiherr, der berühmte Oppositionsmann des Vereinigten Landtages, der, aus seiner Provinz angelangt, unter dem Eindruck der eben erlebten Ereignisse so sprach. Der König fuhr auf über den Ton des Mannes, der es einst gewagt hatte, auf der ständischen Tribüne Worte der königlichen Thronrede in ironischer Wendung gegen die Krone selbst zu richten. Hohe Stabsofficiere, durch diese Bewegung ermuthigt, lachten laut auf. Der Freiherr verwies ihnen dies schnöde Betragen in so ernstem Momente mit ritterlichem Nachdruck. Der König suchte den Wortwechsel zu beschwichtigen durch eine im Conversationstone an den leidenschaftlichen Freiherrn gerichtete Einladung zum Souper. Aber – o tempora, o mores! selbst die Ehrfurcht vor einem königlichen Einladungsbefehl war in diesen Zeiten gebrochen. Kurz angebunden, schlug der Freiherr es aus und verließ das Schloß.

Von diesem Augenblicke war die hohe Frau mit dem beobachtenden Blicke wieder zufriedener mit der Haltung des Königs. Die Deputationen wurden entlassen. Man soupirte, man soupirte mit Gästen. Nach dem Souper betete man, und nachdem man soupirt und gebetet hatte, war man ruhiger, behaglicher, entschlossener gestimmt. Man war wieder geistreich, machte Bonmots, man wollte den Staat nicht »als Einspänner mit halben Maßregeln« fahren, man wollte durch das »unvergleichliche Kriegsheer« und das Vertrauen auf seinen Gott die Monarchie in Preußen die Probe bestehen lassen, bei der sie in Oesterreich mit ihrer gottlosen Diplomatie zu Falle gekommen.

Es war nach sechs Uhr Abends eine Abspannung im Kampfe eingetreten und die Scene während des Soupers friedlicher erschienen. Jetzt kamen mehrere frische Bataillone Infanterie von Halle an. Die Schlacht begann von neuem und heftiger und erhielt mit der hereinbrechenden Nacht ihr schrecklichstes Gewand. Dicht in der Nähe des Schlosses dröhnte der Donner des schweren Geschützes; rings von allen Seiten zog neues Wetter sich zusammen. Wie Regentropfen prasselte das Musketenfeuer; Schlag auf Schlag donnerte die Kanonade dazwischen. Der ganze Himmel stand in hellen Flammen. Die Nacht war zum Tage geworden. Es gab keinen dunkeln, keinen stillen Platz mehr, wo man dem Gedanken entfliehen konnte, daß jede dieser Minuten Hunderten von Brüdern auf dieser und auf jener Seite den Tod bürgen könne.

Der Mann, für den und gegen den jeder dieser Schüsse fiel, war mehr als ein gekrönter Corporal, er war ein Mensch, er hatte ein Herz, das Leidenschaft und Leiden kannte. Als er erkennen mußte, daß dieser Kampf keine Revolte war, sondern eine Revolution, fing er an unsicher zu werden, ob er dem Gotte, dem er und sein Haus dienen wollten, so gefällig diene. Auch dieser Mann mußte verzweifeln an dem absoluten Halt, von dem aus er aller Wirklichkeit sich entgegenstemmen wollte. Er rief unter Thränen jetzt aus: »Ich bin der unglückseligste Mensch auf Erden!«

Eine todtblasse Frau, auf ihre Dienerinnen gestützt, schleppte sich zu ihm heran. Ohnmächtig sank sie zu seinen Füßen nieder. Es schien, als könne sie das Ende dieser Nacht nicht mehr erleben. Der Mann, den keine Macht der Erden von seinem von Gott übertragenen Amte drängen sollte, brach zusammen bei dem Anblick seines leidenden Weibes. Sein Gott hatte ihn im Stiche gelassen. Er fand keinen Halt, weder in sich noch in der Welt. In einem entsetzlichen Schrei preßte sein Schmerz sich zusammen. »Ich will, ich will dieses entsetzliche Schießen nicht mehr hören. Man soll aufhören!«

Die Leute, die ihn bisher zum Kampf gestachelt, wagten nicht zu widersprechen. Die hohe Frau mit dem diplomatischen Blicke erblaßte, aber sie sprach nicht. Da trat der neu ernannte commandirende General hinzu: »Sire, bedenken Sie, soll alles Blut, das geflossen ist, vergeblich geflossen sein? Der größte Theil der Stadt ist der unsere; nur noch eine Stunde schenken Sie mir, und wir sind Sieger auf dem Platze. Und wenn wir die Truppen jetzt zurückziehen, Sire, bedenken Sie die Folgen! Wem wollen Sie sich noch anvertrauen? Der Pöbel ist wüthend durch den Kampf, wollen Sie das treue Heer verletzen, indem Sie ihm den Sieg rauben –?«

»Ich will Ruhe haben!« Das waren die Worte, welche die Revolution herausgefordert hatten; dieselben Worte gaben ihr den Sieg.

Das Militair stellte den Kampf ein.

Am andern Morgen um elf Uhr waren die Stadt, das Schloß von den Soldaten geräumt; die Horden der Kämpfer zogen mit wildem Triumphgeschrei durch die Portale in die inneren Höfe ein. Die Thüren, die hier zu den Kellern hinabführen, wurden erbrochen und eine Schaar vieler hundert Gefangener, die während des Kampfes von den Soldaten hierher transportirt waren, strömte daraus hervor, um den Tag der Freiheit zu begrüßen: eben noch als Hochverräther ihres Lebens verlustig, wurden sie nun von den Mitkämpfern als die Retter des Vaterlandes begrüßt.

Auch ein Mann war unter ihnen, schön in seinem verstörten Ansehen, der sich auch dadurch von den Andern unterschied, daß er nicht in den lauten Jubel einstimmte. Geblendet blickte er in den heitern Sonnenschein, – er schien ihm heute zum ersten male mit Recht über diese Stadt zu leuchten: »So habe ich doch Recht gehabt!« murmelte der unversehrte Ernst Wagner vor sich hin.

Da vernahm man ein feierlich dumpfes Getöse. Eine schauervolle Parade bewegte sich in den Schloßhof. Ein gemeinsamer Instinct hatte ohne jede Verabredung auf den verschiedensten Theilen der Stadt die Herzen der Menschen zu derselben That geleitet. Von allen Seiten trugen Männer aus dem Volke, bleich, verstört, in zerrissener Kleidung, von Blut befleckt, zum Theil mit verbundenen Gliedern, die Waffen noch in der Hand, auf Bretern, Thürflügeln und andern improvisirten Bahren die Leichen der gefallenen Brüder auf den Platz des Sieges. Die klaffenden Wunden waren offen gelegt, die halbnackten Leichen mit Blumen bestreut, die verwilderten Häupter mit Lorbeer und Immortellen bekränzt.

»Der König heraus! Der König heraus!« So ertönte die unerhörte Parole dieser Parade. Bleich, ernst, niedergeschlagen, am Arme die weinende Königin, erschien der Schwergebeugte auf der offenen Galerie über den Todten. Verwirrt blickte sein kurzsichtiges Auge hinab auf die bleichen, stummen Lippen dieser Männer, die ihm sagten: »Siehe, das hast du gethan!«

Aber es sollte keine Scene der Rache, es sollte eine Scene der Versöhnung werden. »Jesus meine Zuversicht«, so erklang eine tiefe Stimme aus der Menge und brausend klang von vielen hundert Stimmen das Todestrostlied zum Himmel hinan, ein Ausdruck des Bundes zwischen König und Volk: das Vertrauen auf Gott lehrt uns die Menschen lieben!

Wie mochte der Herrscher oben auf dem Ballon diese Zuversicht verstehen? War es der alte Gott, der »Gott seiner Väter«, an den aufs neue dies Vertrauen ihn knüpfte, daß er auch dieser Macht der Erden widerstehen konnte?

Der Mann, der unter ihm einsam an einem Pfeiler lehnte, derselbe Mann, der ihn einst zum Kampfe gefodert: Wort gegen Waffen, Geist gegen Commando! – dieser Mann, der heute sagen konnte: ich habe doch Recht gehabt, betete zu seinem alten Gotte; den Glauben an die Idee hatte er wiedergewonnen. Das tausendjährige Reich des Geistes war angebrochen; jetzt galt es, ganz seinem Cultus, ganz der Menschheit angehören!

*

»Wo haben Sie ihn gehenkt? Wo stehen die Guillotinen?« So frug Krist mit rollenden Augen und matter Stimme, als Ernst ihn an seinem Bette im Hospital besuchte.

Delphine hatte in jenem Augenblicke, wo sie durch den fern und fest geglaubten Freund derangirt wurde, das Miteintreten des Schneiders nicht gemerkt, und deshalb das zurückgebliebene Blut für Ernst's Blut angesehen, während Krist es vergossen hatte, um Ernst zu retten. Ernst, durch den Anblick der verlorenen Geliebten außer Fassung gebracht, vergaß seine Pistole zu verbergen, als die Verfolger in das Zimmer dringen. Der erste der Soldaten legt in der Angst seines Herzens an auf den Bewaffneten. Krist springt vor mit dem Rufe »Pardon« und fängt den Schuß mit dem linken Unterarme auf, der zerschmettert wird und amputirt werden mußte.

Dieses Misverständniß bereitete Delphinen fürchterliche Stunden. Sie liebte sonst heftige Affecte, sie schaukelte sich gern in tragischen Emotions; aber dieser Schlag ging denn doch über alle Komödie hinaus. Schreck, Reue, abergläubische Angst ergriffen sie und zerrten ihre Seele fürchterlich hin und her. In jener Nacht, in der mit der dröhnenden Kanonade, mit den Gluten der Feuersbrünste alle Schrecken der Hölle über das Sodom der modernen Welt heraufbeschworen schien, wurde Delphine von der Macht des Gewissens erfaßt. Ueberall erblickte sie Gespenster; bald drohte ihr die selige Mutter; bald winkte Horn mit zerschmettertem Schädel, um Liebe flehend; bald stürzte einer Furie gleich Ernst's frisch blutende Gestalt auf sie los. Sie aber hatte ihre alte, entschlossene Rücksichtslosigkeit bewahrt; sie wollte nichts von ihren guten, todten Freunden wissen; sie wollte nur dem Leben, nur dem lebenden Geliebten angehören. Heute fühlte sie die ganze Macht ihrer verlangenden Leidenschaft; noch nie hatte sie sich so nach Cesar's starken Armen, seiner schützenden Brust gesehnt: sie erkannte jetzt zum ersten male, was Alles dem schwachen Weibe der liebende Mann ist, – jetzt, wo jeder dieser ewig dauernden Augenblicke ihm den Tod bringen konnte.

Sie erlebte die schrecklichsten und doch die wonnevollsten Stunden ihres Lebens: die Angst und die Schmerzen wahrer hingebender Liebe. Endlich am Morgen Ruhe – Friede – Sieg! Nun mußte er kommen. Aber er kam nicht. Am dritten Tage, nachdem Mieroslawski, Liebelt und die übrigen Polen aus dem Gefängnisse befreit sind, kommt statt seiner ein verwilderter Barricadenkämpfer. Er bringt einen Brief:

»Madame! Die Zeit erlaubt mir nicht, Adieu zu sagen. Mich ruft das Vaterland. Während Sie diese Zeilen lesen, bin ich auf der Tour nach Polen. Die mit Ihnen verlebten Stunden werden mir unvergeßlich bleiben. Mit dem Wunsche, durch seine Entfernung Sie in Ihrem Glücke nicht zu stören, scheidet Ihr

Cesar Graf ******«

Dem Piastensprößling, Grafen Cesar, waren seit dem misglückten Krakauer Unternehmen von der Propaganda keine ferneren Gelder anvertraut worden; er hatte den eigenthümlichen Nahrungszweig als Gemahl oder Quasigemahl einer Sängerin eingeschlagen, indem er, um unerkannt zu sein, die Maske eines italienischen Concertsängers dabei einnahm. Jetzt eröffnete die Revoltirung Polens ihm eine reichere Geldquelle als die Kehle der Geliebten und er trug kein Bedenken, sich von dieser zu trennen, um von dem aimé soutenu vielleicht zum polnischen Feldmarschall zu avanciren.

Getäuscht hatte Delphine schon oft; aber getäuscht zu werden, das war ihr noch nicht passirt. Mit ihren Elfenbeinzähnen zwischen den sanften, feinen Lippen vernichtete sie wüthend das Billet. Nach einer Stunde war sie zur Abreise fertig.

Dem Droschkenkutscher, der sie frug, wohin sie zu fahren befehle, antwortete sie die berühmte Redensart: »Fort, fort! In die weite Welt!« Als dieser jedoch bedeutete: »Das is man schlimm, davor haben wir keene Taxe nich«, – ließ sie vor das Theatergeschäftsbureau, Kronenstraße Nr. 48, vorfahren, erkundigte sich nach einem Engagement und fuhr mit dem nächsten Zuge der Eisenbahn davon, um die betrogenen Todten und den lebenden Betrüger zu vergessen.

*

In der riesigen Leichenfeier der gefallenen Freiheitshelden hatte die Berliner Revolution ihren sittlichen Höhepunkt erreicht. Wenn nichts Anderes, so bewies es dieser schauervoll friedliche Zug nach dem Friedrichshaine, daß nicht eine verbrecherische Rotte, daß ein Volk, um die unerträglichen Fesseln abzuschütteln, eine Revolution gemacht hatte.

In der mit der ganzen Welt ausgesöhnten Stimmung, die er von diesem Friedhofe mitnahm, hatte Ernst Delphinens Wohnung wieder aufgesucht, um in den Tagen des allgemeinen Weltfriedens sich auch mit ihr und ihrem Freunde auszusöhnen. Aber er hatte sie nicht mehr angetroffen.

Zu Krist ging er nicht gern; denn dessen stete Wuthausbrüche, die er sich nur als Phantasien des Wundfiebers erklären konnte, verletzten ihn. Er hatte keinen Freund in der großen Stadt, den er aufsuchen konnte. Er ging in das Zeitungslesecabinet, in dem die literarischen und jetzt politischen Capacitäten sich zu treffen pflegten.

Als er in das Sprech- und Rauchzimmer rechter Hand trat, traf er unter den dort Versammelten einen lauten Wortwechsel an.

»Wissen Sie, was Sie gethan haben, Doctor?« so rief eine ihm bekannte Stimme. »Sind Sie wahnsinnig? Jetzt den Pöbel aufhetzen, jetzt, wo es nur noch einen Punkt des Rechtes gibt, wo Staat, Eigenthum, Civilisation auf dem Spiele stehen!«

»Pardon, ich weiß sehr gut, was ich gethan!« So antwortete mit näselndem Tone ein schmächtiger Mann, mit auffallend jüdischer Physiognomie, den Ernst schon früher bei Hippel gesehn zu haben sich erinnerte. »Es gibt nur ein Ziel und nur einen Weg: Alles für das Volk, Alles durch das Volk. So lange jener eine Punkt des Rechtes noch besteht, an den ihr Bourgeois euch anklammert, so lange ist keine Freiheit möglich. Das ist mein ceterum censeo!«

Die beiden Streitenden waren Hermann und der Besitzer des Lesecabinets. Die Veranlassung, über die sie in Streit gerathen, war der Leitartikel, den der letztere am heutigen Tage in der von ihm redigirten Zeitung veröffentlicht hatte. Das Blatt war durch Unterstützung der Regierung gegründet und diente bisher den reactionären Tendenzen. Der Redacteur, ein Freund des seligen Horn, der bisher im Absolutismus gemacht hatte, eröffnete jetzt, nach dem neuesten Börsenumschwunge, sein Geschäft unter der alten Firma mit einem neuen Artikel und wollte von nun ab in Revolution und Socialismus machen. Er hatte die rothe Fahne aufgesteckt und rief das Proletariat herbei, für die Vollendung der Revolution darum sich zu schaaren gegen die einlenkende Halbheit der liberalen Bourgeoisie.

»Wenn Sie diese Masse, die vom Anblick des Blutes schon wild geworden ist, gegen uns hetzen, was können wir anders thun, als uns dem Königthum anschließen?« So rief Commerzienrath Hermann, der mit einer Deputation nach Berlin gekommen war.

»Nein, im Gegentheil: wenn ihr dem Feinde, der eine Schlacht, aber noch nicht seine Macht verloren hat, jetzt von allen Seiten zu Hilfe eilt, was können wir da thun, als uns auf den gesunden Sinn des Volkes berufen?« So erwiderte der jüdische Redacteur.

»Nur mit der Krone!« hieß es dort. »Nur mit dem Volke!« hieß es hier. Aber während man noch mit dem hereinbrechenden Abende disputirte, begann auf der Straße ein Tumult sich zu erheben. Eine Abtheilung der neu errichteten Bürgerwehr umzingelte das Haus. Stattliche Männer mit kostbaren Büchsen bewaffnet, drangen herauf. Sie wollten den Redacteur zwingen, seine Pressen zu schließen.

Da wuchs der Tumult auf der Straße. Ein anderer Trupp, in Lumpen gekleidet, mit Knitteln versehen, gerieth mit den aufgestellten Bürgern in Händel. Es gab einen heftigen Krawall. »Das Volk« befreite den Redacteur.

Damit war die Knospe der Revolution auseinander gebrochen. Es war keine Blüte, die sich daraus enthüllte, – die klaffende Wunde, welche die Nation in rechts und links zerspaltete. Die langersehnte Freiheit war das Scheidungsmittel, wodurch das Volk in seine Urelemente feindlich gesondert wurde. Zerstörung oder Erhaltung, Radicalismus oder Reaction, danach trennte sich die ganze Nation. Es gab kein Drittes, keine Mitte: entweder – oder!

Auf der einen Seite dominirten ruinirte Genies, auf der andern bürgerliche Parvenus. Hier mangelte die Energie, dort die Besonnenheit; hier gab es Charakter ohne Genialität, dort Genialität ohne Charakter. Es fehlte das selbstständig schaffende, staatsmännische Genie, das, ohne Aberglauben nach irgend einer Seite, ohne Pedanterie bei den Begriffen des Rechts, ohne Idealismus bei denen der Freiheit, auf die vorhandenen Verhältnisse einging, um sie zu beherrschen; das das Ansehn der Krone gegen die Extravaganzen des Pöbels und die Macht der Volksmassen gegen die Intriguen der Camarilla zu brauchen verstand, um zwischen Scylla und Charybdis hindurch das lecke Staatsschiff zum sichern Hafen der Freiheit zu lenken.

Der Geschichtsschreiber jener Zeit wird sagen müssen, daß es überhaupt keine kräftig gesunden, für das freie Staatsleben reifen Elemente der Nation oder doch keinen Staatsmann gab, der sie zu sammeln verstand.

Ernst Wagner konnte sich lange nicht zu der Einseitigkeit entschließen, Constitutioneller oder Demokrat zu werden. Dieses Volk von Gassenbuben und Verbrechergestalten, das die Läden der Hoffabrikanten stürmte, Autodafé's errichtete, im Lindenclub blutige Phrasen und schlechte Witze machte und beklatschte, das in diesem Augenblicke voll Wuth den Staatsmännern der Gegenpartei mit Stricken drohte und im nächsten einen halbverrückten Conditor in ironischem Triumphe durch die Gassen fuhr, das konnte Wagner nicht als das Volk ansehen, aus dem durch bloße Abstimmung die absolute Vernunft hervorgehen solle.

Und doch wieder, wenn sein Onkel, der königlich preußische Consistorialrath, mit einer mächtigen deutschen Cocarde am Hute, ihn jetzt auf der Straße umarmte und seine Freude äußerte, daß es denn doch endlich so weit gekommen; oder wenn er den Stadtrath, von Hermann's liberalem Zweckessen her ihm bekannt, mit einer ganz zu Angst gewordenen Physiognomie als Deputirten auf der Rechten sitzen sah, dann vermochte er nicht zu glauben, daß auf dieser Seite wirklich die sittliche Gesinnung, der staatsmännische Patriotismus heimisch sein sollte, die sie für sich in Anspruch nahm.

Endlich, endlich jetzt, hatte Wagner geglaubt, müsse die Lebensbahn eröffnet sein, der sein Geist in vollem, freiem Zuge sich hingeben könne, und doch mußte noch immer sein krankes Gemüth in sich selber wühlen.

Ein Ereigniß endlich gab ihm den Anstoß zu einer entschiedenen Richtung. Das Patent des Staatsministeriums vom elften Mai wegen Zurückberufung des Prinzen von Preußen stieß ihn auf die äußerste Linke. Für ihn bewußt, wie für die große Menge unbewußt, war die Märzrevolution die letzte, höchste Anstrengung gewesen, durch und durch moralisch zu sein, all diese kleinlichen Schranken, diese verderbten Verhältnisse, in welche die Gesellschaft unentwirrbar sich verwickelt hat, die einen Jeden im Großen wie im Kleinen zum Egoismus, zu Intrigue und Heuchelei zwingen, diese alle auf ein mal zu zerreißen und von sich zu werfen, um das wahre menschliche Wesen in seiner Reinheit, Größe und Schönheit frei zu entfalten. Da heißt es nun in dem Zurückberufungspatente von einer Mission, mit welcher der Prinz nach England gesendet sei, während alle Welt wußte, daß er in Folge des Straßenkampfes geflohen war; die lügenhafte Intrigue des gestürzten Systems, die Politik der Vorwände und Scheingründe trat wieder offen hervor, und zwar mit einer Ungeschicklichkeit, als verstehe es sich von selbst, daß sie eben lügen müsse.

Im Volke sah Wagner Zerspaltung, in der Regierung Perfidie. Der Geist, der sich so großartig emporgerafft, drohte in sich zusammenzusinken. Jetzt oder nie! Es galt, Alles daran zu setzen, um ihm noch ein mal aufzuhelfen. Konnte das Volk die Demokratie aus sich selbst nicht entwickeln, so wollte Wagner mit dahin wirken, sie durch Gewalt ihm aufzudringen! Er gehörte jetzt zu denen, die im Kampf des achtzehnten März nur den Anfang einer Revolution sahen und in einer neuen Erhebung ihre Vollendung erstrebten. Bei der nächsten Gelegenheit, die sich darbot, setzte er dafür seine ganze Existenz daran.

Anstatt auf dem durch die Revolution gewonnenen Boden die Grundlagen eines haltbaren Verfassungsbaues zu beginnen, ließ der sogenannte staatsmännische Liberalismus, der in der Majorität der Kammer und im Ministerium die Zügel in der Hand hielt, sich sowol durch eigene doctrinäre Pedanterie als fremde Intrigue verleiten, einen sogenannten Rechtsboden zu erkünsteln, sodaß die von rechts und links anstürmenden Fluten Zeit gewannen, den Halt, den er in den Thatsachen hatte, wie Sand unter seinen Füßen fortzuspülen.

In der Abstimmung vom vierzehnten Juni hatten Kammer und Ministerium die Revolution verleugnet, der sie ihre Existenz verdankten. Jetzt trat die Gefahr vor Reaction in ungeahnter Nähe auf. »Durch! durch!« hieß es bei Ernst Wagner und Genossen. Die Aufregung des Volkes war ungewöhnlich groß; sie sollte benutzt werden, um eine Katastrophe herbeizuführen. Durch heimliche Fortschaffung von Waffenvorräthen aus dem Zeughause war hierhin der Unwille der Menge gerichtet. Das Zeughaus sollte gestürmt werden, um das Volk, d. h. die Proletarier, die nicht zur Bürgerwehr gehörten, zu bewaffnen und mit ihm die Republik zu proclamiren.

Furiose Reden wurden gehalten, die innerste Entrüstung aufgerüttelt; man appellirte an das sittliche Gefühl des Volkes, ließ die Todten des achtzehnten März aus den Gräbern heraufsteigen, Gott vom Himmel auf diese Verhöhnung seiner Werke herabblicken, schwor Gut und Blut daran zu setzen, um die Ehre der Freiheitshelden wieder aufzurichten, und – die Agenten der Reaction, die späteren Mitarbeiter der Gott-sei-bei-uns-Zeitung klatschten den Beifall dazu.

Donquixote waren diese Volkstribunen, die solche Anstrengungen zur Tapferkeit machten, um die Thüren und Fenster eines unvertheidigten Hauses einzuschlagen.

Die Bürgerwehr war vom Zeughause zurückgerufen; die Militairwache desselben hatte keine Instruction –; und so brauchte das Volk nur mit aller Gemächlichkeit in die niederen Fenster einzusteigen. Und als es sich mit Waffen, auch Kostbarkeiten nicht verschmähend, nach Verlangen und Wahl versehen hatte, stob es aus einander. Preußen blieb eine Monarchie; die sittliche Empörung des Volksbewußtseins war auf einen Diebstahlseinbruch hinausgekommen, der die demokratische Partei compromittirte, der Reaction den ersten festen Halt gab, sich weiter auszubreiten.

Ernst Wagner sah ein, daß er immer noch nicht ausgelernt hatte. Noch einmal war er gewaltsam enttäuscht, noch einmal in sich zusammengebrochen.

Es war schon spät Nachts, als er erschöpft in ein öffentliches Local trat, in dem Männer der Partei zusammen zu kommen pflegten. Drei der Publicisten, die er vor zwei Jahren bei Hermann hatte kennen gelernt und die jetzt als Deputirte in Berlin weilten, fand er dort. Am Morgen hatte er gesehen, wie sie umhergingen, um zu haranguiren, »jetzt gilt es, tapferes Volk, Alles daran zu setzen, jetzt oder nie!« Nun saßen sie gemächlich da bei einer Partie Solo.

»Seid ihr die Männer des Volks?« rief Wagner empört ihnen zu. »Während draußen das Volk sich schlägt, sitzt ihr beim Kartenspiel?«

»Sollen wir auf die Barricaden? Wir müssen unser Leben schonen, um für tausend Arme Kopf zu haben.« So antwortete man,

»Nun, wohl denn! Warum braucht ihr nicht eure Köpfe? Wenn das Volk kämpfen soll, warum organisirt, warum leitet ihr nicht?«

»Etwa, um besser zu machen, was Ihr verdorben, um zu büßen, was Ihr verbrochen habt, – Ihr Putschmacher? Mit Straßenjungenscandalen haben wir nichts gemein.« Das war die Antwort, die er erhielt.

Wagner wurde öffentlich von seiner Partei desavouirt. Um sich selbst rein zu waschen, mußte man ihn aufopfern. Am andern Tage floh er verkleidet aus Berlin, von der Policei verfolgt, von der öffentlichen Meinung verachtet, von seinen eigenen Gesinnungsgenossen verrathen.

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