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Zweites Capitel.

Ein Mensch, ein Mensch ist zu erkaufen. Wer bietet was darauf? – Eine Pfarre zum Ersten! – Ein Mensch! Ist nirgends sonst in der Welt ein Mensch zu brauchen? – Eine Pfarre zum Zweiten – und –!

»Herzlich willkommen, bester Wagner! Charmant, daß Sie meine Bitte thun!« So rief Monsieur Cesar dem angemeldeten Fremden entgegen, indem er, die Zeitungen bei Seite werfend, von seiner bequemen Lage auf dem Canapé aufsprang. In kurzem Sammetrocke, einen rothen Shawl malerisch um den Hals geschlungen, trat er dem schüchternen Theologen mit zuvorkommender Gewandtheit entgegen, drückte ihm die Hand und ließ ihn neben sich in die schwellenden Polster niedersitzen.

Ernst Wagner war überrascht von der Erscheinung und der luxuriösen Umgebung des reichen Künstlers. Er fühlte sich im ersten Augenblick befangen gegenüber den forschenden Augen, den stolzen Zügen, der freien Tournure des Franzosen. Cesar hatte ein seine Umgebung beherrschendes Wesen; südliches Feuer trotz der leichten Salonmanieren, zugleich eine überlegene Ruhe, die sowol berechnende Sicherheit als blasirte Abgespanntheit verrieth, und eine Gewandtheit des Geistes, durch die er die Leitung des Gesprächs stets in seiner Hand behielt. Dabei gewährte ihm der ausländische Accent und die Mühe, die ihm das Sprechen zu kosten schien, den Vortheil, daß der Hörende sich gedrängt fühlte, durch Errathen seiner Gedanken ihm entgegenzukommen und jedes seiner Worte nicht als bloßes Wort, sondern als den untrüglichen, unmittelbar erzeugten Ausdruck seines Gefühls zu nehmen. Die Vollendung seiner weltmännischen Bildung besaß er darin, daß er nicht nur imponirte, sondern auch nie dabei in Verlegenheit setzte. So fühlte sich unser Candidat bald wohl in der Gegenwart des fremden Mannes, dessen Freundschaft er erworben hatte, ohne sich darum zu bemühen, und gab sich ihm im Gespräche mit der ganzen Offenheit seines schlichten Wesens hin.

Ernst kam bald darauf, über das Unglück zu klagen, das die entdeckte Autorschaft des Aufsatzes, den Cesar zur Veröffentlichung befördert, über ihn gebracht hatte, da er jetzt Gefahr laufe, nie eine Anstellung zu erhalten. Cesar zeigte sich sichtlich erschreckt darüber und konnte sich nicht erklären, wie diese Entdeckung möglich sei, da er alle Vorsicht zur Verheimlichung gebraucht habe; so daß Ernst nicht im Entferntesten daran dachte, ihm eine Schuld daran beizumessen.

»Aber im Grunde«, fuhr Cesar fort, »haben Sie deshalb wol noch kein Recht zur Desperation. Sollten Sie es nicht vielmehr als ein Glück ansehen, durch dieses Malheur aus einer Carrière gestoßen zu sein, wie sie Ihren Bedürfnissen, Ihrer Gesinnung und Ihren Talenten so wenig entsprechend ist? Können Sie Sich nicht sagen, der Staat verliert mehr an Ihnen, als Sie am Staat und Staatsdienst?«

»Gewiß. Das aber ist ja gerade das Unglück unserer Jugend. Für unsere besten Kräfte und unseren besten Willen hat der Staat keinen Raum, ja, er ächtet sie selbst. Wir sind Fremdlinge, Feinde dem eigenen Vaterlande. Niemals wol war der Geist der Zeit zu solcher Klarheit der Idee erweckt, ihr Herz von solchem Thatendurst geschwellt wie jetzt; aber nirgends eine Möglichkeit der Ausführung, nirgends eine That, der wir unser Alles, uns selbst opfern könnten!«

»Keine Möglichkeit der Ausführung, keine That in unserer Zeit? Erlauben Sie, ich habe die deutschen Verhältnisse der letzten Jahre genauer beobachtet, als Sie von einem Franzosen es erwarten werden. Die lichtfreundlichen Proteste, die christkatholischen Gemeinden, die Vereine für das Wohl der arbeitenden Classen, die zur Forderung werdenden Hoffnungen auf Constitution, documentiren sie nicht schon grandiose Erfolge der Agitation? Und vergessen Sie den schlesischen Weberaufstand des vorigen Jahres? beachten Sie nicht das Auftauchen der socialistischen Ideen aus dem Volke selbst herauf? Seit zwei Jahren sind es nicht mehr die hervorragenden Specialitäten, welche die Bewegung bilden; die große Masse tritt als handelnd auf. Und wenn die Menge selbst erst zu arbeiten beginnt, – sagen Sie selbst, was können wir mehr wünschen?«

Ernst war den Ereignissen des letzten halben Jahres fremd geblieben. Die Vorbereitungen zum Examen, der stete Kampf in seinem eigenen Gemüthe, und am meisten der Stolz des Idealismus, der über die zufälligen und unvollkommenen Erscheinungen des wirklichen Lebens sich hoch erhaben dünkt, das Alles hatte ihn gehindert, der Bewegung des öffentlichen Lebens sein Interesse zu schenken. Er war der allgemeinen Stimmung seiner Schule gefolgt. Der philosophische Radicalismus war seit dem Jahre 43 durch die Unterdrückung seiner publicistischen Organe aus dem Vordergrunde zurückgetreten. Trotz aller Manifeste und des stets wiederholten Grundsatzes, die Theorie müsse zur Praxis werden, war es ihm nicht möglich gewesen, eine allgemeine Theilnahme des Volkes an der öffentlichen Bewegung zu erwecken, die That in Wahrheit geschehen zu lassen. Als nun das Aergerniß über den Rock zu Trier, der Aufruf eines katholischen Priesters aus einem entlegenen Winkel der Welt die öffentliche Meinung in so gewaltige Gährung versetzte und der Anstoß war, daß die ganze bürgerliche Bevölkerung für die Freiheit des Glaubens Partei ergriff und das tausendjährige Gebäude der römischen Kirche seinem Sturze nahe brachte, da zogen die Philosophen in das höhere Bewußtsein der Idee sich zurück: sie hatten es nicht zur That bringen können, und was jetzt geschah, war nicht die That, die sie gewollt.

In der kleinen Universitätsstadt und dann auf dem Dorfe, dem Schauplatz der Ereignisse fern, hatte Ernst sich über dieselben keine selbständige Entscheidung gebildet. Er entgegnete jetzt auf Cesar's Frage, er könne der bisherigen Bewegung seine volle Theilnahme nicht schenken, sie sei aus dem »bloßen beschränkten Menschenverstande« hervorgegangen und entbehre der Tiefe und Genialität.

»Was?« rief Cesar aus. »Es wäre nicht genial, mit: ›Wissen Sie nicht, Herr Bischof?‹ und: ›es ist unverzeihlich von Ihnen‹ eine Reformation zu beginnen? Wie wollt ihr denn zur That kommen?«

»Wenn die Masse reif ist, und nicht wie jetzt dem Geiste gegenübersteht.«

»Die Masse wird nie reif.«

»So wollen wir mit ihr nichts zu thun haben.«

»Wie wollt ihr denn wirken, wenn nicht durch die drohende Gewalt?« frug Cesar mit forschendem Blicke.

»Durch Gründe, durch die Ueberzeugung.«

»Gründe bleiben Gründe. La force c'est la loi!« sagte Cesar abbrechend, und um der Verstimmung aus dem Wege zu gehen, die in diesem Augenblicke der eingetretenen Controverse wegen der beiden Fremden sich unwillkürlich bemächtigen wollte, sprang er auf an seine Staffelei, die an dem einen Ende des großen, eleganten Zimmers aufgestellt war. Er zeigte Ernst seine Zeichnungen à deux crayons, meist nur angefangene Skizzen, ohne größere Bedeutung. Nur eins war ausgeführt, ein Mädchenkopf in voller Lebensgröße.

»Eine heilige Cäcilie«, erklärte der junge Meister, »Portrait. Ein prächtiger, vielsagender Kopf.«

Geistvolle, schwermüthige Züge, große, schwärmerische Augen, – Ernst fühlte sich innerlichst angezogen. Er glaubte darin eine Seele zu lesen, die ein Leid trüge, ähnlich dem seinen, und ihn, den Niemand noch verstanden, wol verstehen würde. Er versank nachdenkend in ihren Anblick und überließ sich ganz der wehmüthigen Stimmung, die seinen Geist inne hatte. Der Maler betrachtete ihn von der Seite mit seinem prüfenden Blicke. Ernst schrak auf, als er sich beobachtet sah, und trat von dem Bilde zurück.

»Und so ist sie, wie sie lebt und – liebt. Wenn Sie länger hier bleiben, Herr Wagner, Sie sollten das Mädchen kennen lernen«, sagte Cesar.

»Ich hoffe noch einen Geschäftsgang glücklich zu beenden und reise dann morgen ab«, erwiderte Ernst und wurde so traurig, daß es ihm schwer war, dem Gespräch zu folgen, welches der Franzose trotz der Theilnahmlosigkeit des Andern mit leichter Lebhaftigkeit fortführte. Cesar's Versprechen, ihm eine unabhängige Stellung durch literarische Thätigkeit zu verschaffen, hatte in Ernst zwar keine bestimmte Hoffnung gegründet, aber es war doch eine Möglichkeit, welche seinen Eintritt in den Dienst der Kirche noch nicht als das einzige vollkommen Unvermeidliche vor ihm stehen ließ. Jetzt aber wollte Cesar dessen mit keiner Silbe erwähnen. Er hatte seinen ausfragenden Ton noch nicht aufgegeben und schien seine Umsicht über die Personen und die Tactik der öffentlichen Parteiungen nur glänzen zu lassen, um Ernst zu zeigen, wie fremd ihm selbst diese Zustände seien. Dieser hielt es für zudringlich, ihn an sein Wort zu erinnern, und brach endlich auf, als er vergeblich erwartet, daß er selbst davon sprechen werde.

Da, beim Abschiede, fing Cesar an: »Ja, Herr Wagner, um auf das zu kommen, weshalb ich Sie zu sprechen gewünscht, so dürfen Sie es nicht als einen Wortbruch von meiner Seite ansehen, daß ich nichts für Sie thun kann.. Ich sehe aus Ihren Aeußerungen, daß Sie ein Anerbieten, wie ich es Ihnen hätte machen können, von der Hand weisen würden. Vielleicht wird Ihre Denkungsart eine andere werden, wenn Sie mit den Zuständen erst in wirklichen Conflict gerathen; vielleicht, daß ein längerer Aufenthalt in der Residenz Ihnen die unentwirrbaren Gegensätze schroffer vor die Augen rückt. Dann könnten wir uns weiter sprechen. Bis dahin bewahren Sie mir Ihre Freundschaft, darum bitte ich Sie achtungsvoll, und seien Sie von der meinigen überzeugt. Ich weiß, daß Sie über unsern Disput und über die Consequenzen, die Sie vielleicht, und zu leicht falsch daraus ziehen könnten, die rücksichtsvolle Discretion deutscher Treue bewahren werden. Denn gerade daraus, daß ich Ihre Talente nicht beschäftigen kann, ersehe ich, daß ihr jungen Deutschen auch noch – echte Deutsche seid!« –

Der junge Wagner wollte über den Tod des Vaters keine Betrübniß empfinden. An dem Schreck, der ihn verursacht, meinte er, bin ich nicht Schuld, sondern die Polizei; und daß mein Vater sterben mußte, dessen war meine Vernunft sich stets gleichmäßig bewußt; es mußte mich also immer betrüben, schon als es noch geschehen sollte, oder nie, auch jetzt nicht, wo es geschehen ist. Dennoch hatte die Stimmung seines Gemüthes, die sich nicht in lautem Schmerze Luft machen konnte, in dumpfer Betäubung seinen Geist gleichsam verschleiert. Die Außenwelt ragte nicht in sein Inneres hinein. Er hatte kein Interesse für, noch gegen Etwas, sodaß er kaum eine Beobachtung machte, keinen Entschluß zu fassen wagte, denn – was konnte er noch erreichen? Die Begegnung mit Cesar fügte dazu noch eine Demüthigung. Der freie, starke Geist fühlte bei ihm zum ersten male, wie viel ihm noch fehlte; ihm gegenüber kam er sich so recht vor als der Candidat des Predigtamtes. Und er konnte nicht einmal hoffen, diesen Mangel an Lebensbildung je zu ersetzen! Als wolle er in sein Verhängniß sich schnell hineinstürzen, um den Schwindel des Falles möglichst kurz zu empfinden, so eilte er jetzt ohne Nachdenken, wie mit geschlossenen Augen, der Entscheidung seines Lebens zu, nach der Wohnung seines Onkels, des königlich preußischen Consistorialrathes.

– Eine Pfarre zum Dritten und der Mensch war verkauft! – Doch –

»Der Herr Consistorialrath sind nicht zugegen. Sie sind in Geschäftssachen verreist und werden erst in zehn Tagen wieder hier sein.« So beschied der Bediente den bebenden Candidaten, als er mit verzweifeltem Griffe an die Nothglocke mit seines Onkels Namensschilde gezogen hatte.

Zehn Tage noch sein eigener Mann! Es wurde ihm um nicht viel mehr leichter, als dem Verurteilten, dem die Erwartung des Todesstreiches um einige Stunden verlängert wird. Diese zehn Tage beschloß Ernst in Berlin zu bleiben. Wie nach einer alten Sitte der Todescandidat vor der Hinrichtung sich an Speis und Trank etwas zu Gute thun darf, so wollte der Predigtamtscandidat vor seiner Weihe sich Kenntniß des großen Lebens und Einsicht in die Zustände des Tages erwerben, um dann wenigstens mit Recht in seinem einsamen Dasein sich darüber erhaben zu fühlen.

Das Leben einer großen Stadt, das Treiben so unzähliger Menschen, gleicht dem weiten, wüsten Ocean. Nirgends kommt sich der Mensch verlassener vor als hier. Wer zu vergessen oder vergessen zu werden sucht, hier kann er es so leicht wie nirgends. Er braucht nur den Muth und die Hände sinken zu lassen, und er ist untergegangen. Glücklich der, dem Versinken ein neuer Stern erscheint und Hoffnung und Zuversicht entgegenstrahlt!

Wenngleich das provinzielle Aussehen und Sonderlingsbetragen an Ernst ihn genirte, so nahm doch Doctor Horn sich in den ersten Tagen seines Freundes an. Er ging ihm zu Liebe, wohin er schon mehrere Wochen nicht gekommen war, in die Restauration von Hippel an der großen Friedrichsstraße, wo sich damals die geniale Clique der »Freien« versammelte. Die Philosophen der absoluten Kritik bildeten den Kern, Zeitungscorrespondenten, Künstler, emancipirte Frauen, ältere Studenten und eine Anzahl bummelnder und verbummelter Individuen – das Gros dieser Gesellschaft. Die Einen gaben den Witz, die Andern das Behagen. Man trank bairisch Bier, Grog und Wein, philosophirte und riß Zoten, blasphemirte und legte Bank um Dreier, ließ den Naturlauten dieselbe freie Entwicklung wie dem Gedanken und unterhielt sich, wie Genialität gepaart mit Frivolität es nur vermögen.

Es war das der freie Berliner Geist, in seiner reinsten Abklärung, ungetrübt vom Bodensatze des Besitzes oder Amtes, ungetrübt von Glauben oder Grundsatz, ohne von sich selbst abgezogen zu sein durch die Theilnahme am öffentlichen Leben, nur sich selbst angehörend und der fortschreitenden Dialektik seiner Entwicklung. Es war derselbe »Geist«, der in der christlichen Religion vor noch nicht zehn Jahren die Offenbarung der absoluten Vernunft sich rühmte begriffen zu haben; dann dieselbe als einen poetischen Mythus des Menschengeistes belächelte, dann als eine Verrücktheit verhöhnte und durch die kritische Thätigkeit alle Verrücktheiten, Religion, Staat, Recht, Wissenschaft, Sittlichkeit, in ihr Nichts aufzulösen vermocht hatte, bis er diese Kritik selbst als eine Verrücktheit entdeckte, das menschliche Denken für beendet erklärte, und nichts mehr behielt als den Grundsatz: leben und leben lassen! Die Verstandesentwicklung ging jetzt über in die Praxis; der Geist verlegte seine Werkstätte vom Schreibpult in die Kneipe. Die Unsittlichkeit wurde sociale Pflicht, die Gesinnungslosigkeit ein Erforderniß der Freiheit; Anstand, Sitte, Ehre, alles Consistente ist eine Verrücktheit, eine Schranke, die der Geist um seiner Unbefangenheit, seiner Freiheit willen von sich weisen muß Die Mühe der Selbstbestimmung wird mit Bewußtsein aufgegeben, die vollkommene Freiheit darin gefunden, mit dem Leben zu spielen; unnahbar wie Gott und leicht wie das Nichts, überläßt sich der seiner selbst gewisse Geist dem Spiel des Zufalls, auf dessen Wellen er sich mit Anmuth furchtlos schaukelt, da er ja doch sich selbst nie verlieren kann. Rings um sich erblickte man die trostlose Oede geistiger Abgestorbenheit. Die Regierung ging, trotz aller Anmaßung von organisirender Neugestaltung, im alten Mechanismus des Polizeistaates fort. Das Volk war ohne jede allgemeine Bewegung, und als diese durch die religiöse Agitation erweckt war, galt dieser »ordinaire Rationalismus und Liberalismus« für halb und inconsequent. Dem freien Geiste erschien die Geschichte abgestorben zu sein, und nur in ihm selbst, glaubte er, lebe sie noch. Die Clique der »Freien« sah sich an als ihren Brennpunkt. Man war geistreich als Zeitgeist und liederlich als Weltgeschichte. Man fühlte sich so wohl als wie fünfhundert Säue und so erhaben, wie der Geist der über den Wassern schwebte. Das waren die consequenten Denker, die echten, freien Geister.

Als Ernst, der Geist aus der Provinz, dieses Treiben ansah, glaubte er, es müsse das so sein. Er mußte sich gestehen, der Gedankenproceß dieser souverainen Kritik sei consequent und die Emancipation des Individuums geschichtlich nothwendig bei der Rathlosigkeit der Umstände. Erschien dieses Verhängniß ihm auch bedauernswerth, so fand er doch weder in sich noch in der Welt den festen Punkt, von dem aus er sich dagegen hätte anstemmen können. Auch er war ja bereits, wie sehr sich auch sein besseres Selbst dagegen gesträubt, demselben Standpunkt verfallen, und so war es ihm eine tröstende Genugthuung, die Gesinnungslosigkeit als allgemeines Schicksal der Zeit, nicht als seine eigene Schwäche ansehen zu können. Doch diese Berliner waren in ihrer Gesinnungslosigkeit genial, er – philiströs. Er wollte, so lange er es noch konnte, sich selbst zeigen, daß er auch dieser Genialität fähig sei. Er suchte sich den Kritikern anzuschließen; aber er kam sich ihnen gegenüber so fremd und unbeholfen vor. Er hatte eine so große Meinung von seinem Geiste und seinen Talenten, und doch konnte er sie im Umgange mit jenen nicht entwickeln; er kannte nicht die Persönlichkeiten und Verhältnisse, über die sie sprachen, wurde von jedem ihrer stechenden Schlagworte überrascht und jeder unbedeutendste dieser Literaten schien ihm mehr Geist zu haben als er selbst. Er fühlte sich aufs neue muthlos in seine apathische Betäubung zurückgedrängt.

Endlich das Schauspiel gab ihm den Anstoß, sich in das Leben hineinzuwagen. Es wurde Hamlet gegeben. Wie in diesem Stücke selbst die dramatische Kunst durch das Schauspiel im Schauspiel in das wirkliche Leben eingreift, Leidenschaft und Thatkraft erweckend, so wurde auch unser Held bei der Anschauung der großartigen Gedankentragödie aus seiner lethargischen Gleichgültigkeit herausgerüttelt. Er sah in dem tragischen Schicksal des Denkers, der die That, die er thun wollte, nicht thun konnte, das Bild seines eigenen Unglücks. Dadurch konnte er, darüber erhoben, über sich selbst nachdenken. Er dachte, wie das Leben einmal ein Kampf sei, und glücklich der, der diesen Kampf wirklich lebe! Leben! Leben! Wie reich ging dieser Begriff ihm auf: die idealen Gegensätze des Geistes sah er darin, die sich in der Wirklichkeit durcharbeiten. Sein Dasein war bisher nur von todtem Denken erfüllt, – ein bloßes Dasein; wie anders, dachte er, müßte es sein, den Inhalt seines Wesens wirklich zu leben, in dem Wechsel des Schicksals, dem Begegnen der verschiedensten Charaktere, durch Thaten wagend und gewinnend ihn durchzusetzen! Das Leben, das wie ein unbekanntes Land, verschönt durch den Zauber der Ferne, lockend vor ihm lag, dünkte ihm unendlich interessant, und in der wunsch- und hoffnungsleeren Oede seines Gemüthes erblühte die jugendheiße Sehnsucht, in diesem interessanten Wechsel bewegend bewegt zu werden.

Und siehe da! war ihm doch schon, während er so dachte, ein überraschendes Ereigniß begegnet. Er war am Tage vorher im Opernhause gewesen. Ein Gefühl erdrückender Einsamkeit pflegt den bescheidenen Fremden aus der Provinz in diesem großartigen, menschenerfüllten Gebäude zu beschleichen; er kommt sich so fremd vor, so gar nicht hierher passend, während all die andern Anwesenden ihm dort zu Hause zu sein scheinen. So ging es Ernst. Der Stolz seines Idealismus war tief verletzt, sich so ganz verschwinden zu sehen in der großen Welt.

Wehmuthvoll schweifte sein Blick hin an dem dreifachen Kranze der Logen, aus dem so manche strahlende Blume hervorblickte. Das Gefühl seiner Verlassenheit wurde noch vermehrt durch jene unbestimmte, schmerzliche Sehnsucht der Jugend, der die Schönheit noch ein unbekanntes Zauberreich ist. Aber sein allgemeines, phantastisches Verlangen, durch den Reiz der Schönheit überhaupt geweckt, vermochte nicht sich zu concentriren, in dem Interesse für eine bestimmte Schöne seine Befriedigung zu suchen. Der Philosoph wollte sich von der Schönheit nicht fesseln lassen; er wollte nur das Geistige, das Interessante lieben. Er suchte sein weibliches Ideal, und – er fand es: nicht blond und lieblich, ein sanftes Täubchen, nicht brünett und strahlend, eine herausfodernde Cokette, – schmächtig, blaß, leidend, seelenlos kalt, eine durchschmerzte Schönheit, die mehr Schmerz als Schönheit war, saß sie da in einer Loge des dritten Ranges. Den Ellbogen hatte sie auf die Brüstung, das dunkele Haupt auf die Hand gestützt, die sich in die vollen, seidenweichen Scheitel eingewühlt hatte. War diese absonderliche Stellung graciös, oder war sie unmanierlich? Legèren Uebermuth schien sie auszudrücken, und doch bezeugten die regungslosen Züge und die halbgeschlossenen Augen die vollkommenste Abwesenheit von Coketterie, als wisse sie, daß sie nicht gefallen könne, und wolle es auch nicht. Einmal sah Ernst – die einzige Bewegung, die sie verrieth –, daß ihre Lippen sich unmerklich zu einem Seufzer öffneten. Der sentimentale Denker glaubte in Berlin, der Stadt der Intelligenz und der Junghegelianer, in jeder unzufriedenen Physiognomie, sie mochte die eines Roué oder eines Bösewichtes sein, den Schmerz des geknechteten Geistes zu lesen. Auch dieses Mädchen mußte eine Denkerin sein, ihr Leiden – das große Leiden der Zeit. Es war für ihn unendlich wohlthuend, in seiner Verlassenheit unter den vielen, vielen fremden, gleichgültigen Gesichtern ein Antlitz zu finden, das ihm wie bekannt vorkam, in dem er eine Seele las, verwandt der seinen.

Bei einer Stelle der Musik, die ihren Effect weniger auf die Menge als auf den geschmackvollen Kenner ausübt, schlug sie, wieder mit einem Seufzer, ihre Augen empor, – große, geistige, melancholisch matt leuchtende Augen, wie der Mond, über farblosem, düsterem Gewölk aufgehend. Und nun sah sie nicht mehr abgespannt und seelenlos aus; schwärmerischer Trübsinn hatte ihre Züge durchleuchtet. In demselben Augenblicke nahm die Musik der Oper einen Aufschwung, dessen hinreißende Macht Ernst überkam. Es war das Finale des dritten Actes von Flotow's »Martha.« Die hinschmelzend weiche und innerlich kräftige Empfindung riß sein Gemüth über sich in wohlig schauernde Höhe empor; in schwärmerischer Entzückung war er angehaucht von der Seele der Musik und der Seele dieser Augen. Der Vorhang fällt – die Musik verstummt – ausbrechender Beifall des Publicums – Alles regt sich. Ernst's Entzücken hielt sich aufrecht bei aller Störung; seine Aufmerksamkeit gehörte nur jenen Augen. Auch sie ließ sich in ihrer statuenartigen Unbeweglichkeit nicht stören; nur ihre Blicke ließ sie schweifen. Er glaubte diese wie lichte Radien durch das Haus kreisen zu sehen. Plötzlich fühlt er sich getroffen; eine freudige Helle leuchtet in sein Herz; der Strahl ihres Auges hat ihn berührt, und wieder streift er ihn und wieder, und jetzt bleibt er fest und schwer an ihm hängen. Oder ist es nur eine Täuschung seiner Eitelkeit? Er faßt sich den Muth, der Sonne sicher entgegenzusehen, scharf ihren Blicken zu begegnen und sie auszuhalten; da zuckt um ihren Mund ein Zug der Bewegung – war es Freude oder Verlegenheit – Ernst war sicher, daß sie nur ihn betrachtet; der starke Mann, der große Geist war in Mark und Bein erschüttert durch das unmerkliche Zucken eines Mundwinkels. Seine Sehnsucht nach Schönheit war jetzt concentrirt; all sein Verlangen nach Liebe heftete sich an dieses blasse Mädchen. Wie er sie nun mit ihren aufgeschlagenen Augen und belebten Mienen länger und länger betrachtet, erscheint sie ihm so verwandt, so längst bekannt; er meint, ihr schon irgendwo begegnet zu sein. Aber er kann sich nicht erinnern, wo. »Weil sie so ist, wie dir das Ideal eines liebenswerthen Weibes stets vorgeschwebt, glaubst du sie zu erkennen«, so erklärte er sich seine unbestimmte Empfindung, und dennoch, als das Stück zu Ende war, ließ er das Ideal seinen Blicken entschweben, ohne den Versuch zu machen, ihr nahe zu kommen, ohne seinem Nachbar Horn zu sagen, welcher Wunsch in ihm rege geworden.

Ohne den Gedanken, ihr je wieder zu begegnen, tritt er am Tage darauf mit Louis wieder in die Loge, und wie schrickt er zusammen, als er sich sogleich wie körperlich von dem lichten Strahle ihres Auges getroffen fühlt; sie sitzt schon ihm gegenüber in der Loge und scheint ihn mit ihren Blicken zu erwarten. Als ihr Blick dem seinen begegnet, fliegt eine zarte Röthe über ihr Antlitz; ihr Auge weicht ihm aus, schweift hin und her; wie sie ihm wieder begegnet, öffnet sich ihr Mund sanft zu einem Seufzer; ihr Blick, ernst und leidend, richtet sich empor nach dem Plafond, und jetzt weiß Ernst, woher er diese Züge kennt: sie ist das Urbild zu Cesar's heiliger Cäcilie.

Da begann ja gleich ein lockendes Abenteuer sich anzuspinnen. »So ist sie wie sie lebt und liebt«, hatte Cesar gesagt. Leben! Lieben! Eine phantastisch bunte, idealisch hohe Welt eröffnete sich den träumenden Sinnen des erfahrungslosen Jünglings, für den die Wirklichkeit nur in Ideen existirte. All die reine, schwärmerische Sehnsucht, mit der es ihn drängte, diese Ideale zu erfassen, leuchtete aus seinen tiefblauen Augen zu jenem geistesverwandten Mädchen hinüber. Auch sie scheute sich nicht, ihr Auge in seinem Auge, ihre Seele in seiner Seele ruhen zu lassen, – in dem großen Bunde, der alle freien, mitstrebenden Geister einigt, waren sie einander ja nicht fremd! Sie wurden bald so vertraulich, als wären sie alte Freunde, so daß Ernst nach Ende des Stückes beim Aufbrechen sie zu grüßen wagte. Und als sie den Gruß mit freundlichem Lächeln erwiderte, sah er mit holdem Erschrecken erst, wie lockend süß diese Lippen waren, und wie reizend das runde Kinn, zu dessen zarter Fülle hinab das Lächeln sich stahl.

Als die beiden Freunde Arm in Arm aus dem Theater gingen, berechnete Ernst bei sich die Reste seines Geldes, und fand, daß er reichlich genug versorgt sei, um acht Tage das Berliner Leben studiren zu können.

Sie sind behaglich langsam durch zwei Viertel der gaserleuchteten Straßen geschlendert, da wird der Doctor von einer nachkommenden Dame angerufen.

»Ei, guten Abend, Delphine«, rief er aus, mehr verlegen als freudig, »woher so spät und so allein?«

Ernst blieb vor freudigem Schreck wie versteinert stehen: die Delphine und die heilige Cäcilie waren dieselbe Person. Das Abenteuer spann sich schnell weiter.

»Aus dem Theater«, antwortete das Mädchen, indem sie einen Blick auf Ernst warf, der ihm sagte, daß sie ihn sehr wol wiedererkenne. »Aber haben Sie mich denn wirklich nicht gesehen, Herr Doctor? Sie sind ein schöner Ritter! Den ganzen Abend sitzen Sie mir gegenüber und sehen mich nicht einmal.«

»Heute im Theater?« frug der Doctor. »Wie konnte ich das denken. Sie gehen ja sonst nur in die Oper.«

»Ich habe mich gebessert. Seit Sie mich in der Kunst unterrichten, bin ich nicht mehr einseitig und liebe auch die Trauerspiele. Und dann – ich dachte eigentlich, Sie würden mich in der Loge besuchen. Ja Sie lassen Sich ja gar nicht mehr bei mir sehen, und Sie haben mir doch etwas versprochen –

»Wo haben Sie aber Ihr Mädchen?« unterbrach sie der Doctor.

»Ach Gott, ich habe sie am Theater nicht gefunden. Ich fürchte mich auch nicht, allein zu gehen. Solch ein Mädchen, wie ich –« und mit allerliebst komischem Pathos legte sie die Hand auf den Busen und sagte: »ich habe meinen Dolch bei mir.«

Louis lachte: »noch immer die alten Kindereien«, und indem kam keuchend das Dienstmädchen hinterher.

»Herr Je, Fräulein, wie habe ich Sie gesucht!«

»Herr Gott, Juste, wie habe ich dich gesucht!« So riefen beide auf einmal aus.

»O! nun kann Ihnen meine Begleitung nichts mehr nützen«, bedauerte Louis. »Gute Nacht!«

»Adieu!« erwiderte sie, pikirt über sein kurzes Abbrechen. »Daß Sie Sich ja bald bei mir wiedersehen lassen! Morgen spätestens bei meiner Ungnade. Adio, signore Ludovico, amatore perfido!« Schnell und furchtlos, dem Fremden noch einen ihrer bedeutenden Blicke schenkend, bog sie um die Ecke. –

»Ist das die Delphine? Sie ist mir bereits zwei mal im Theater aufgefallen.« So fing Ernst sogleich an mit Eifer zu fragen.

»So? du hast sie schon öfter gesehen?«

»Ja. Heute und gestern, beide mal deiner Loge gegenüber.«

»Also gestern und heute war sie im Theater?«

»Ja, wie gesagt, fällt dir das auf?«

»Nein, nein«, sagte der Doctor sorglos, »es ist mir nur fatal. Sie wird es mir übelnehmen, daß ich nicht in die Loge zu ihr gekommen bin. Sie pflegt sonst nur die Oper zu besuchen. Indeß – Kleinigkeit!«

»Eine interessante Erscheinung. Nicht auffallend schön, aber eigenthümlich «, so urtheilte Ernst, um das Gespräch über sie nicht abzubrechen.

»Nicht auffallend? Nun, bei Gott, dir scheint sie doch bald und genug aufgefallen zu sein«, lachte der Doctor.

»Allerdings, ihre Augen sind mir aufgefallen, und mußten sie es nicht, da sie mir jedesmal begegneten, so oft ich hinaufsah. Ich wußte es damals nicht, wem dieses tiefe, stille Sinnen herüberleuchtete. Jetzt ist mir der Glückliche enträthselt.«

»Hältst du mich für ihren Erlesenen? Etwa, weil sie jetzt so vertraulich mit mir redete? Ha! So ist sie gegen jeden Mann. Ich hätte dich ihr nur vorzustellen brauchen, und sie wäre gegen dich ebenso gewesen. Du kennst noch die Weiber nicht. Sie ist eine echte Berliner Cokette.«

»Danach sieht sie mir nicht aus. Ueberhaupt lassen ihre Züge gar nicht auf das ausgelassen lebhafte Wesen schließen, das sie eben zeigte.«

»Sie ist auch nicht immer so«, erwiderte Louis mit Spott. »Sie kann nicht nur kindlich ausgelassen sein, auch sentimental, auch einfach gemüthvoll, auch pikant cokettirend. Lieber Junge, solch ein Mädchen kann Alles sein, was sie will, je nach dem, wie sich die Gelegenheit zu gefallen darbietet.«

»Jedenfalls ist sie eine interessante Erscheinung. Warum hast du mich ihr nicht vorgestellt? Du mußt es noch thun. Du mußt mich bei ihr einführen.«

»Recht gern, was mich betrifft. Nur ist es nicht so leicht gethan. Ein Drache von einer Tante und ein Grobian von Onkel hüten den Schatz. Indeß –«

Damit traten sie in die Hippel'sche Restauration. Es war gerade Sonnabend und Ernst hatte damit eine außerordentlich feierliche Versammlung zu erwarten. Der »große Kritiker«, der Prophet dieser gottlosen Secte, pflegte an diesem Abende die Zusammenkunft seiner ungläubigen Gläubigen durch seine Gegenwart zu verherrlichen. Die ganze Woche hindurch lebte er, fast ohne auszugehen, der Kritik; erst des Sonnabends machte er Feierabend, begab sich unter seine Jünger und erfüllte seine geselligen Bedürfnisse; des Sonntags verschwand er und verweilte im Kreise seiner Familie, um in heimlicher Sünde gegen den Geist auch seinem Gemüthe Rechnung zu tragen. Horn hatte seinen Begleiter vorbereitet, daß er »ihn« heute sehen werde. Als sie durch die Vorhalle, die der Laienschaft der Philister geöffnet war, in das engere Allerheiligste traten, fanden sie das kleine Zimmer gedrängt voll; in dem Augenblick, wo sie öffneten, hörten sie die Worte: »– die Dummheit Ronge's und die Gemeinheit Uhlich's«, und ein lautes Hohngelächter schallte ihnen entgegen. » Er spricht!« sagte Horn, und als es still geworden, hörte man aus der Menge wieder die einzelne Stimme, wohlklingend, nicht ohne sarkastischen Beigeschmack, der alle Andern lauschten. Ernst sah sich nach dem Sprecher über die Schultern der Vorstehenden um und gewahrte endlich, woher die Stimme rührte. Ein schöner, jugendlich männlicher Kopf von griechischem Profil, mit blasser Gesichtsfarbe – dem Kainszeichen des Denkers – und nachlässig spöttischer Haltung der Züge, sah, auf einen Hemdärmel gestützt, gleichgültig über sein Achtel Rothwein hinweg; die andere Hand hielt eine Schachfigur über dem Bret, als sei sie eben im Zuge unterbrochen, nur an den Lippen sah man, daß er sprach – es war der große Philosoph.

»Dieses Bürgerthum, der sogenannte Geist des neunzehnten Jahrhunderts, was ist er anderes als der Harlekin, der sich mit den Fetzen des aristokratischen Schmuckes ausputzt, den d ie Kritik abgenutzt und abgeworfen, da sie gesagt hatte, was zu sagen war! Sie hat eine Welt aufgelöst, dieses Lumpengesindel beweist nur an sich selbst ihren Verfall; sie hat aufgeräumt, diese wühlen nur im Schutte. Alle diese christkatholischen, lichtfreundlichen und philanthropischen Beratungen und Concile, beweisen sie etwas Anderes, als daß eben die alte Welt nichts mehr zu berathen und ihre Weisheit erschöpft hat

Ein neues Hohngelächter opferten die Gläubigen ihrem Propheten. Er fuhr fort: »Aber diese Werkmeister des Zeitgeistes, wie sie sich dünken, können nur deshalb noch etwas reden, weil sie nicht denken und so nie mit dem Denken zu Ende kommen können. Ihre Worte hat nicht der Geist gezeugt, sondern die stupide Willkür. Sie fragen sich nicht: warum? sie sagen nur: wir wollen, wir wollen nicht! und keine Macht der Wahrheit ist im Stande sie anders zu überzeugen. Da heißt es: wir glauben an Gott den Vater – ohne daß sie vom Sohne sprechen. Warum machen sie den Alten zum Vater, wenn sie ihm nicht den Sohn geben? Und warum soll er wieder Hagestolz werden? – Sie wollen es. Eh bien! So wollt und wollt nicht. Die Kritik verzeiht euch, denn ihr wißt nicht, was ihr thut, aber – sie mag mit dummen Jungen nichts zu thun haben.« Der große Kritiker that seinen Zug auf dem Schachbret, den wiederholtes Jauchzen des Chores begleitete.

Die Anwesenheit eines Danziger christkatholischen Apostels in Berlin hatte die Veranlassung zu diesen Worten gegeben, die der Prophet in das allgemeine Gespräch dazwischen warf.

»Pereat Gott!« bramarbasirte der burschikose Bruder des Großen, indem er auf den Tisch schlug, tiefsinnig in sein Seidel starrte und es dann zur Hälfte leerte.

Der Prophet brach auf. Ein großer Theil der Anwesenden, der nur seinetwillen gekommen war, entfernte sich nach ihm. Horn und Wagner fanden Platz an dem einen Ende der hufeisenförmig gesetzten Tafel. An der Ecke sich gegenüber sahen sie Cesar; er trank Grog, wie gewöhnlich, ein Glas bald nach dem andern fort, ohne deshalb ein Trunkenbold zu sein, denn er wurde nicht mehr betrunken. Nur nachlässig grüßte er die beiden Freunde und schien verstimmt.

»Warum so verdrießlich?« frug ihn Horn.

»O, ich bin verzweifelt um Alles. Ich kann mit Hamlet sagen: habe keine Lust am Manne und nicht am Weibe.«

»Seid ihr um ein Weib verzweifelt? Tröstet euch! Der schöne Cesar findet für jede untreue zehn schönere.«

»Ich aber bin um alle Weiber verzweifelt.«

»Wie das? Ich traue euch zwar viel zu, aber alle –? Ihr seid zwar Cesar, doch ich bin Horn.«

»Und doch um Alle. Ich hatte für alle Weiber mir eine erkauft, und nun die eine mir untreu geworden ist, hab' ich doch alle verloren.« So sprach Cesar halb ernst, halb scherzend.

»Erkauft!« sagte der Doctor, »sic, sic! Die ist zu erkaufen für Alle, aber Alle generis masculini. War sie treulos, so zieht es ihr von der Rechnung ab.«

Ernst verstand nicht, was sie sagten, aber er schauderte vor dem Abgrund von Gemeinheit, den er ahnte. In dem Augenblicke hörte er den Namen Delphine nennen. Ein junger Mann, dem man es an der Frisur ansah, daß er ein Liszt werden wollte, war von ihrem ersten Auftreten im Concerte enthusiasmirt und sagte: »sie singt den Weltschmerz, sie singt Karl Beck.«

Ein ältlicher Professor von der classischen Schule, der dieses Local aus Neugierde einmal besuchte, sagte dagegen: »Dieses Zerren des Gefühls ins Ueberschwengliche finde ich unkünstlerisch. Es ist krankhafte Ueberspannung, ohne Objectivität, ohne Plastik. Auf der Bühne wird sie erst gar nichts taugen; sie wird diesem Uebermaß des Empfindens keine drastische Gestaltung zu geben wissen.«

»Sie ist noch zu jung, Herr Professor«, fing der werdende Liszt wieder an. »Maß und künstlerische Ruhe werden sich finden, wenn sie gelebt hat. Es muß sich Jemand ihrer annehmen und ihre Schwärmerei concentriren.«

»Sie soll bereits einen concentrischen Verehrer haben«, rief Cesar aus seiner übermüthig nachlässigen Lage mit scharfem Tone dazwischen.

»Und wen?« Man rieth hin und her; man konnte auf Niemand denken.

Der junge Mann à la Liszt, dem Cesar unvermerkt ins Ohr geflüstert, sagte: »Eine alte Geschichte! und das wißt ihr nicht? Er ist unter uns.«

»Wer denn? Wer denn?« frugen Alle und Horn mit dazwischen.

»Ja, lieber Doctor«, sagte der Vorige, »ich kann es Ihnen nicht sagen, denn ich darf Sie doch nicht verrathen.«

»Der Horn?« lachte Alles. »Richtig! der ist's, der ihr die übertriebene Recension geschrieben hat.«

Horn suchte vergeblich seine Verlegenheit zu verbergen; um sie los zu werden, rief er aus: »Meine Herren, Sie wissen, was Sie mir schuldig sind! Ich bin Ehemann.«

Schallendes Gelächter – und Horn hatte den Scherz durch einen größeren überboten. Er war trotzdem doch nicht ohne Verdruß, und um ihn sich nicht ansehen zu lassen, mischte er sich in das Gespräch, das sich jetzt über das heute aufgeführte Stück entspann. Man stritt sich über die Idee der Tragödie und die Unwahrscheinlichkeiten in der Fabel. Cesar, für den die philosophischen Constructionen Shakespeares nicht viel Interesse hatten, rief ungeduldig dazwischen: »Faßt das Stück von der politischen Seite und ihr werdet sehen, was daran ist. Mir gefällt es, weil ein König darin erstochen wird.«

Wieder schallendes Gelächter. Horn sah sich im Zimmer um und lachte dann mit. In politischen und theologischen Discussionen hatte er seiner Amtsstellung wegen nicht den Muth mitzureden; so nahm er die Gelegenheit wahr, hier an einem schöngeistigen Stoffe seinen Collegen Kritikern zu zeigen, wie geistreich er sei und wie weit über alle Andern hinaus. Er setzte sich in Positur, indem er sich räusperte und die Brille noch öfter mit einem raschen Griff zurechtrückte, als er es sonst zu thun pflegte; seinen Bewegungen sah man die Anstrengung an, die er machte, um geistreich zu sein. Mit seiner quäkenden Stimme, indem bei der Lebhaftigkeit des Sprechens ihm die weißen Pünktchen aus dem Munde spritzten, trug er mit pedantischem Ernste seine Meinung vor: »Der Hamlet ist die Tragödie der Narrheit. All die Menschen darin sind Narren und Thoren, Narren der Verhältnisse und ihrer Leidenschaften. Sie sind aber alle blind und kennen ihre eigene Narrheit nicht. Nur Hamlet, der Denker, der Philosoph, erkennt diese allgemeine Narrheit und will kein Narr sein. Er denkt und denkt, will besser und gescheiter sein als alle die Andern, will nur handeln aus Gründen der Vernunft, und – was wird er anders, als wieder ein Narr? Von dem Gedanken, kein Narr sein zu wollen, läßt er sich zum Narren haben. Der Narr seines Denkens! weiß er doch nicht, daß der Mensch kein Gott sein kann, und, wenn er kein Narr sein will, entweder ein Teufel, oder – ein Toller sein muß. Freund Hamlet nimmt wirklich den besten Anlauf, ein Teufel zu sein, aber – der Narr! er hat keine Courage dazu. Er bereut seinen Teufel und denkt und denkt immer wieder, bis er richtig toll wird. Aber da haben den armen Teufel die andern Narren zum Narren und treiben es soweit, daß es ihm ans Leben geht. Wie das der Denker Hamlet merkt und er den Tod schon in den Adern fühlt, da wird ihm der Spaß denn doch zu toll. Er läßt all sein tiefes Denken und seine bedenkliche Frömmigkeit fahren und sticht den König todt, nicht als Rächer seines Vaters, nein! seines eigenen Lebens, ein gewöhnlicher Mörder, ein ganz gemeiner Narr, – Narr seiner Wuth und Rachsucht. Und so ist er der ärgste Narr von Allen. Die Andern sind simple Narren und wissen nicht anders zu sein, er wird Narr in der zweiten Potenz.«

»Bravo! Bravo!« rief man dem Sprecher Beifall zu. Dieser setzte sich wieder neben seinen Freund, als sei der Disput jetzt von ihm zum Abschluß gebracht. Triumphirend blickte er aus seinen kleinen, zugekniffenen Augen um sich; die ganze Eitelkeit des charakterlosen Schöngeistes malte sich in dem Lächeln um seine welken Lippen. Er fuhr fort geistreich zu sein und sagte: »Und die Moral von der Geschichte ist: die menschliche Weisheit besteht darin, Thor zu sein mit Bewußtsein, und die größte Thorheit der Welt ist das Bewußtsein, kein Thor sein zu wollen.«

Die Gesellschaft ging jetzt von der allgemeinen Unterhaltung ab und sonderte sich in Gruppen. Eine Emancipirte, mit dem Beinamen eines französischen Revolutionspolitikers – ein, trotz der Verlebtheit, lüsternes brünettes Köpfchen mit coketter, toupirter Frisur – legte Bank; man spielte Pharao um Dreier; vier Groschen war der höchste Einsatz. Ernst gegenüber, an dem anderen Ende des Tisches machte Cesar sich galant bei einer noch jugendlichen Zerrissenheitsdichterin, die sich vor den andern anwesenden Damen durch Schönheit und Eleganz auszeichnete. Der junge Theologe war in dem Anblick dieser genialen, interessanten Frau versunken. Sie saß so, daß er unbeachtet die schlanke Ueppigkeit ihres Wuchses bewundern konnte, die blassen Züge, deren Angegriffenheit sie durch den Ausdruck des Schmachtens nur liebreizender machte, und das dunkelbraune Auge, das innere Feuer verrathend, welches die Frische dieser Wangen verglüht haben mochte. Ernst mußte Cesar um den Platz an ihrer Seite beneiden, und noch mehr um die muskulöse Sicherheit und die legère Tournure, mit der er sich ihr gegenüber aufstützte und bewegte. Er sah, wie ihr Gespräch lebhafter und lebhafter wurde; Cesar ließ sein interessantes Lächeln und dabei seine weißen Zähne sehen und sah ihr tief in das Auge mit dem stechenden, auf seine Schönheit vertrauenden Blicke; und wie erwiderte sie diesen Blick, wie beugte sie sich näher und näher zu ihm hinüber, und hatte plötzlich, ohne daß es Jemand außer Ernst bemerkte, einen Kuß auf seine Stirn gestreift! – Ernst dachte, daß er noch nie von einem schönen Weibe – das blonde Aennchen hielt er nicht für schön – geküßt worden sei. Er, der große, freie Geist, der über die ganze Welt hinaus zu sein meinte, hatte noch die Liebe nicht kennen gelernt! Wie viel hatten diese Lebemänner vor ihm voraus, – die Kenntniß der Welt und die Eroberung aller ihrer Genüsse! In seinem Gefühle trostloser Einsamkeit drängte ihn heftig das Bedürfniß nach Erkenntniß. Wenn er es auch nicht lieben konnte, er wollte dieses Leben wenigstens kennen lernen. Das Bild Delphinens trat ihm vor die Augen – noch leidender, noch geistvoller und erhabener als diese Dichterin. War es ihm denn nicht möglich, mit ihr sich zu unterhalten, wie Cesar mit dieser, Geist um Geist, Neigung um Neigung auszutauschen, durch Kuß um Kuß sein rein seelisches Verlangen zu erfüllen?

»Denkst du über meine Moral nach, alter Junge?« so weckte Horn ihn aus seiner Versunkenheit.

»Ja, wahrhaftig!« sagte Ernst, sich rasch zur Heiterkeit aufraffend. »Und sag mir, ist es nicht eine Thorheit, Champagner zu trinken, wenn man kaum Rheinwein bezahlen kann?«

Die Gesellschaft um die Zerrissenen trank Champagner; ihr damaliger »Freund«, auch Zerrissenheitsdichter, hatte eben das Honorar für ein Heft starkgeistiger Liebesgedichte erhalten, und ließ im Jubel darüber heute etwas drauf gehen; Cesar mußte auch herhalten. Horn, dem das Bier zu ordinair und der Grog zu stark war, sodaß er ihn beim Trinken wie aus Versehen zur Erde goß, war durch den Anblick seines ästhetischen Lieblingsgetränkes lüstern darauf geworden und beschloß, seinen Freund »anzuzapfen.« Denn wäre es auch schicklich gewesen, daß er den Gast ponirte, was kümmerte ihn Schicklichkeit und Anstand! »Bei Gott!« sagte er, eine liebenswürdige Thorheit wäre das, und du sollst sie blos aus Princip meiner Philosophie zu Ehren gleich begehen. – Kellner, Champagner!«

Ernst hatte noch nie Champagner getrunken; als er den theuren Trank einschenkte, mußte er sich sagen: »Ich bin leichtsinnig. Wenn mein Onkel mir keine Verzeihung und keine Stelle verschafft, – was soll daraus werden?«

»Ein dummer Streich, höchstens!« sagte Horn mit gemüthlichem Humor, indem er sich bemühte, seinen spendirenden Freund zu erheitern. »Und was ist da weiter? Kann der Mensch etwas Besseres thun, als dumme Streiche machen? Sieh nur, ich besitze schon lange keinen rothen Heller mehr und existire doch immer noch ganz menschlich, mache feine Toilette und trinke ein gutes Glas Wein. Wie kann sich ein großer Geist um die Lappalien von Schulden bekümmern! Paff, das Gold ist nur Chimaire! Setz dich darüber hinweg, und die Schranke ist für dich nicht da. Ja, wenn der liebe Gott selbst zu mir käme, und mir sagte: lieber Doctor, Sie thun mir leid, ich will mich Ihrer erbarmen und Ihre Schuld bezahlen, aber machen Sie mir keine dummen Streiche mehr – bei Gott, ich müßte ihm antworten: lieber Herr Gott, Sie sind sehr gütig. Aber – du lieber Gott, du hast nun einmal den Menschen und die Zeit geschaffen, die sich gegenseitig vertreiben wollen. Wenn ich durch meine dummen Streiche mir nicht mehr die Zeit vertreiben darf, dann wird sie mich mit ihrer fürchterlichen Tochter, der Langenweile, vertreiben von dieser deiner schönen Erde. Darum – bezahle meine Schulden, aber laß mir meine dummen Streiche! Amen!«

»Du unverbesserlicher Gottesleugner«, sagte Ernst.

»Ich danke für deine freundliche Zustimmung«, antwortete jener, leerte sein Glas und fuhr fort. »Seelensjunge, ehe ich vergesse, es dir zu sagen, ich bin heute wieder einmal ganz Seele! Champagner trinken, gratis, und – mit dir, Freund meiner Seele, da könnte es meine Frau selbst mir nicht übelnehmen, wenn ich einmal ausgelassen werde. Und du – du scheinst ja heute auch endlich aufzuthauen! Nur gießen mußt, dein Herz begießen, dann wird's schon werden. Sieh, mit den ersten Gläsern senkt sich, wie mit einem warmen Mairegen, der Frühling in das Herz, und mit dem Frühling das Frühlingssehnen und Fühlen, ein Lebendigwerden, ein Keimen und Sprossen, und damit kommen die ersten Frühlingsblumen zum Vorschein. Dann aber darf man noch nicht aufhören, sondern muß immer gießen und gießen, – so mit Maß, wie ich jetzt, und dann kommen immer schönere und vollere Blumen, und die wollen auch noch begossen werden: und ein tüchtiger Gärtner weiß immer, wo es was zu gießen gibt.« –

»Ich fürchte nur, wenn er zu viel gießt, er möchte nichts ziehen, als Sumpfpflanzen!« sagte Ernst.

»Willst du moralisiren? O! pfui, schäme dich, noch so jung und schon moralisch!«

»Nun, ich will's gut machen, und dir zeigen, wie ich die Blumen liebe. Ich merke, daß mir im Herzen Rosen zu erblühen anfangen. Da muß ich wol gießen, nicht wahr?« –

»Ei, allerdings mit Macht, aber aus einem vollen Eimer und dieser hier ist leer«, sagte Louis und ließ eine neue Flasche bringen.

»Scherz bei Seite, Louis, ich spüre Lust, mich zu verlieben.«

»Bravo, alter Junge, Bravo! Du kommst dahinter, was Spaß macht«, kicherte der Doctor mit zugekniffenen Augen.

»Louis, du weißt, mit welchen Gefühlen ich hierher gekommen bin, und du kannst dir denken, mit welchen ich von hier scheiden werde. Wenn ich die Stadt im Rücken habe – wenn's noch so gut geht, wie ich nur wünschen kann – dann gehöre ich mir nicht mehr selbst, in Ehe und Amt ist mein Leben gefesselt. Immer habe ich nur gewissenhaft weiter gestrebt, nie habe ich empfunden, was es heißt: leben. Nein! eh mein Leben zu Ende geht, will ich doch einmal leben! und was ist das Leben, am Höchsten und Tiefsten empfunden, als die Liebe? Die Gegenwart, der Augenblick ist noch mein. Die wenigen Stunden, die ich noch habe, laß mich leben, laß mich lieben!«

Ernst sprach diese Worte mit einer leidenschaftlichen Aufregung, wie sie ihm sonst ganz fremd war. Er schwenkte das volle Champagnerglas in die Luft, ohne daran zu denken, wie er den kostbaren Trank vergeudete. Nachdem er ausgeredet stürzte er sein Glas hinunter, und da es halb leer gegossen war, schenkte er gleich wieder ein.

»Aha! Weiß schon! Ein guter Gedanke das! So in acht Tagen dies ganze lumpige Leben durchgemacht, den Don-Juanismus bis auf die Neige durchgekostet – in acht Tagen und dann das ganze Leben nur der Katzenjammer darauf! Du weißt dann doch, warum du laborirst. Beim Teufel, Junge, ein genialer Gedanke! Top, ich bin dein Mephisto! Schlag ein, mein Faust!«

»Top!« rief Ernst in tollem Humor einschlagend, »du hast meine Seele und mein Geld, nun schaff mir ein Feinslieblichen, mein Mephisto!«

»Schreib du selbst den Steckbrief, wie du sie verlangst. Blond oder brünett, die Augen blau, braun, schwarz, grün – kurz verlange nur, schildere nur dein geträumtes Ideal, und du sollst sehen, ich liefere dir Alles – für viel Geld und wenig gute Worte. Und wenn sich gar nichts sollte finden lassen, so setzen wir's in die Zeitung –.«

»Es braucht keiner Zeitung. Du wirst sie selber finden. Sie hat volle, schwarze Flechten, sie hat dunkle, große, schöne Augen, so tief, wie ihre empfindungsreiche Seele sein muß, die sie in ihrem Gesange ausdrückt mit so reichem und so verschwenderischem Gefühle, daß die Leute sie nicht verstehen können; sie – mit einem Worte, du hast sie ja doch schon erkannt, es ist Delphine!« –

»Narr!« sagte Louis, plötzlich verändert, mit ernster Zurückweisung, wie man sie bei seiner leichten Denkungsart nicht hätte erwarten sollen.

»Ich hoffe, daß du mir damit nur deine Beistimmung sagst, denn ein Narr –« lachte Ernst.

»Ja – Narr!« wiederholte Louis in heftigem Aerger. »Ich sage dir, du bist ein Narr! Mach dumme Streiche, aber nicht schlechte Streiche. Und ein schlechter Streich ist es, wenn man verlobt ist, einem ehrlichen Mädchen von siebzehn Jahren den Kopf verdrehen wollen.«

»Ich denke, sie ist eine Cokette, und da wollte ich mit ihr cokettiren, und wenn sie Geist und Gemüth hat, mit Geist und Gemüth cokettiren. Weiter Nichts!«

»Ich habe dir aber schon gesagt, du kannst nicht in ihr Haus kommen!«

»Wenn in ihr Herz, in ihr Haus gewiß.«

»Es ist auch an die ganze Sache gar nicht zu denken. Weder wird es ihr einfallen, sich mit dir einzulassen, noch wird die alte Tante dich über die Schwelle kommen lassen.« So zankte Horn, mit den Füßen stampfend, wie ein eigensinniges Kind.

»Bei meiner Seele, wenn ich nicht deine Grundsätze kennte, ich müßte glauben, daß du selbst verliebt und eifersüchtig bist.«

»Nein, nein«, sagte Louis sich fassend, »mich geht das Mädchen gar nichts an.«

»Louis, auf Ehre?«

»Auf Ehre! Mich geht das Mädchen gar nichts an.«

»Nun, dann kann ich dir sagen: wir beide sind mit einander einig.«

»Wir? welche wir beide?« sagte Horn, sichtlich nicht wissend, ob er erschrecken oder den Freund auslachen sollte; er sammelte sich und versuchte das Letztere.

»Wir beide, sie und ich, Delphine und Ernst, die beiden einzigen, die die Sache etwas angeht.«

»Was der Mensch sich einbildet! Nun gut! Bist du so rasch so weit mit ihr gekommen, brauchst du nicht mich, um noch heute Abend zu Allem zu kommen.«

»Aber Herzensfreund, so laß doch mir dir reden«, sagte Ernst und erzählte ihm, wie er ihre Aufmerksamkeit im Theater auf sich gezogen und wie sie ihm ihr Wohlgefallen so deutlich durch ihre vielsagenden Blicke zu erkennen gegeben habe. »Und jetzt«, schloß er, »wo ich weiß, daß sie mich als deinen Freund, als einen würdigen Mann ansehen mußte, ist mir's klar, daß es mehr als Coketterie war, was sie aus ihrer Seele mir in die meine drängte. Sprich mir nicht mehr dazwischen, bei unserer Freundschaft. Sie liebt mich und ich liebe sie. Wir müssen uns kennen lernen.«

Horn erblaßte ein wenig, als er das hörte; mit scharfem, giftigem Blicke beobachtete er Ernst, der sich unbesorgt seiner aufwallenden Empfindung hingab. Dann sagte er in einem Tone von Sarkasmus, so eisig kalt, wie Ernst es noch nicht von ihm gehört hatte: »Du liebst? Sentimentaler Gimpel, romantischer Pinsel du! Lieben? Nun ja, liebe! aber doch deines, und nicht ihres Spaßes wegen! Stelle dich auf einen vernünftigen Standpunkt und bedenke, bei ihr kommst du zu nichts, und kannst viele und schönere Weiber haben und bequemer!«

»Zu was denn kommen!« sagte Ernst mit Indignation. »Gerade weil sie ein reines, edles Mädchen ist, liebe ich sie, – liebe sie, wie starke Geister sich über den Schranken der Gesellschaft begegnen.«

Horn lachte laut und hämisch auf. »Junge, du bist krank. Laß dir Thee kochen!«

»Nun wohl! so will ich krank sein!«

»Immerhin! warum nicht auch krank sein, wenn es Einem Spaß macht? Nur nicht so! Solche Liebesbesessenheit ist eine Kinderkrankheit, die man einmal überstanden haben muß. Aber in deinen Jahren mußt du dich dessen schämen. Mach dich nicht lächerlich! Und – in allem Ernste, Ernst, hüte dich: bei alten Leuten sind die Kinderkrankheiten gefährlich. Du hast ein unbefangenes Gemüth, und diese Delphine ist falsch, falsch wie eine Schlange. Sie könnte grausam mit dir spielen. Bei meiner Freundschaft, um deinetwillen schlag dir das Mädchen aus dem Sinn.« So redete Horn im Tone des freundschaftlichsten Rathgebers ihm zu.

»Falsch? Du gibst zu, da wir des Handels nicht einig werden. Erst cokett, jetzt falsch. Nun, ich will mich auch aufs Handeln verstehen. Biete weiter, noch zieht es nicht, nur zu!«

»Wenn du nicht auf mich hören willst«, sagte Horn mit heftigem Verdruß, »so geh und führ die Sache selber durch! Mich geht's gar nichts an.«

»Louis, du hast dich verrathen. Du bist selbst in sie verliebt und eifersüchtig auf mich. Ich kann nichts anderes mehr von dir denken, und nur das Eine noch kann ich dir sagen, daß es noch weniger klug als ehrlich von dir war, die Sache bei mir so anzufangen. Ein einziges, offenes Wort, und ich hätte den Freund nicht getäuscht, wie du es jetzt mit mir thun willst. Aber – auch gut! Ich nehme das Spiel auf. Ich werde schon sehen, wie ich selbst zu ihr komme, und ob ich nicht auch einmal Lebemann sein kann.«

Der Doctor starrte einen Augenblick finsteren Nachsinnens überlegend in das Gaslicht. Dann wandte er sich schnell entschlossen zu dem Andern: »Nun Ernst, du hast Recht, ich habe dich belogen. Aber du brauchst nur Alles zu wissen, um mir zu sagen, daß ich doch Recht hatte. Höre und entscheide selbst und du wirst es dann treffen, ohne daß ich dir rathe. Aber du versprichst mir Schweigen bei deiner Ehre!« Louis' Blicke sahen unheimlich scheu um sich; er sprach leise mit verbissenem Tone.

Ernst, erstaunt, was er Neues und Wichtiges vernehmen würde, reichte ihm treuherzig die Hand. »Auf Ehre, ich schweige.«

»Nun denn! Delphine ist – ja, wie soll ich es mild sagen? – zum wenigsten eine Mai tresse! Wirkt das?« sprach er nach einigem Zaudern mit Hohn.

»Was ist sie?« fuhr Ernst mit einer Heftigkeit auf, die seinem Freunde zeigte, wie fest sein Gemüth sich schon an das Mädchen gehangen hatte. All die Gesinnungslosigkeit und Frivolität, die ihm bis jetzt in dieser neuen Welt begegnet war, hatte er als »Consequenz« und »nothwendige Entwickelungsphase« ruhig hingenommen, ohne einen Einwand oder Vorwurf dagegen aussprechen zu können. Bei der Entdeckung dieser neuen Verderbtheit aber empörte sich sein besseres Wesen. Entweder war es nicht wahr, oder – er mußte verzweifeln an diesen Menschen.

»Ich sag dir ja, sie ist eine Maitresse«, sagte Horn mit trockener, hämischer Ruhe. »Kennst du das Wort nicht? O, das Wort wol, aber nicht die Weiber, unschuldiger Knabe!«

»Louis, Louis, das ist wieder nicht wahr! Ich habe dir Schweigen versprochen, damit ich den Betrug nie entdecke; du hast mir nicht gleiche Wahrheit gelobt. Und wenn du sie mir zehn mal gelobst, deinem heiligsten Worte kann man ja doch nie und nimmer trauen.«

»Bei Allem, was mir nicht heilig ist, da hast du recht. Alter, du bist doch nicht so dumm, wie du aussiehst. Der Aufenthalt in Berlin thut dir gut, du fängst an zu lernen. Aber, zum Teufel, wenn du mir gar nicht glauben kannst, woran du recht thust, wie soll ich es dir denn beweisen?« So sagte Horn und brach dann in helles Gelächter aus. Der Zug von Ironie, der ihn nie verließ, machte Ernst glauben, er lache ihn aus und er frug empfindlich, was er habe. Nur schwer konnte Horn sich sammeln und die Worte hervorbringen: »Ich weiß, wie ich es dir beweisen werde. Ich werde dich von deiner Kinderkrankheit curiren – dir die Pocken einimpfen.« Und wiederum platzte er mit Lachen los.

Verdrossen frug Ernst ihn noch einmal. Horn stand zur Antwort auf, nahm seinen Hut und sagte: »Komm! du willst nicht hören, so sollst du – fühlen! Du sollst noch heute das so erhaben geträumte Ziel deiner Seelenwünsche erreicht haben; du sollst die idealisch blasse Delphine und ihre Tugend mit deinen mehr als fünf Sinnen wahrnehmen, um mir zu sagen, ob du glaubst und von deiner Kinderkrankheit curirt bist. Allons!«

Ernst zauderte: »Was soll das heißen?« aber Horn nahm ihn beim Arme und zog ihn fort. Als Ernst aufstand, merkte er erst, in welchen Rausch der Wein ihn versetzt hatte. Die Gesellschaft um sich hatte er fast vergessen und sah sie nun in ganz anderer Physiognomie wieder. Dichter Cigarrendampf erfüllte das Zimmer; das Gespräch in lauter Aufregung geführt, umschwirrte ihn wirr. Der schöne Cesar sang:

»Allons enfants de la patrie!«

der »werdende Liszt« trillerte:

»Ich hab mein Sach auf Nichts gestellt«,

und der Zerrissenheitsdichter declamirte mit seiner hohlen Stimme, so pathetisch wie seine Verse:

»Brause, Gott, mit Sturmesodem
Durch die fürchterliche Stille,
Gib ein Trauerspiel der Freiheit
Statt der Sklaverei Idylle!«

Seine vielgeliebte Freundin war durch seine Gegenwart genirt, den Galanterien des Franzosen sich hinzugeben; sie war – mochte es Berauschung oder Weltschmerz sein – in düsteres Brüten versunken und, ihren Reiz für Ernst vermehrend, hatte eine gedankenvolle Falte sich auf ihrer Stirn gelagert; ihre Blicke, so reich strahlend, wie die Sonne, wenn sie Wasser zieht, hingen an den finstern, geistvollen Zügen Ernst's. Sein Blick begegnete im Fortgehen den ihren; trotz ihrer Melancholie hatte sie Stimmung zur Coketterie genug, um ihn zu erwidern und durch den Reiz ihres phantastisch genialen Wesens in Ernst ein unnennbares Sehnen nach dem Besitze solcher Schönheit zu erwecken, indem er eine unendlich süße Lösung aller Schmerzen und Entbehrungen ahnte.

Im Vorzimmer trafen sie noch einen spätkommenden Gast. »Schon so früh fort?« frug er den Doctor. »Wol noch Geschäfte bei Fräulein Hm Hm?«

»Heut nicht. Ich will meine Recension schreiben.«

Als Ernst hinaustrat in die Dämmerung der lauen, wollüstigen Sommernacht, wie stark fühlte er da seine Natur, wie reich an Sehnsucht und Liebe sein Herz, das er in das Leben des Lebens hinübertragen wollte! Schon hatte er so sicher gehofft, in dem Umgange mit der idealisch gedachten Delphine all diese Ahnungen von hohem, reinem Glücke erfüllt zu sehen, und nun wieder diese Enttäuschung! Nirgends fand er einen Anklang auf die Stimmungen seines Gemüthes, nirgends eine Erfüllung für die Bedürfnisse seines Geistes. So arm war das Leben, wo es rein, und so schmutzig, wo es genial war. O, diese elende, verworfene Welt! Und doch – er hatte ja kein Recht mehr, diese Welt elend zu nennen und gegen ihre Verworfenheit sich anzustemmen. Er selbst hatte den Geist verrathen, war eben so elend. Ein namenloser Schmerz um sein ganzes verlorenes Leben preßte sein Herz zusammen; er war zum Sterben unglücklich. Die Betäubung, in welcher der Wein ihn verwirrte, war ihm erlösende Wonne; er freute sich, recht absichtlich ihrem Taumel sich hingeben und halb bewußtlos am Arme des Freundes sich halten zu müssen.

»Hopp, hopp! nur nicht zu früh gefallen! Delphinchen, so scheint es, wird heut einen schweren Schatz zu heben haben.« So kicherte Horn, als Ernst bei einer Ecke stolperte.

»Aber sag mir nur, Louis, wie soll ich das Alles verstehen?«

»Du sollst es so verstehen, daß du nicht zweifeln kannst. Delphine ist, was ich dir sagte und ihr Auserwählter ist –«

»– Bist du?«

»Nein! So glücklich oder so reich bin ich nicht. Cesar ists!«

»Cesar?«

»Cesar! Und sie ist die Donna, von der du heute schon sprechen hörtest, sodaß du roth wurdest. Ich bin ihr beiderseitiger Freund und als der gehe ich hin.«

»Und ich?«

»Und du? – du gehst als Cesar.«

»Als Cesar?«

»Als Cesar! Sie soll dich für Cesar – nicht ansehen, aber – halten! Ich werde für Dunkelheit sorgen. Mann ist Mann, und im Rausch des Entzückens hält sie dich für –«

»Aber Louis!« unterbrach ihn Ernst und faßte ihn beim Arme, indem er ihn starr ansah, um sich zu überzeugen, ob es wirklich sein Freund Louis Horn sei, der so zu ihm gesprochen. Das Erlebte kam ihm so abenteuerlich und Horn's ruhige Hinterlistigkeit so gespenstig vor, daß er sich des Gedankens nicht erwehren konnte, vom leibhaftigen Mephisto entführt zu werden. »Bist du der Teufel selbst?« rief er entsetzt aus, »das heißt ja, satanische Komödie spielen!«

»Nun? und was weiter?« sprach Louis mit dünner, pfiffiger Stimme. »Der selige Herr Teufel hat wol manchmal solch Stückchen gespielt und wir machens ihm nach, weils uns Spaß macht. Die Gewissensscrupel, frommer Sohn, nehme ich alle auf mich. Du sollst nur der Verführte sein. Aber hüte dich vor Cesar, und deshalb schweige! Das mußt du mir auf dein heiliges, romantisch-heiliges Ehrenwort versprechen, daß du schweigen willst, und dich um das Weib nicht mehr kümmerst. Das ist der einzige Dank, den ich von dir um deiner heilen Haut willen fordere für dieses Götterabenteuer. Gott! ein famoser Spaß! Du sanfter Theologe – heute der frechste Don Juan!«

So lachte Horn wieder laut auf und riß den finstern Freund in seinen tollen Humor fast mit hinein. »Ich weiß wahrhaftig nicht«, sagte dieser, »soll ich mit dir lachen oder fluchen und davongehn?«

»He, He! lache! Jedenfalls lache!« sagte Horn, erfreut ihn auf die Intrigue eingehen zu sehen, mit gemüthlichem Humor; »sieh nur, fluchen oder lachen, was wir thun mögen, Narren sind wir doch und die Welt wird nicht anders. Fluchen wir, so sind wir lästige Narren; lachen wir, so sind wir liebenswürdige und haben die ganze Welt in der Tasche. Drum lache, Freundchen, lache! Die Welt ist so unendlich lächerlich. Du hast gerade die beste Gelegenheit, ein Stück von dieser Welt kennen zu lernen und von der Liebe, d. i. von einer Kinderkrankheit durch eine pikante Komödie curirt zu werden.«

Horn hatte seinen Begleiter am Königsschloß vorbei, über die Kurfürstenbrücke und dann durch die stillen Straßen hin- und hergeführt, ohne daß dieser bemerkte, wie sie verschiedene, unnöthige Umwege machten. Da blieb Horn auf einer breiten Straße vor einem stattlichen Hause stehen und zog die Klingel. Ernst wurde von einem lähmenden Schreck getroffen. Jetzt mußte er einen Entschluß fassen. Wohin sollte er fliehen vor dem lockenden Reize des Abenteuers? – aus der wohlthuenden Erschütterung, in die ihn die Bewegung des Lebens versetzt hatte, in die Oede des Daseins ohne Willen für und gegen irgend Etwas? Und wenn er untergegangen wäre in dieser wüsten Welt, was verlor er, der keinen Besitz an sich und keine Liebe zu sich hatte? Der übermüthige Leichtsinn seines Mephistopheles übte einen dämonischen Zauber auf ihn aus. Sein ganzes Leben hatte ihm sein Denken schwer gemacht; er meinte das Recht zu haben, sich auch einmal ganz gehen zu lassen.

»Nur schweigen und – du kümmerst dich um das Weib nicht mehr!« Man hörte die Treppe hinuntersteigen; es wurde aufgemacht. Mephisto Horn zog seinen taumelnden Faust in das Haus hinein, sagte ihm noch: »Siehst du, so kommt alle Liebe auf den Spaß hinaus!« und – bekam für heute Recht.

*


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