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Drittes Capitel.

Eine bejahrte Frau und ein junges Mädchen, dem Aeußeren nach dem niederen Bürgerstande angehörend, gingen gleichzeitig neben einander durch die Straßen Berlins. Die Alte sah verdrießlich nachdenkend vor sich hin; ihre jugendliche Begleiterin warf häufig ängstlich aufmerksame Blicke hinter sich nach einer eleganten Equipage, die ihnen, wie zufällig, langsam fahrend um wenige Schritte folgte. Der Wagen war ein Tilbüry, dessen Schlag bis nahe auf die Erde reichte, sodaß man fast auf gleichem Boden mit einem Schritte hineinsteigt. Die großen Spiegelscheiben waren von so glänzend polirtem und starkem Glase, daß die Vorübergehenden in das Innere des Wagens keinen Blick thun und nicht wahrnehmen konnten, wie ein Herr darin den Schlag unverschlossen mit eigener Hand anzog und mit spähenden Blicken das junge Mädchen und die Lage der Straßen verfolgte.

Die beiden Fußgängerinnen waren Madame Schulze und ihre Nichte, der Herr in dem Tilbüry war Graf Cesar. Madame Schulze war mit ihrer Nichte, auf deren ausdrückliches Verlangen, bei der Dame gewesen, die ihr die Condition verschafft hatte, um sich dafür zu bedanken. Die gute Tante, bei ihrer Taubheit von dem Lärm auf der Straße nicht gestört, war ganz in die Bewunderung ihrer eigenen Strenge versunken und that sich eben recht etwas darauf zu Gute, ihre Erziehungsgrundsätze in den letzten drei Tagen durchgesetzt und dadurch die Nichte doch noch zu etwas gebracht zu haben, – als an der zweiten Ecke einer Querstraße, die sie eben überschritten hatten, das Mädchen mit der vollendeten Erziehung plötzlich stehen blieb, die nachdenkende Tante geradeaus weiter gehen ließ und der nachfolgenden Equipage zuwinkte, die plötzlich in rasche Bewegung gesetzt, in die Querstraße einlenkte und binnen wenigen Secunden mit dem jungen Mädchen in schnellstem Carrière davonflog.

Die Tante, die im festen Glauben an ihre Erziehungsresultate ihren Schritt gleichmäßig vor sich gegangen war, wunderte sich, zu Hause angekommen, nicht wenig, allein angekommen zu sein.

Delphinens Ansehen war verstört, als der Graf sie in seiner Voiture empfing; auf der Stirn lagerte sich ihr böser Zug; aus den irren Blicken sprach der Kopfschmerz, der ihren Geist betäubte. Als Cesar ihr einige geistreiche Verbindlichkeiten sagte, merkte er entsetzt aus ihren zusammenhangslosen Antworten, daß sie gar nicht auf ihn hörte. Nach einigen verwirrten Worten sammelte sie sich endlich und frug ihn, wo er sie hinführe.

»Ich wüßte nicht, liebe Freundin, wohin Sie vor der Befreiung Ihres näher stehenden Freundes sich flüchten wollten, als zu mir. Ich habe in meinem Hotel bereits Zimmer für Sie eingerichtet.« So erwiderte Cesar.

Sie sah ihn an, ohne ein Wort zu sprechen, ohne Verlegenheit oder irgend eine Bewegung zu verrathen und schüttelte nur leise mit dem Kopfe.

Der galante Graf wußte, wie er diesen Widerstand zu brechen habe. Er stellte sich verletzt und frug: »Sie fürchten sich vor mir? Sie haben so wenig Vertrauen zu mir? O, Delphine, habe ich mich in Ihnen getäuscht, oder kennen Sie mich nicht? Ich dächte, auf der Höhe, auf der wir neben einander stehen, achtet man sich so, daß man sich nicht fürchtet; da ist jeder in seiner Freiheit anerkannt, da fällt die lächerliche Schranke, durch welche für die ordinären Menschen die Etikette die Geschlechter trennt; da ist das Weib geachtet wie der Mann, denn der Mann achtet sie als Weib. Oder besorgen Sie, was die Leute darüber sagen werden? Sie wissen es ja auch, daß der Ruf des Weibes nicht seine Ehre ist, ja, daß seine wahre Ehre darin besteht, dem falschen Rufe zu trotzen? Vertrauen Sie mir, große kleine Delphine, und kümmern Sie sich nie um die Gesellschaft, die zu uns nicht hinaufreicht!«

Diese Appellation an den Stolz des Genies verfehlte ihre Wirkung nicht. Delphine schien aufzuleben; der Mangel aller Empfindung, der sich in ihren Zügen abgespiegelt hatte, machte einem finsteren Trotze Platz. Mit einer entschlossenen Bewegung reichte sie ihrem Entführer die Hand und sagte mit Betonung: »So sei's, ich vertraue Ihnen, meinem Freunde.«

Cesar hatte in seiner Wohnung für seinen Gast ein Boudoir nebst Cabinet eingerichtet; die Ausstattung machte seinem Geschmacke alle Ehre. Von den vier Ecken des Zimmers war die eine von dem Kamin mit ausgeziertem Simse und da vorstehendem Schirme eingenommen, die andere von einem schwellenden Sopha der bequemsten Form – davor ein Tisch, mit verschieden geformten Sesseln umgeben –, die dritte von einem kostbaren Mahagoniflügel; vor die vierte war quer ein allerliebster Schreibtisch gesetzt, überrankt von einer Epheulaube, zwischen deren saftig grünen Blättern rothe Monatsröschen freundlich hindurchblickten. Zwischen den beiden Fenstern stand ein beweglicher Toilettenspiegel; vor ihm eine einladende Chaise. Vor den schlanken Bogenfenstern hingen mattrothe Vorhänge, die einen verklärenden Schimmer in die Stube warfen. Die Tapeten waren weißlich, mit Blumen und Leisten von Gold. Die kirschbraunen Möbelüberzüge und über diesen tiefschwarze Kupferstiche hoben sich prachtvoll dagegen ab. Durch das ganze Arrangement wußte der Graf jenen wohlthuenden Eindruck hervorzubringen, der dort herrscht, wo Bequemlichkeit mit Pracht und Geschmack sich vereinigen.

Delphine hatte noch nie so anmuthige Räume ihre Wohnung genannt. Wenn sie, Arbeit suchend oder Unterricht ertheilend, einen Blick that in die Stätten des Reichthums, die mehr als das Nothdürftige des Lebens enthalten, empfand sie eine tiefe Verachtung für diesen irdischen, geistlosen Tant und für Alle, die sich daran erfreuten. Als ihr galanter Begleiter sie jetzt in dieses Boudoir führte und es ihr als Aufenthalt überließ, konnte sie sich eines innigen Wohlbehagens nicht erwehren, jener Befriedigung, die der Geist empfindet, die äußere Umgebung mit sich harmonirend zu finden, nur von Ebenmaß und Glanz berührt, nirgends von Abstoßendem verletzt zu werden. Sie hatte bisher in ihrer Erbitterung gegen alles Herzerfreuende selbst Blumen als kindische Spielerei nicht lieben mögen; aber bei der geschmackvollen Ausschmückung des Schreibbureau durch Epheu und Rosen und bei dem natürlichen, sanften Dufte, den die letzteren durch das Zimmer verbreiteten, mußte sie die anmuthige Einfachheit wenigstens reizend finden. Zur Erfrischung ließ der Wirth ihr auf silbernem Teller die Auswahl von Eis, Limonade und Himbeerwasser vorsetzen; sie schlug Alles aus, um nicht kindlich leckerhaft zu scheinen und verlangte nur ein Glas Wasser. Aber wie köstlich war auch dieses, in krystallenem Glase, von einem Eisstückchen frisch erhalten, wenn sie es mit dem abgestandenen, unklaren Getränk ihrer Küche verglich. Der Graf bat sie, auf dem Sopha ein wenig zu ruhen. Delphine fühlte sich der Erholung bedürftig wie noch nie; und als die anschmiegende Bauschung des Kanapees sie aufnahm, mußte sie sich gestehen, daß sie die Ruhe noch nirgend so begehrlich wohlthuend empfunden habe, als hier. Es ist doch schön, reich zu sein, dachte sie, als es ihr auffiel, wie wenig ihr ärmliches Kleid von verschossenem schwarzen Merino zu dem prächtigen Sammet des Kanapees und der Eleganz ihrer ganzen Umgebung passe. Allein der galante Pole schien nichts vergessen zu haben, um das junge Mädchen aus der Sphäre ihres bisherigen Lebens wie mit einem Zauberschlage in eine ganz neue Welt zu versetzen. Ehe er Delphine sich selbst überließ, machte er sie darauf aufmerksam, daß sie durchaus ihre Kleider wechseln müsse, um sich unkenntlich zu machen und nicht durch irgend eine zufällige Entdeckung verrathen zu werden; er fügte hinzu, daß er bereits für eine Umkleidung gesorgt habe. Delphine fühlte sich ein wenig verletzt, Kleider geschenkt zu erhalten, und beschloß schon bei sich, ihren bescheidenen Anzug beizubehalten und auf keinen Fall von ihrem Grundsatze, nur Schwarz zu tragen, abgehen zu wollen, – als die Frau, die zu ihrer Bedienung bestimmt war, hereintrat und ihr ein weißes Negligée vom feinsten Mousseline entgegenhielt. Wie sie den zarten Stoff und die saubere Arbeit, den leichten Schwung der Busenfalten und die luftig herabfallenden Spitzen betrachtete, mußte sie sich sagen, weiß sei ebenso einfach als schwarz, und sie ließ sich von dieser Wolke weißen Stoffes verklärt umschließen. Als sie sich jetzt wieder in das Sopha zurücksinken ließ, fühlte sie zum ersten male das innige Wohlbehagen, über ihre Umgebung, über Gegenwart und Zukunft Freude zu empfinden. Jetzt erst lernte sie es, daß man mit Behaglichkeit in dem Augenblicke verweilen könne. Es überkam die Weltverächterin das Bewußtsein einer Prinzessin und der Wunsch, ihr Leben lang von Glanz und Anmuth umgeben zu sein. Ihr Lebensgefühl war binnen der Stunde ihrer Befreiung wieder erweckt; Freude und Muth hatten ihre Seele erkräftigt; sie dachte mit Hoffnung an die Zukunft; aber ihre Gedanken konnten bei keinem bestimmten Bilde verweilen, sondern einem Ziele nach dem andern nachgehend, aber keins ereilend, regten sie sich auf in fieberischer Ungeduld; immer hastiger durchkreisten sie die Zahl der Gegenstände, an die sie sich heften konnten; Delphine fühlte ihre Sinne von beängstigendem Schwindel ergriffen; sie vermochte nicht zu ruhen; sie suchte vergeblich in sich Halt und Stütze. Da riß sie aus ihrem Busen den Brief ihres Geliebten hervor. Sie durchflog ihn noch ein mal und sie hatte den Halt gefunden, den der Gedanke an seine göttliche Bestimmung den Menschen zu verleihen vermag. Sie fühlte, daß sie Ernst unaussprechlich liebte, daß sie zu etwas Großem bestimmt, der Freiheit und der Liebe Alles zu opfern im Stande sei.

Delphine hatte den Trieb, jede Bewegung, die durch ihr Gemüth ging, in Tönen auszusprechen. Das prächtige Instrument lockte sie; sie spielte erst stehend nur einige Töne; dann wurde sie durch den vollen Klang, der sich von ihrem verlassenen Seufzerkasten so herrlich unterschied, mehr und mehr herangezogen; sie versuchte einzelne Gänge, dann ein Lied und gab endlich ihrer Stimmung in einer Arie einen Ausdruck, in dem sie sich selbst übertroffen fühlte und eine ungeahnte Kraft künstlerischer Darstellung plötzlich gewonnen zu haben meinte.

Als sie die Arie vollendet hatte, besuchte sie Cesar in ihrem Zimmer. Er hatte, ehe er eintrat, wie ein Fremder sich anmelden lassen. Er fuhr fort mit ihr im Musiciren. Sie sangen bald abwechselnd, bald zusammen. Cesar bemerkte Delphinen sehr bald, wie ihr Gesang heute von einer wunderbaren Kraft, einem dramatischen Accente durchlebt sei, wie er immer geahnt habe, daß sie ihn erreichen müsse, und der ihren Beruf zu vollendeter Künstlerschaft unleugbar darthue. Es gibt im Leben des Künstlers Augenblicke, wo ihm plötzlich das Bewußtsein neuer Intentionen und neuer Kräfte aufgeht. Einen solchen glückseligen Augenblick erlebte Delphine an dem Tage ihrer Entführung. Mit dem frischen Lebensmuthe war ein neuer Geist der Kunst über sie gekommen. Sie that, als höre sie Cesar's exaltirte Lobeserhebungen nicht, aber in ihrer eigenen Brust fühlte sie selbst, was er sagte; sie sang weiter nur mit erhöhter Begeisterung. Cesar saß in seinem Stuhl zurückgesunken neben ihr und sah sie staunend an, deren Antlitz von dem Feuer des Geistes wunderbar verklärt war. Kein Zug mehr von jenem verstörten Wesen, mit dem er sie in seinen Wagen aufgenommen hatte! Die Augen waren geisterhaft weit geöffnet, als wolle die Seele ganz aus ihnen heraustreten; das ovale Antlitz war von zartem Roth angeglüht. Das neue weiße Gewand, dessen lose Taille von einem Gürtel geschlossen war, ließ den schlanken Wuchs, die stolze Büste in ihrem ganzen Reize hervortreten.

»Delphine«, sagte Cesar entzückt, ohne von Horn's früheren Plänen zu wissen, »Delphine, Sie müssen die Bühne betreten. Bei Gott, das ist Ihre Destination! Sie werden Grandioses leisten!«

Delphine antwortete nicht; sie sang weiter; aber helle Thränen perlten über ihre Wangen. Es waren keine Thränen der Verzweiflung, Thränen der Begeisterung; sie hatte in diesem Augenblicke den Entschluß gefaßt, vor dem sie sich bisher gefürchtet hatte mehr als vor dem Tode, weil sie ihrem Leben nicht die Kraft zutraute, ihn zu erfüllen, den Entschluß, die wahre Künstlerschaft als Ziel ihres Lebens zu erstreben.

Seltenes Mädchen, warst du mehr zu beneiden um die Triumphe und Genüsse, die auf deiner Bahn dir entgegenleuchteten, oder mehr zu bedauern um die Kämpfe und Enttäuschungen, die sie begleiten mußten?

Noch hatte sie diese Thränen der Begeisterung, mit denen sie den ersten Entschluß gewonnen, nicht getrocknet, als schon die Furcht vor der ersten Enttäuschung sie aus ihrer Entzückung schreckte. Als sie unter den Thränen, um ihre heftige Erhebung zu verleugnen, den Freund und Beschützer neben sich anlächeln wollte, wie wurde sie von dem Blicke überrascht, mit dem sein flammend stechendes Auge in ihren Anblick versunken an ihr hing. Und es wandte sich nicht ab, als er ihre Verlegenheit bemerkt haben mußte; wie durch elektrische Berührung sprühte es neue Funken, sodaß ihr unheimlich wurde vor diesem ungewöhnlichen Feuer dessen geheimnißvolle Kraft ihr schon von früher her nicht unbekannt war. Sie wandte sich zum Instrumente und sang ruhig fort, als habe sie seine Veränderung nicht gemerkt. Als er sich nicht regte, sie aber diesen Blick noch immer schwer an ihren Zügen hängen fühlte, begann sie ein gleichgültiges Gespräch; aber in dem Augenblicke, wo sie sich ihm zuwandte, sank Cesar ihr zu Füßen, ihre Hand mit glühenden Küssen bedeckend.

»Wenn Sie mir Ruhe gönnen wollten –! Ich bin sehr müde«, sagte sie mit ruhigem Tone, innerlich bebend, und erhob sich.

Der Graf achtete das Gastrecht. Mit einer Bewegung, als zürne er sich selbst, ihre Hand küssend, brach er auf.

Der junge Pole, der alle galanten Abenteuer der großen Welt in Paris und in Italien kennen gelernt hatte, mußte bei. den Thränen, die dieses deutsche Mädchen aus solcher Begeisterung geweint hatte, daran denken, daß, so viel er auch schon geliebt war, es doch noch eine Liebe gab, die ihm noch fremd war. Die Tändeleien mit Delphine hatte er angesehen als eins seiner mannigfachen Abenteuer, diesmal mit einem talentvollen Bürgermädchen, bis dieses ihm in den letzten Begegnissen durch ihren Muth bei der Entführung und durch den Aufschwung, den ihr künstlerisches Feuer und ihre körperliche Schönheit dabei gewonnen hatten, als etwas ganz Außergewöhnliches erschien, als eine deutsche Schwärmerin von einer Genialität und Innerlichkeit, wie sie ihm noch nirgends als in Romanen begegnet war. Er sah plötzlich, wie all seine bisherigen Liebesgeschichten nur Liebesgeschichten, nur Komödie mit Geist, oder Wahrheit ohne Geist gewesen waren, wie er hier zum ersten mal einem weiblichen Wesen begegnete, das echter Leidenschaft fähig, dessen Liebe wirklich Liebe sein mußte. »Sie ist das Ideal eines Weibes«, rief er in seinem Cabinet vor sich aus. Was aber mochte er darunter verstehen, das Ideal eines Weibes? Da er es nicht besitzen konnte, wollte er es wenigstens bewundern und deswegen schlich er sich in ein Cabinet, in dem sich über der Thüre ein kleines Fenster zu dem Schlafzimmer Delphinens befand, um durch dasselbe das Ideal des Weibes sich entkleiden zu sehen. Er verletzte ja damit nicht das Gastrecht noch sein Versprechen, sie zu achten wie einen Mann; nichts wollte er ihr anthun, nur sie mit Kennerblick bewundern wie eine Statue, blos um der Schönheit willen.

Der Graf ließ sich auf seiner Lauer langes Warten nicht verdrießen, und endlich bot sich der ersehnte Anblick ihm dar. Delphine trat herein in dem weißen Gewande, das Licht achtlos in der Hand haltend, gebeugten Hauptes. Den Leuchter auf den Toilettentisch setzend und die Hand darauf stützend, blieb sie in tiefes Sinnen versunken stehen, gleichend jenem Bilde der Psyche, die nachdenklich an die Welt herantritt. Träumerisch blickte ihr Auge zur Erde nieder; das Lächeln der Lippen verrieth den Inhalt ihrer Träume, jene schwellende Lebenswonne, welche die Seele durchzittert, wo in ihr selber ein neues, weites Leben ungeahnt sich erschließt, welche die Knospe empfinden muß, wenn sie zur Rose aufbricht. Delphine, die schon am Leben verzweifelte, weil sie nur mit dem Höchsten glücklich sein wollte und das Höchste zu erreichen nicht die Kraft in sich fühlte, sah nun mit einem male alle ihre überschwänglichen Lebenswünsche in Erfüllung gehen; Freiheit, Kunst und Liebe glänzten ihr entgegen; sie war hoch hinausgerissen über alle Schmerzen ihres Daseins; es war ihr undenkbar, daß es neue für sie geben könne; zu vollendeter Glückseligkeit schien ihr das Leben verklärt. Der Erhebung ihres Herzens wußte sie keinen andern Ausdruck zu geben, als daß sie die Hände faltete und betete. Zu welchem Gotte mochte sie beten?

Als ihre Müdigkeit nach diesem thatenreichsten Tage ihres Lebens sie in ihrem Sinnen mahnte, sich zur Ruhe zu legen, und sie, um die Nachttoilette zu machen, vor den Spiegel trat, der mit seinem Goldrahmen sich ihr entgegenbeugte, erschrak sie vor dem Bilde ihrer eigenen Schönheit, das das Glas ihr zuwarf. Keine Spur mehr fand sich in diesem Antlitz von der leichenhaften Ausdruckslosigkeit, die es sonst unschön gemacht hatte. Sie war noch blaß wie Marmor, aber die Blässe war schön, nicht krank; jeder ihrer Züge war sprechend, ausprägend ihre stolze Seele. Mit dem Losheften der Broche fiel das Kleid von Busen und Schultern zurück; es war ein lebendurchhauchtes Weiß, das aus dem kalten Weiß des Schnees hervorblühte. Sie löste ihre Haare, und über den Himmel ihres Antlitzes strömte herab der dichte Schleier der Nacht, durch den die matt glänzenden Sterne der Augen wie ewiges Feuer hindurchleuchteten. Die vollendete Schöpfung der Natur, geadelt durch das Gepräge des Geistes, bewunderte die junge Künstlerin sich selbst, ein lebendiges Kunstwerk. Ein Jubel über ihre eigene Schönheit bemächtigte sich ihrer Seele; ein solches Wesen mußte das Recht haben, das Höchste vom Leben zu verlangen, und die Kraft, es zu erreichen. Aus ihrer todsuchenden Verzagtheit zu diesem Triumphe emporgerissen, jauchzte sie laut auf; sie öffnete ihre Arme, das geträumte höchste Glück der Seele zu umfassen. »Gott, Gott!« rief sie mit Entzückung ihrem Spiegelbilde entgegen, – ihr eigenes Selbst war es, was sie vergötterte.

Aber nur die leere Luft konnte sie umfassen, nur ihre eigenen Hände an den Busen drücken. Sie empfand einen Schwindel vor der Höhe des Himmels, in dem ihre Seele schwebte. Das Licht auslöschend, warf sie sich auf das Bett und entschlief, träumend von Glück, Ruhm, Freiheit, Liebe.

Schwindelnd vor Angst, aus ihrem Himmel herabzustürzen, erwachte sie. Wo Leib und Seele nicht in Harmonie sind, wie viel kann da der unglückselige Schlaf niederreißen, was der wache Geist mühsam an Hoffnung und Vertrauen aufgerichtet hatte! Die träumerisch aufgeregte Empfindung, die Delphine mit solcher Glückseligkeit durchleuchtet hatte, bereitete ihr einen ruhelosen Schlaf, aus dem sie, statt gestärkt, tief ermattet erwachte. Als sie sich aufrichtete und in den Spiegel blickte, sah sie wieder das todtenhaft bleiche Gesicht, auf der Stirne den bösen, finsteren Zug. Eine hoffnungslose Verzagtheit, die nach dem Tode verlangte, ging durch ihre Seele. Es bemächtigte sich ihrer eine entsetzliche Furcht vor ihren eigenen Stimmungen, eine angstvoll hastige Sehnsucht, endlich dem Todesverlangen sich ganz zu entringen, in die volle Lust des Lebens niederzutauchen. Sie faßte einen Entschluß, um das hohe Lebensgefühl, das sie gestern überkommen war, festzuhalten, ehe es ihr von neuem entronnen wäre.

Sie verlangte von Cesar, daß er sie vor die Behörde führe, vor der sie ein Zeugniß ablegen könne, das Ernst Wagner von dem Verdachte und seiner Verhaftung befreien sollte.

Auch Graf Cesar war seit gestern Abend verändert. Seine Gesichtsfarbe war interessanter; seine Züge, sonst voll kecken Uebermuthes, erschienen melancholisch. Was dem unwiderstehlichen Don Juan lange nicht begegnet war, – der Gedanke an ein einziges Weib hatte ihn eine ganze Nacht beschäftigt und des Schlafes beraubt. Er hatte von seiner Vogelperspective herab die Schönheit seines Gastes bewundern wollen, wie der Kenner ein Kunstwerk. Aber er war zu sehr Kenner, und, eben so wenig Pedant in der Frivolität wie in der Prüderie, wußte er den Werth dieses Mädchens gar hoch zu schätzen, das keusch war und zugleich von so romanhafter Leidenschaft, unverführt noch immer und doch verführbar. Er fühlte sich am Ende seiner Jugendlichkeit und empfand jetzt Reue über die Liebe, durch die er dasselbe so rasch herbeigeführt hatte. In diesem Mädchen erst war ihm das Ideal einer Liebschaft begegnet, wie es ein romantischer Egoist sich nicht pikanter denken konnte. Der königliche Graf suchte in allen Beziehungen des Lebens das Ideal zu erreichen, und sollte er seine Jugend hinter sich lassen, ohne geliebt zu haben, wie die Poesie es vorschrieb? Er hatte das Langen dieser wonnereichen Arme und den Seufzer: »Gott, Gott!« verstanden, und die ganze Eifersucht, deren solche leidenschaftliche Naturen fähig sind, die sich kein Gewissen daraus machen, Eifersucht bei Anderen zu erregen, erfaßte ihn gegen den, der die Leere dieser Umarmung erfüllen, mit dem Reichthum ihrer Glückseligkeit überschüttet werden sollte. Trotz seiner stets schlagfertigen Diplomatie war er bei der Freundschaftspflicht, die er Ernst schuldig war, diesmal noch zu keinem Entschlusse gekommen; aber er wollte wenigstens Waffenstillstand erhalten, damit die Verhältnisse sich für ihn nicht ungünstiger gestalteten, bis er sich entschied, ob er sich in die Entsagung ergeben oder den Angriff um ihren Besitz eröffnen sollte.

So weigerte er sich, sie vor den Untersuchungsrichter zu führen, um eine Aussage für Ernst zu thun, da sie dadurch sich verrathen und ihren Ruf compromittiren könne.

»Meinen Ruf?« erwiderte Delphine, »was haben Sie mir gestern gesagt? Meinen Ruf compromittiren, soll meine Ehre sein!« Sie war in gereizter Stimmung. Cesar merkte, wenn er ihr nicht verdächtig werden wolle, müsse er einwilligen, und so fuhr er sie auf die Hausvogtei und stellte sie dem Richter vor.

Delphine war entschlossen, den Brief Horn's, in dem er Abschied vom Leben und von ihr nahm, in dem er sie beschwor, die Art seines Todes nicht zu verrathen, dennoch der Veröffentlichung preiszugeben. Ernst hatte ein gleiches Zeugniß in seinem Besitz, durch das er sich sogleich aus seiner Haft befreien konnte; aber er opferte lieber seine Freiheit, das Wiedersehen der Geliebten, als daß er den Freund verrieth, der durch den Schein, im Duell gestorben zu sein, die Glorie des Ehrenmannes sich erworben hatte, während er als Selbstmörder nur der Ruinirte, das mauvais sujet war, das Schulden halber Frau und Kind im Stich gelassen hatte. Delphine aber hatte ja »denken« gelernt; sie dachte: was ist der Ruf, die Meinung der Menge? Die Menge versteht uns nicht; kann uns etwas daran gelegen sein, was sie von uns hält? Hat Horn nicht selbst alle Ehre verhöhnt? Dem bloßen Vorurtheil und eines Anderen willen wollte sie ihr Glück nicht opfern, und legte den Brief dem Richter vor.

Das Zeugniß dieses Blattes und ihre eidlich bekräftigte Aussage mußten die baldigste Entlassung Ernst Wagner's zur Folge haben. Cesar hatte nun keine Hoffnung mehr, in seinen Angriffen siegen, also auch keine Furcht mehr, an dem Freunde und Parteigenossen eine Perfidie begehen zu können; er konnte deshalb in den wenigen Stunden, die er mit seinem schönen Schützlinge noch allein zu sein hoffen durfte, sich sorglos dem gefahrvollen Spiele hingeben, die Macht ihrer Persönlichkeit an sich und die der seinen an ihr zu prüfen.

Graf Cesar war eine von den reichen – oder armen Naturen, die Alles sein können, ohne in der That etwas zu sein. Er kannte aus der Lectüre der Romane alle Phasen des modernen Bewußtseins und hatte so viel die besten Theater der Welt besucht, daß es ihm leicht ward, jene in den mannigfaltigsten Charakteren wiederzugeben, je nachdem die Situation oder seine Zwecke es erheischten. Gegenüber Horn und Consorten hatte er den Blasirten gespielt, bei »Phindel«, der Liebschaft im dritten Stocke, den ebenso muntern als geckenhaften Bonvivant; jetzt bei Delphine, der Dame, die eine große Carrière auf der Bühne wie in der Welt vor sich hatte, mußte er einen neuen Ton anschlagen; er war der fein gebildete, geistvolle Weltmann. Als wisse er gar nichts von dem gestrigen Vorfalle am Flügel, so unterhielt er sie mit der liebenswürdigsten Lebhaftigkeit, ließ all seinen Geist sprudeln wie aus einer aufgeschüttelten Champagnerflasche, sagte ihr die zartesten Schmeicheleien, die großartigsten Aeußerungen seiner Bewunderung, und vergaß nicht, um sich selbst bedeutend zu machen, eine Ahnung seiner einflußreichen wie gefahrvollen, politischen Stellung hindurchschimmern zu lassen. Dabei beobachtete er den zurückhaltenden Ton der feinen Welt, blickte sie nicht herausfodernd an, berührte sie nicht bei der Hand, noch bei der Schulter, kurz er unterließ sorgsam jene kindliche Vertraulichkeit, die in das Mansardenzimmer, nicht in den Salon paßte; er ließ vielmehr die glatte Zurückhaltung seines Betragens gerade so weit hervortreten, daß sie ahnen mußte, wie er dadurch gegen einen Ausbruch stürmischer Empfindungen sich zu wahren nöthig habe. Bei Delphine, wie bei jeder schönen Eva, konnte nichts mehr die Neugier erregen, als das verborgene Gefühl eines Mannes sich gegenüber errathen zu wollen; ihr weiblicher Scharfsinn lag auf der Lauer bei jeder seiner Mienen, aber der Gegner war undurchschaulich; sie brauchte die Kriegslist, einzelne viel sagende und viel fragende Blicke aus den großen, schwermüthigen Augen ihm entgegen zu senden, um seine inneren Gedanken hervorzulocken; aber wieder vergeblich; er blieb consequent kalt und galant, sodaß sie schon glaubte, sich getäuscht zu haben, als sie eine »tiefe Seele« in ihm vermuthet hatte, und – darüber traurig wurde. Cesar merkte, daß jetzt der Moment sei, in seinen Angriffen eine Schwenkung zu machen. Er wurde plötzlich schweigsam. Kein Geständniß durch Worte kann eine solche Beklemmung über zwei Herzen, die sich vor einander nicht sicher fühlen, herbeiführen als wenige Augenblicke des Schweigens ohne Gegenwart eines Dritten. Delphine verstand, daß ihre Ahnung doch richtig gewesen war; so sehr sie sich betrübt fühlte, als sie sich getäuscht glaubte, so war sie jetzt beängstigt und wagte nicht das Auge zu erheben. Sie wollte die Befangenheit nicht höher steigen lassen und um sicher zu erscheinen, suchte sie das Auge auf den Freund zu richten. Erschreckt fuhr sie zurück als sie seinem unvermuthet melancholisch glühenden Blicke begegnete; aber ehe sie nöthig hatte sich zu sammeln, war Cesar auch plötzlich wieder der Andere. Er lachte auf, so laut als es einem Manne von feinem Ton erlaubt ist, über irgend ein in Mode kommendes Bonmot, das er, als sei es ihm eben zufällig in den Sinn gekommen, mit seiner eleganten Manier ihr vortrug. Er fuhr fort sie mit höflichster Auszeichnung in dem geistreichsten Tone zu unterhalten, aber sie wußte es jetzt, daß er jene »tiefe Seele« besaß und all seine äußere, weltmännische Kälte nur eine erzwungene war. Doch eben weil sie sah, wie er sich zwingen und beherrschen könne, glaubte sie sich nicht fürchten zu müssen. Vielmehr war die Spannung, in der ihr Herz sich dabei befand, für sie eine wohlthuende. Sie fühlte sich endlich, vielleicht zum ersten male in ihrem Leben befriedigt. Dieser anmuthige, luxuriöse Aufenthalt, der vornehme, feingebildete Umgang, den Cesar sie kennen lehrte, diese Beschäftigung der Lebensempfindungen, die ihr Herz hin- und herschaukelte, – sie fühlte es, das gehörte zu dem Leben, das sie sich ersehnt, das streifte nahe an die höchste Glückseligkeit, die sie geträumt hatte.

Der Graf indeß, dem der Eindruck nicht unbemerkt geblieben war, den sein Verstummen, sein Blick auf die Gegnerin gemacht hatten, unterließ nicht, dieses Scheingefecht zu wiederholen. Wenn er in seinem Hinneigen, seinen Mienen, dem Feuer seiner Rede eben von ihr so hingerissen schien, daß seine Lebhaftigkeit die Grenzen des Salontones zu überschreiten drohte, dann sammelte er sich mit einem male wieder, unterdrückte sichtlich sein Entzücken und fuhr in nur galanter Höflichkeit fort; bisweilen dann sank er wieder in augenblicklich düsteres Verstummen zurück; oft wieder flammte momentan das schwärmerische Glühen seiner Augen durch das leichte Brillantfeuer seiner Redensarten, – kurz, wie ein Virtuose auf seinem Instrument, so wußte Held Cesar auf sich alle möglichen Tonarten und Stimmungen hervorzubringen, um Effect zu machen. Und wahrlich, es wäre Zeit gewesen, daß Ernst Wagner wiederkehrte, denn der Virtuose hatte ein zweiäugiges Publicum, das an seiner Musik Geschmack fand. Aber – die preußische Policeiverwaltung muß den Ruf ihrer Pünktlichkeit mehr bei Verhaftungen als bei Freilassungen verdient haben. Ernst Wagner wurde im Laufe des Tages noch nicht freigelassen. Der Abend kam heran und die beiden Musikliebhaber concertirten noch immer die Musik, die sie liebten, mit der Virtuosität, die sie an ihrer beiderseitigen Künstlerschaft gegenseitig höher spannten.

Im Dunkeln leuchten magischer die glühenden Augen, wie verlockende Irrlichter; im Dunkeln ist das Ohr aufmerksamer auf die Töne der Musik, das Herz empfänglicher für jene Sprache der Empfindung, die, ohne der Laute, ohne der Zeichen zu bedürfen, vom Herzen zum Herzen geht. Cesar's Herz sprach vernehmlicher zu ihrem, und sie erschrak nicht mehr vor dieser Sprache; angstlos schon überließ sie sich den süßen Schauern des geheimnißverrathenden Schweigens. Als er merkte, daß sie sicherer wurde, begann er sicherer zu erscheinen. Häufiger wechselten Gespräch und Verstummen. Das Gespräch wurde abgerissener, gewaltsamer heiter; das Verstummen dauernder, düsterer. Das Auge wagte er nicht mehr auf sie zu richten. Ohne daß er es absichtlich ihr zu erkennen gab, schien er unwillkürlich einen gewaltigen Kampf mit sich zu kämpfen. Mit keiner Mühe schien er seine Erregung mehr unterdrücken zu können. Er sprang von seinem Sitze auf, ging mit großen Schritten durch das Zimmer; dann saß er wieder vor ihr, erhob sich wieder und endlich, wiederum vor ihr sitzend, in tiefes Schweigen verfallen, schien er innerlich zusammengesunken und nicht mehr die Kraft zu haben, den herzzerreißenden Schrei zu fesseln, in dem sein Schmerz sich Luft machte. Aber über sich selbst erschreckt, sprang er auf, seufzte hastig: »gute Nacht«, und war verschwunden.

Ein Herr und eine Dame, beide ihrer Denkungsart nach emancipirt, über die Gesellschaft hinausgetragen, entfesselt von den Schranken der Sitte, umgeben vom Reichthum der Kunst und Cultur, diese beiden unter einem Dache selbstständig nebeneinander lebend, – das war der verklärte Naturzustand, den Delphine sich als das Ideal freien Lebens, als das wahrhaft richtige Verhältniß des freien Mannes zum freien Weibe gedacht hatte. Sie befand sich jetzt in diesem paradiesischen Glücke, und doch konnte sie sich nicht ruhig fühlen, denn auch sie mußte vor einem Sündenfalle sich fürchten. Sie hatte den Himmel erreicht und nun konnte sie den Himmel nicht ertragen. Die Leidenschaft, des Menschen höchstes Glück und Verderben, war es, die die Idylle ihres modernen Paradieses durchbrechen und zerstören wollte.

Held Cesar hatte in seiner Komödie keinen effectreicheren Abgang nehmen können. Delphine empfand eine unwillkürliche Scheu, ihm zu erwidern: »gute Nacht«; sie schwieg als er sich entfernte, und sie konnte ihre Gedanken nicht losreißen von der Frage, warum er so sonderbar von ihr gegangen sei, welche Empfindungen ihn so stürmisch aufgeregt haben mochten. Als sie sich niedergelegt hatte, merkte sie, daß ihre Gedanken nicht ihrem Verlobten gehörten, sondern sich mit ihres Wirthes räthselhaftem Benehmen beschäftigten. Sie wollte sich zwingen, an Ernst nur zu denken; aber – war sie denn nicht frei, das freie Weib? Magisch war ihr Sinnen zu dem gefährlichen Freunde hingezogen. Sie machte sich selbst Vorwürfe und entschlief von ihren eigenen Gedanken beängstigt. Konnte sie im Wachen ihrer Gedanken nicht Herrin sein, sie konnte es noch weniger im Schlafen – ihrer Träume. Ueber sich selbst erröthend erwachte sie, und sie fand sich aus allen ihren Himmeln herabgestürzt, zurückversunken in die alten Todesgedanken. Sie verzweifelte am Leben, weil sie verzweifeln mußte, ihre Gedanken und Empfindungen beherrschen zu können. Aller Muth zum Dasein war wieder verschwunden; sie war körperlich zusammengebrochen von jener Krankheit, wo der Seele der Trieb zum Leben ausgegangen ist. Ohne Kraft, ohne Willen, fast ohne Bewußtsein saß sie, halb eine Leiche, auf ihrem Bette, eine entsetzliche Leere in der Brust, die mit dem kalten Eisen des Dolches auszufüllen, für sie der wollüstigste Gedanke war.

Aber dennoch mußte sie leben; sie war es Ernst ja schuldig. Sie raffte sich auf mit hastiger Sucht, endlich dem Leben ganz anzugehören. Sie ließ Cesar bitten, mit ihr das Frühstück einzunehmen. Er sah verstört aus, als er eintrat; er war sanft, schmachtend, trübselig, das rührendste Bild unglücklicher Liebessehnsucht. Eine befangene Stimmung ruhte auf beiden, als sie sich wieder sahen. Sie saßen schweigend da und ihr Schweigen verrieth sie gegenseitig. Cesar freute sich mit einer gewissen grausamen Wollust dieser drückenden Spannung und that unendlich melancholisch. Delphine ängstigte sich davor, in diese Stimmung mit hineingezogen zu werden; ihr einziges Gefühl war, ihrer ewigen Todessehnsucht zu entrinnen. Aus ihrer todähnlichen Abspannung verfiel sie in fieberische Aufgeregtheit. Sie mußte um jeden Preis unterhalten, zerstreut werden. Sie zwang sich, fröhlich zu erscheinen; sie hatte rasch gelernt, in den gefälligen Conversationston einzugehen; sie sprach viel und strengte sich an mit Esprit zu sprechen – »Geist« ist zu gut für diesen Geist –; sie sang und foderte Cesar auf mitzusingen, aber – sie hatten die Rollen des gestrigen Duettes heute, gleichsam in einem neuen Satze, gewechselt. Delphine hatte die lockende, auffodernde Melodie übernommen; Cesar ließ sich aus der kalten Zurückhaltung nicht emporziehen. Er blieb consequent schweigsam und that so schwermüthig, als sei er keines bestimmten Gedankens fähig.

Als alle diese Versuche, den Theilnehmer ihres verklärten Naturzustandes zu ermuntern, vergeblich waren, foderte sie ihn mit neckischem Trotze auf, seinen Gast zu unterhalten.

»O mein Gott, mein Gott«, sagte er plötzlich in theatralisches Pathos ausbrechend, »verlangen Sie Alles, Alles von mir; aber noch eine Nacht, noch eine Stunde unter einem Dache mit Ihnen zusammen zu sein, das vermag ich nicht« – als wäre er überhaupt die Nacht unter einem Dache mit ihr gewesen!

»Um des Himmels willen, was ist Ihnen?« rief Delphine erschreckt – und zugleich innerlich erfreut, denn auch solche Erschreckungen gehörten zu dem Leben, das sie ersehnte.

»Was mir ist? O, Sie sind grausam!« stöhnte Cesar und das Gesicht in den Händen bergend, sank er in seinem Lehnsessel zusammen.

Delphine meinte es gut mit Cesar. Sein exaltirter Schmerz that ihr in Wahrheit tief im Herzen weh. Um ihn zu besänftigen, trat sie heran zu ihm. Sie bat ihn, ihr nicht bange zu machen. Er hörte nicht und bewegte sich nicht. Um ihn zu wecken, erfaßte sie seine Hand, die Salonetikette, die sie bis jetzt äußerlich beobachtet, durchbrechend. Als sie sein Antlitz von der Hand enthüllt, traf sie sein stechender Basiliskenblick. Es war ihr als wollten die Sinne ihr vergehen. Hastiger suchte sie, ihn an der Hand aufzurütteln. Er ließ ihr seinen Arm, aber nur, um mit ihm sie selbst an sich zurückzuziehen. Sie fühlte sich sinken; ihr Bewußtsein schwindelte; willenlos, kraftlos, krank, wie in der Stimmung, in der sie erwachte, sank sie mit einem Seufzer, in dem sie ihr Leben hätte aushauchen mögen. Die Arme des Wüstlings fingen sie auf; mit überlegener Kraft drückte er sie an seine Brust. Da schrie sie noch einmal auf. Sie fühlte, wie auf ihrem Busen Ernst's Brief zerknittert wurde. Ihr Gewissen regte sich. Sie dachte daran, daß auf das Lebensgefühl, das sie überkommen war, ein Anderer mehr Recht hatte, denn Cesar. Ihre letzte Kraft zusammennehmend, raffte sie sich aus seinen Armen. Mit schlotternden Knien wankte sie zur Thüre.

Ernst war aus seiner Haft entlassen und kehrte glücklicher Weise noch zur Zeit zurück, der geretteten Braut gegen ihre eigene Schwäche zu Hülfe zu kommen.

Ernst hatte kaum die Hausvogtei verlassen, da suchten zwei Frauengestalten, in Trauer gekleidet, von ärmlich ländlichem Aussehen ihn daselbst auf. Sie wurden in Cesar's Wohnung gewiesen. Sie erstaunten vor dem prächtigen, neuen Hause und gewannen nur schwer den Muth, hineinzugehen. Schüchtern bitten sie den Portier, sie anzumelden.

Ernst ist erstaunt, wie ihm Besuch angesagt wird. Er begleitet Delphine, sie umschlingend und von ihr umschlungen, zur Thüre, um die Angemeldeten allein zu empfangen; da wenden sich beide um nach einem leisen »Ach«, das sie am andern Ende des Zimmers vernehmen. Die beiden Fremden sind schon eingetreten; die jüngere von ihnen scheint unwohl zu werden und stützt sich auf die bejahrte Begleiterin. Delphine, die seit ihrem weißen Negligée schon sehr übermüthig geworden ist, muß über die altmodisch kurzen Kleider und die geschmacklos großen Strohhüte laut auf lachen. Ernst aber eilt auf die Fremden zu und stürzt zu den Füßen seiner Mutter, die das ohnmächtige Aennchen in ihren Armen hält.

Wie mußte Ernst erschrecken über den Anblick seiner Mutter! Sie war in den wenigen Wochen um Jahre gealtert; die Augen waren tief eingefallen, aber durch ihr Leuchten innere Aufgeregtheit verrathend; die Nase stärker hervortretend, der Mund eingesunken. Frau Wagner war seit dem Tode des Mannes von Kränklichkeit befallen; eine fieberische Angst um ihren Sohn, von dem sie so lange keine Nachricht erhalten hatte, ließ sie nicht eher ruhen, bis sie selbst nach Berlin ging, ihn aufzusuchen.

So hefteten sich noch einmal die Banden der Familie wie schwere Bleigewichte dem Propheten der neuen Zeit an die Fersen, da er eben, frei wie der Geist, auf die Bühne der Weltgeschichte sich emporschwingen wollte. Ehe Ernst sich sammeln konnte, stürzte Cesar herein: »Die Policei ist hier, – Delphine entdeckt. Fort, fort!«

Materialist Schulze hatte die Hülfe der Behörden in Anspruch genommen, sein fortgelaufenes Mündel wieder einzufangen. Die Spur Wagner's verfolgend, drangen sie in Cesar's Wohnung ein, um sie hier zu suchen. Der Policei gegenüber gewann Cesar seine Rechtschaffenheit wieder und war nur darauf bedacht, seinem Freunde die Braut zu retten; lieber wollte er selbst die Schöne verlieren, als sie seiner Erzfeindin, der Policei, auszuliefern. Ehe Ernst wußte, was der Auftritt zu bedeuten habe, hatte Cesar ihn beim Arme gefaßt, ihn mit Delphine zur Thüre hinausgerissen; in dem Schlafzimmer warf er der jungen Dame den Hut und eine Reisehülle über, für die er bereits gesorgt hatte; führte sie durch das dunkele Cabinet, in dem Delphine an den als Warte aufgestellten Möbeln erkannte, daß sie belauscht worden sei, dann durch einen Corridor und eine Seitentreppe zum Hinterhause hinaus. Eine halbe Stunde darauf eilten die beiden freien Menschen mit der Eisenbahn ins weite Leben dahin.

Mehr noch als über den Anblick ihres Ernst erschraken Frau Wagner und Aennchen über das Eindringen der Policeibeamten. Aennchen wurde ohnmächtig vor Schreck und Verwirrung, als sie von dieser für das verfolgte junge Mädchen gehalten wurde, bis das Signalement den Irrthum aufklärte.

Aennchen mit ihrer Tante verließen Cesar's Hotel, um in der stillen Heimat einsam zu trauern um – den verlorenen Sohn.

In Ernst's Busen aber reiften Entschlüsse, die ihm die Zuversicht gaben, daß er seiner Mutter nie unwürdig werden, daß er seine That noch von ihrer Zustimmung gekrönt sehen wollte.

*


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