Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXV

Tony Croom hatte in den beiden umgebauten kleinen Häusern in Bablock Hythe die vergangene Woche in elender Stimmung verbracht. Corvens Aussage bei der zweiten Vernehmung hatte ihn tief verwundet und Clares Leugnen konnte den Schmerz nicht lindern. Dieser junge Mann war atavistisch heftiger Eifersucht fähig. Daß sich eine Frau, die ihren Mann verlassen wollte, seine Umarmung dennoch gefallen ließ, war kaum etwas Neues. Doch unter diesen Verhältnissen und bei ihrer Abneigung gegen Corven kam es ihm unanständig, ja, ungeheuerlich vor; und daß er just nach diesem Schlag, der seinen Lebensnerv traf, selbst hintreten und aussagen mußte, hatte seine Qual noch verschärft. Zu traurig, wie das erotische Empfinden jeder vernünftigen Erwägung Hohn sprach! Die Erkenntnis, daß er kein Recht auf Eifersucht habe, half ihm nicht. Und nun, eine Woche nach der Verhandlung, fühlte er sich nach dem Empfang ihres Briefes zuerst versucht, gar nicht zu antworten, dann doch zu antworten und ihr gründlich seine Meinung zu sagen, dann wieder als ‹Gentleman› zu antworten – und dabei wußte er ganz genau, daß er sie am Ende doch besuchen würde.

Ohne festen Entschluß, noch immer in qualvoller Stimmung traf er eine Stunde nach Dinnys Fortgehn in der Mews ein. Clare öffnete ihm, eine Minute starrten sie einander wortlos an. Endlich sagte Clare mit einem Auflachen:

«Na, Tony! Drollige Geschichte – dieser ganze Klimbim, gelt?»

«Ungemein drollig!»

«Du siehst schlecht aus.»

«Und du glänzend.»

Und sie sah tatsächlich glänzend aus in dem ärmellosen roten Kleid, das Hals und Nacken freiließ.

«Schade, daß ich nicht im Abendanzug bin. Ich wußte nicht, daß du noch ausgehn willst, Clare.»

«Will ich auch gar nicht. Wir speisen zu Hause. Du kannst dein Auto vor der Tür lassen und bleiben, solang es dich freut. Niemanden geht es mehr was an. Ist das nicht fein?»

«Clare!»

«Leg doch den Hut ab und komm hinauf. Ich hab einen neuartigen Cocktail gebraut.»

«Ich möchte dir gleich anfangs sagen, daß mir die Sache äußerst nahe geht.»

«Sei doch kein Narr, Tony!» Sie begann die Wendeltreppe emporzusteigen und wandte sich oben nach ihm um. «Komm!»

Er legte Hut und Autohandschuhe ab und folgte ihr.

In seiner Aufregung und Verstörtheit machte das Zimmer oben einen ganz seltsamen Eindruck auf ihn – es schien wie zu einer feierlichen Handlung vorbereitet – oder gar zu einem Opfer? Der kleine Tisch war geschmackvoll mit Blumen geschmückt, eine schlanke Flasche und grüne Gläser standen drauf. Über das Lotterbett war ein jadegrüner Überwurf gebreitet, auf dem einige hellfarbige Kissen lagen. Die Fenster standen offen – draußen war es heiß – doch die Vorhänge waren fast ganz zugezogen, und das elektrische Licht brannte. Er trat sofort ans Fenster, der innere Aufruhr erstickte ihn fast.

«Wenn das Gesetz unsern Bund jetzt auch segnet, zieh doch lieber die Vorhänge ganz zu», meinte Clare. «Möchtest du dich waschen?»

Er schüttelte den Kopf, zog die Vorhänge zu und setzte sich aufs Fensterbrett. Clare ließ sich auf das Lotterbett fallen.

«Tony, es war für mich unerträglich, daß du verhört wurdest. Ich steh arg in deiner Schuld.»

«Du? Nein, du nicht. Ich steh in deiner Schuld!»

«Nein, ich bin die Schuldnerin.»

Wie anmutig schien doch ihre Gestalt, wie sie so die bloßen Arme hinterm Nacken verschränkte und das Antlitz leicht emporgewandt hielt! Diese Stunde hatte er erträumt, ersehnt all die Monate her! Da stand sie nun, unendlich begehrenswert, schien zu sagen: ‹Hier bin ich! Nimm mich!› und er saß da und starrte sie nur an. Der Augenblick, den er stets aufs neue herbeigesehnt, war gekommen, und er versäumte ihn!

«Wo bist du mit deinen Gedanken, Tony?»

Er erhob sich; mit bebenden Lippen, bebend an allen Gliedern trat er an den Tisch heran und umklammerte krampfhaft eine Stuhllehne. Sein Blick hing an ihrem, forschte und forschte. Was sprach aus diesen dunklen Augen, die zu ihm emporsahn? Liebe? Nein! Ein Willkommen aus Pflichtgefühl? Der Zahlungswille eines Schuldners? Duldung eines Schicksalsgefährten? Die Aufforderung eines Menschen, der eine lästige Pflicht so rasch wie möglich erfüllen wollte? Alles, nur nicht Liebe sprach aus diesen Augen, nicht der sanfte Glanz der Liebe. Und plötzlich stand vor ihm das Bild, wie sie und Corven – hier, in diesem Zimmer –! Er schlug den Arm vors Gesicht, jagte wie gehetzt die schmale eiserne Wendeltreppe hinab, packte Hut und Handschuhe und sprang in sein Auto. Erst, als er schon ein gutes Stück der Uxbridge Road zurückgelegt hatte, kam er wieder zur Besinnung, und es war ihm ein Rätsel, wie er so weit ohne Unfall gekommen war. Wie ein kompletter Narr hatte er sich aufgeführt! Nein, vollkommen richtig hatte er gehandelt! Ihr erschrockner Blick! Wie ein Gläubiger behandelt zu werden! Sich bezahlen lassen! Und dort – in jenem Zimmer! Auf jenem Diwan! Nein! In rasendem Tempo sauste er weiter, um ein Haar stieß er mit einem Lastwagen zusammen, der polternd und schwerfällig vor ihm hinfuhr. Eben brach die Nacht herein, eine warme, mondhelle Nacht. Er lenkte das Auto zu einer Zauntür und stieg aus. Dann lehnte er sich ans Gitter, stopfte die Pfeife und steckte sie an. Wohin jetzt? Nach Hause? Wozu? Plötzlich kam ihm eine Erleuchtung. Am besten, er fuhr zu Jack Muskham, kündigte seinen Posten. Dann fort – nach Kenya in Afrika. Geld genug besaß er ja für diese Reise. Dort würde sich für ihn schon irgendeine Arbeit finden. Hier bleiben? Um keinen Preis! Ein wahres Glück, daß die Stuten noch immer nicht eingetroffen waren! Er stieg über den Zaun und setzte sich ins Gras. An die Böschung gelehnt, sah er empor. So viele Sterne! Wieviel Geld besaß er nur? Fünfzig Pfund – sechzig – und keine Schulden! Nur fort, auf einem Dampfer nach Ostafrika – und wär's auch im Zwischendeck! Nur fort, irgendwohin! Dicht bei ihm auf dem Hang glommen großäugige Maßliebchen mit bleichem Glanz im Mondschein; in der Luft lag der Geruch reifenden Grases. Wäre doch nur ein einziger Blick der Liebe in ihren Augen gewesen! Er ließ den Kopf ins Gras sinken. War es denn ihre Schuld, daß sie ihn nicht liebte? Nein, nur sein Unglück! Er wollte nach Haus, seine Siebensachen packen, zusperren, sofort zu Muskham! Die Vorbereitungen nahmen wohl die ganze Nacht in Anspruch. Dann mußte er noch die Advokaten sprechen – womöglich auch Dinny! Aber Clare? Nein! Seine Pfeife hatte keinen Zug mehr. Mond und Sterne, die großäugigen Maßliebchen, der Duft der Gräser, die Schatten, die rings hervorkrochen, die Böschung, an der er lehnte – all das brachte ihm keine Ruhe. Vorwärts, er mußte etwas tun, Arbeit leisten, bis er an Bord war und davondampfte. Er stand auf, kletterte über die Zauntür auf die Straße zurück und setzte die Maschine in Gang. Schnurgerade fuhr er hin und mied instinktiv die Straße über Maidenhead und Henley. Er nahm den Weg über High Wycombe und gelangte von Norden her nach Oxford. Die altertümliche Stadt lag im Glanz der nächtlichen Lichter, als er über Headington hineinfuhr und in die stille Cumnor Road bog. Auf der kleinen alten New Bridge über die obere Themse machte er halt. Wie eigen berührte doch dieser stille Fluß mit seinem gewundenen Lauf, wie wenig schien er sich um das laute Getriebe der Menschen zu kümmern! Die Ufer glänzten im hellen Mondschein, silbriges Licht tropfte von den Ästen der Weiden ins dunkle Wasser darunter. Im Gasthaus brannte noch Licht hinter einigen Fenstern, doch das Grammophon war verstummt. So hoch stand der Mond, wie winzige Flitter blinkten die Sterne am traubenfarbenen Himmel. Ein weicher, etwas fauliger Duft drang nach dieser heißen Woche von den schilfbewachsnen Ufern und den Feldern am Fluß zu ihm herüber – da packte ihn wildes Begehren; so oft und so lang hatte er davon geträumt, wie er mit Clare an diesem Fluß sitzen würde, der sich durch duftende Wiesen wand. Mit jähem Ruck riß er das Auto herum und fuhr an dem Gasthaus vorbei in die enge Straße. Nach zwanzig Minuten stand er am Eingang seines kleinen Hauses und blickte in das mondbeglänzte Zimmer, das er vor sieben Stunden in hellem Sonnenschein verlassen hatte. Da lag noch der Roman, den er zu lesen versucht, achtlos auf dem Boden, die Reste seines Mittagessens – Obst und Käse – waren noch nicht weggeräumt; da standen noch die braunen Schuhe, die er hatte putzen wollen. Die mächtigen dunklen Balken an der niedern Decke und die kupfernen Böcke um den großen alten Kamin, den man hinter dem braungestrichenen, abscheulichen Kamin aus der viktorianischen Zeit entdeckt hatte, die zinnernen Teller, Töpfe und Krüge, die er mühsam gesammelt, weil er gehofft, sie würden Clare gefallen, sein ganzer bescheidener Hausrat hieß ihn düster willkommen. Plötzlich fühlte er sich ganz erschöpft, trank ein halbes Glas Whisky mit Wasser, aß einige Keks und ließ sich in seinen geräumigen Korbsessel fallen. Fast im selben Augenblick schlief er ein und erwachte, als es bereits hell war. Beim Erwachen fiel ihm ein, er habe ja die Nacht durcharbeiten wollen. Schräg schienen die Sonnenstrahlen zum Fenster herein. Er trank das Wasser im Krug leer und warf einen Blick auf die Uhr. Fünf! Er stieß die Tür auf. Morgennebel schimmerten hell über den Wiesen. An den Ställen für die Stuten und den Weiden vorbei wanderte er hinaus ins Freie. Ein Fußweg führte zum Fluß hinab über die mit Büschen bestandenen Wiesen und grünen Abhänge, auf denen Haselnußsträucher und Erlen wuchsen. Noch war kein Tau gefallen, doch Gras und Büsche dufteten ganz frisch.

Kaum fünfzig Schritt vom Fluß ließ er sich in einer kleinen Mulde nieder. Kaninchen, Vögel, Bienen – die einzigen Wesen, die schon wach waren. Auf dem Rücken lag er da, starrte aufs Gras, die Büsche, den Morgenhimmel, in dessen Blau weiße Lämmerwölkchen schwammen. Vielleicht weil ihm die Mulde so wenig Ausblick bot, war's ihm, als umgebe ihn hier ganz England. Eine Hummel dicht neben ihm drang in einen Blumenkelch ein, rings zarter Duft wie von Maßliebchenkränzen; vor allem aber gefiel ihm das Gras so gut, seine Frische, sein tiefes sattes Grün. ‹Größe, Würde, Frieden!› Jenes Schauspiel! Die Worte hatten ihn erschüttert. Andre hatten gelacht, auch Clare. ‹Sentimental!› hatte sie gesagt, ‹kein Land besaß je Größe, Würde, Frieden, wird sie nie haben.› Wahrscheinlich nicht, gewiß nicht – jedes Land, auch das eigene, war im Grunde doch ein Gemisch von Schönem und Scheußlichem, eine vage Verallgemeinerung, die Dramatiker zu Tiraden, Zeitungsleute zu schwulstigen Übertreibungen verlockte. Trotzdem fand man nirgendwo auf Erden just ein Fleckchen wie dieses, oder Gras, das so aussah, sich so anfühlte wie das da, nirgends gab es diesen kaum spürbaren Duft, diesen zarten Himmel mit den weißen Lämmerwölkchen, diese winzigen Blumen, diese Vogellieder, uralt schon und dennoch ewig jung! Mochten die Leute auch lachen – er konnte es nicht! Dieses Land, dieses Gras verlassen? Er entsann sich, welch seltsame Erregung ihn vor sechs Monaten ergriffen hatte, als er englischen Rasen zum ersten Mal wieder erblickte! Seine Arbeit im Stich lassen, noch ehe er sie begonnen? Seinen Posten Muskham, der sich ihm gegenüber so nett, so anständig benommen, hinschmeißen? Er wandte das Gesicht zu Boden, schmiegte die Wange ins Gras. Da spürte er noch deutlicher den Duft des Rasens, weder süß noch bitter, nein, frisch, anheimelnd, herzerfreuend – seit seinen frühesten Kindertagen war ihm dieser Duft vertraut: der Duft Englands. Wenn nur die Stuten bald kämen, wie wollte er sich in die Arbeit stürzen! Er richtete sich wieder auf und lauschte. Kein Rattern eines Eisenbahnzugs, Autos oder Flugzeugs; keine Menschenstimme, kein Tierlaut – bis auf den Gesang der Vögel, der aus allen Richtungen zu kommen schien und verschwommen über den Wiesen schwebte. Ach ja! Sinnlos, viel Aufhebens zu machen! Wenn man etwas nicht haben konnte, mußte man eben drauf verzichten.


 << zurück weiter >>