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XXVII

Befriedigt über diese Zusage kehrte sie tags darauf nach Condaford zurück, um sich in der ruhigen Atmosphäre zu erholen. Vater und Mutter lebten dort ihr gewohntes Leben, schienen aber verstört und bedrückt. Ihre Mutter, empfindsam und scheu wie immer, bangte davor, daß Clares Ruf unter dieser öffentlichen Verhandlung leiden könnte. Der Vater schien von dem Gefühl beherrscht, wie auch der Richterspruch ausfallen mochte, würden doch die meisten seine Tochter für eine Lügnerin und ein leichtfertiges Frauenzimmer halten. Den jungen Croom würde man mehr oder minder nachsichtig beurteilen, aber eine Frau, die ihren guten Namen solchen Gefahren preisgab, fand bestimmt keine Gnade. Jerry Corven gegenüber empfand er Groll und Rachsucht und den brennenden Wunsch, ihm nicht den Sieg zu lassen. Dinny lächelte ein wenig über diese echt männliche Einstellung des Vaters, bewunderte die rührende Treue, mit der er sich an Unwesentliches klammerte, während er Wesentliches außer acht ließ. Für die Generation des Vaters bedeutete die Scheidung noch immer das sichtbare äußere Brandmal eines unsichtbaren, seelischen Makels. Ihr selbst kam es auf die Liebe an; hatte die sich einmal in Abneigung gewandelt, dann schien ihr eine Fortdauer der ehelichen Gemeinschaft nicht länger gerechtfertigt. Daß Clare Jerry Corven in ihrer Wohnung nochmals zu Willen gewesen, hatte Dinny weit mehr entrüstet als die Flucht aus Ceylon. Auch die Scheidungsprozesse, die sie in den Zeitungen gelegentlich verfolgte, hatten sie nicht zu dem Glauben bekehrt, Ehen würden im Himmel geschlossen. Doch konnte sie ältern Leuten, die in einer andern Ideenwelt aufgewachsen waren, einigermaßen nachfühlen und unterließ alles, was ihre Familie noch mehr bekümmern und beunruhigen mußte. Sie stellte sich auf einen mehr sachlichen Standpunkt: Ob Sieg, ob Niederlage – die letztere schien ihr eher wahrscheinlich – die Geschichte würde bald vorbei sein! Heutzutage pflegte man sich blutwenig um andrer Leute Privataffären zu kümmern!

«‹Nacht im Auto› wär ein tadelloser Titel, he?» fragte der General sarkastisch. «Jeder Leser malt sich augenblicklich aus, wie er selbst sich in dieser Lage aufführen würde.»

Dinny fand nicht gleich die richtigen Worte. «Lieber Vater, die bauschen es noch zu einer Orgie auf.»

Als sie erfuhr, man habe Dornford zu Ostern nach Condaford eingeladen, geriet sie in Unruhe.

«Hoffentlich hast du nichts dagegen, Dinny. Wir wußten ja gar nicht, ob du zu Hause sein würdest.»

«Mutter, soll ich dir vormachen: ‹Sehr erfreut›?»

«Mein Liebling, eines Tages mußt du ja doch wieder in den Lebenskampf hinaus!»

Dinny biß sich auf die Lippe und gab keine Antwort. Es war richtig, drum war sie so bestürzt. Diese Bemerkung machte Eindruck auf sie, gerade weil sie von der sanften, stillen Mutter kam, die einem nie ihre Meinung aufdrängte.

Das Leben war also ein Kampf, warf einen wie der Krieg verwundet ins Spital und dann wieder hinaus an die Front. Vater und Mutter wollten sie gewiß um keinen Preis verlieren, sahn aber offenbar doch gern, daß sie sich hinauswagte. Sogar jetzt, sie ließen sich nicht einmal durch Clares Schicksal warnen!

Clare kam Samstag vormittag mit dem Zug, Dornford nachmittags im Auto. Er begrüßte Dinny etwas unsicher, als wisse er nicht recht, ob er willkommen sei.

Er hatte ein Wohnhaus gefunden, auf dem Campden Hill. Ihm war sehr viel an Clares Meinung gelegen, sie hatte einen Sonntagnachmittag dazu verwendet, es mit ihm zu besichtigen.

«Ein höchst wünschenswertes Haus, Dinny. Die Fenster nach Süden, Garage und Stall für zwei Pferde, schöner Garten, alle erforderlichen Nebenräume, Zentralheizung; macht auch sonst einen kultivierten Eindruck. Er hat die Absicht, es Ende Mai zu beziehn. Das Haus hat ein altes Ziegeldach, drum riet ich ihm, für die Fensterläden französischgrau zu wählen. Es ist wirklich recht hübsch und geräumig.»

«Das klingt ja wunderbar. Du wirst also dorthin wandern statt in den Temple?»

«Jawohl, seine Kanzlei verlegt er in den Pump Court oder in die Brick Buildings, ich weiß es nicht mehr genau. Dinny, wenn ich's recht bedenke, frage ich mich, warum man nicht eher ihn als meinen Partner angeklagt hat? Ich seh ihn viel öfter als Tony.»

Jede andere Anspielung auf die Sache unterblieb. Nach Erledigung der Fälle, die von den Beklagten nicht angefochten wurden, kam diese Affäre vermutlich als eine der ersten zur Verhandlung. Vorläufig herrschte Ruhe vor dem Sturm.

Sonntag nach dem Lunch kam Dornford auf die Angelegenheit zu sprechen.

«Dinny, werden Sie bei der Verhandlung Ihrer Schwester erscheinen?»

«Ich muß ja.»

«Ich fürchte, Sie werden empört sein. Zum Vertreter der Klagepartei wurde Brough bestimmt und der kann einen zur Verzweiflung treiben, wenn er's drauf anlegt. In einem Fall wie diesem, wo alles geleugnet wird, erhofft man sich viel von einem solchen Verfahren. Clare muß trachten, unter allen Umständen kaltes Blut zu wahren.»

Dinny entsann sich der Bemerkung des ‹ganz jungen› Roger, er wünschte, sie wäre die Angeklagte, nicht Clare.

«Hoffentlich machen Sie ihr das begreiflich.»

«Ich werde ihre Aussagen mit ihr durchgehn und sie ins Kreuzverhör nehmen. Man kann aber nicht wissen, welchen Weg Brough einschlagen wird.»

«Werden Sie zur Verhandlung kommen?»

«Wenn es möglich ist. Ich fürchte aber, ich bin um diese Stunde nicht frei.»

«Wie lang wird es dauern?»

«An einem Tag wird es schwerlich erledigt.»

Dinny seufzte.

«Der arme Vater! Hat Clare einen tüchtigen Rechtsbeistand?»

«Ja – Instone. Er ist durch ihre Weigerung, von ihrem Leben in Ceylon zu sprechen, arg behindert.»

«Daran ist nichts zu ändern, wie Sie wissen. Sie will nicht.»

«Es gefällt mir an ihr, doch ich fürchte, es wird ihr zum Verhängnis.»

«Mag es so kommen!» erklärte Dinny. «Wenn sie nur wieder frei wird! Am meisten zu bedauern ist Tony Croom.»

«Warum?»

«Er ist der einzige von den dreien, der wirklich liebt.»

«Verstehe», sagte Dornford und versank in Schweigen. Er tat Dinny leid.

«Wie wär's mit einem Spaziergang?»

«Ausgezeichnet!»

«Wir gehen durch den Wald und ich zeige Ihnen die Stelle, wo der Ahnherr der Cherrells das Wildschwein erlegte und das Adelsprädikat ‹de Campfort› gewann – die Historie unseres Wappens. Haben Sie in Shropshire auch eine Familiensage?»

«Ja, aber nach dem Tode meines Vaters wurde der Landsitz verkauft. Sechs Kinder und kein Geld.»

«Ach!» rief Dinny, «wie furchtbar, wenn eine Familie so entwurzelt wird.»

Dornford lächelte.

«Besser ein lebendiger Esel als ein toter Leu.»

Während der Wanderung durch den Wald plauderte er von seinem neuen Haus und suchte ihr unauffällig Äußerungen über ihren Geschmack zu entlocken.

Sie traten aus dem Wald und gelangten durch einen Hohlweg auf einen mit Dorngebüsch bestandenen Hügel.

«Das ist die historische Stätte – damals zweifellos noch Urwald. Als Kinder feierten wir hier Picknicks.»

Dornford holte tief Atem. «Echt englische Landschaft – nichts Großartiges, aber wunderbar anmutig.»

«Diese Landschaft muß man lieben!»

«Ganz richtig.»

Er breitete den Regenmantel auf den Hang. «Setzen wir uns doch nieder und rauchen wir.»

Dinny nahm Platz:

«Setzen Sie sich doch auch hierher, der Boden ist feucht.»

Während er dort saß, die Hände um die Knie schlang und seine Pfeife schmauchte, dachte sie: ‹Soviel Selbstbeherrschung hat kein zweiter Mann, und so sanft ist keiner, außer Onkel Adrian.›

«Wenn doch nur ein Wildschwein des Wegs käme!» sagte er, «das wäre herrlich!»

«Parlamentsmitglied erlegt Wildschwein auf den Chiltern-Hügeln», bemerkte Dinny, aber sie fügte nicht hinzu: ‹Gewinnt Prinzessin.›

«Der Wind weht durch den Ginster. Noch drei Wochen und dort unten ist alles grün. Die schönste Zeit des Jahrs – die, oder der Altweibersommer. Welche Zeit gefällt Ihnen am besten, Dinny?»

«Die Baumblüte.»

«Verstehe. Und die Ernte. Dann muß es hier prachtvoll sein – bei dem vielen Korn ringsum.»

«Als der Krieg ausbrach, war es gerade reif. Zwei Tage vorher kamen wir hier herauf, nahmen einen Imbiß und blieben, bis der Mond am Himmel stand. Was meinen Sie, Mr. Dornford, wieviel Soldaten haben wirklich aus Begeisterung für England gekämpft?»

«Fast alle – für irgendein Fleckchen, ihre Heimat. Viele nur für die Straßen mit ihren Autobussen und dem Seefischgeruch. Ich selbst kämpfte, glaub ich, hauptsächlich für Shrewsbury und Oxford. Aber sagen Sie doch nicht Mr. Dornford, ich heiße Eustace.»

«Will mir's merken. Gehn wir jetzt lieber nach Hause, sonst verspäten wir uns zum Tee.»

Und auf dem ganzen Heimweg zeigten sie nur Interesse für das Singen der Vögel und die Namen der Pflanzen.

«Vielen Dank für den schönen Spaziergang!» sagte er.

«Auch mir hat er gut gefallen.»

Der Spaziergang hatte Dinny wirklich seltsam beruhigt. Sie konnte also ganz unbefangen mit ihm plaudern, ohne mit Liebesbezeigungen behelligt zu werden.

Am Ostermontag blies ein Südwestwind. Dornford ging eine Stunde lang mit Clare in aller Ruhe ihre Aussagen durch, dann ritten sie zusammen in den Regen hinaus. Dinny traf am Vormittag Anordnungen für das ‹Frühlingsreinemachen› und das Überziehen der Polstermöbel mit geblümtem Kattun, während die Familie in der Stadt weilen würde. Mutter und Vater wollten für die Zeit des Prozesses in der Mount Street wohnen, sie selbst und Clare bei Fleur. Am Nachmittag inspizierte sie mit dem General die neuen Schweineställe; die Arbeit schritt nur langsam vonstatten, denn sie war einem heimischen Baumeister übertragen, der seine Arbeiter möglichst lang beschäftigen wollte. Erst nach dem Tee blieb Dinny mit Dornford allein.

«Ich denke, Ihre Schwester wird die Sache gut machen, wenn nicht etwa am Ende ihr Temperament mit ihr durchbrennt.»

«Clare kann sehr höhnisch sein.»

«Stimmt, und Anwälte können es nicht vertragen, sich in Gegenwart ihrer Kollegen verhöhnen zu lassen; auch Richter dulden das nicht.»

«Sie werden jedenfalls bald merken, daß Clare kein geduldiges Schaf ist.»

«Wissen Sie, es nützt nichts, sich gegen die hergebrachten Institutionen aufzulehnen, man rennt sich ja doch an ihren Mauern den Kopf ein.»

«Ach freilich», sagte Dinny mit einem Seufzer, «es steht in den Sternen geschrieben.»

«Und denen ist nicht zu trauen. Könnt ich nicht ein Lichtbild von Ihnen bekommen, am liebsten eine Photographie als kleines Mädel?»

«Will sehn, was noch da ist – nur Momentaufnahmen, fürcht ich. Doch eine ist, scheint mir, darunter, auf der meine Stupsnase nicht gar zu sehr auffällt.»

Sie trat zu einem Sekretär, zog eine Schublade hervor und leerte sie auf die Decke des Billardtischs.

«Die bekannten Familien-Momentaufnahmen. Wählen Sie!»

Er stand neben ihr und sie prüften Bild für Bild.

«Die meisten hab ich selbst aufgenommen, von mir sind also nicht viele da.»

«Ist das Ihr Bruder?»

«Ja, hier auch – kurz ehe er in den Krieg zog. Da ist Clare – eine Woche vor ihrer Hochzeit. Da ist ein Bild von mir – beziehungsweise von meinem Haar. Vater nahm es auf, nach seiner Rückkehr aus dem Feld, im Frühling neunzehn.»

«Sie waren damals dreizehn?»

«Fast vierzehn. ‹Wie die Jungfrau von Orleans›, hat jemand bemerkt, ‹während sie den himmlischen Stimmen lauscht.›»

«Entzückend! Ich werd es vergrößern lassen.»

Er hielt das Bild ans Licht. Die Gestalt im Dreiviertelprofil, das Gesicht emporgewandt zu den Zweigen eines blühenden Obstbaums. Die ganze Photographie wirkte ungemein lebendig, Sonnenkringel auf den Blüten und auf ihrem Haar, das bis zum Gürtel hinabhing.

«Beachten Sie nur den verzückten Blick», sagte sie, «auf dem Baum muß eine Katze gewesen sein.»

Er steckte es in die Tasche und trat wieder an den Tisch.

«Und das da?» fragte er, «könnt ich das auch haben?»

Eine kleine Momentaufnahme en face; Dinny trug noch immer langes Haar, hielt die Hände vor der Stirn, das Haupt ein wenig gesenkt, den Blick nach oben gewandt.

«Leider nicht. Ich wußte gar nicht, daß es sich hier befand.» Es war eine der Kopien des Bildchens, das sie Wilfrid gesandt hatte.

Dornford nickte; unheimlich, wie er den Grund ihrer Weigerung zu erraten schien! Von Reue erfaßt, sagte sie:

«Doch! Sie können es haben, jetzt schon!» Und sie legte es ihm in die Hand …

Nach Dornfords und Clares Abreise am Dienstagvormittag studierte Dinny die Landkarte und fuhr dann im Auto nach Bablock Hythe. Sie pflegte nicht gern zu chauffieren, doch der arme Tony tat ihr leid – diesmal hatte er nicht einmal am Wochenende Clare für einen Augenblick erschaut! Zu den vierzig Kilometern brauchte sie eine gute Stunde. Im Gasthaus erfuhr sie, er sei wahrscheinlich in seinem Häuschen. Sie ließ das Auto stehn und ging hinüber. Dort traf sie ihn dabei, wie er in Hemdärmeln die Wände seines niedrigen Wohnzimmers mit dem Holzgebälk tünchte. Vom Eingang her sah sie die Pfeife in seinem Munde schwanken.

«Ist Clare etwas geschehn?» fragte er augenblicklich.

«Keine Spur! Ich wollte nur einen Blick in Ihr neues Heim werfen.»

«Wie reizend von Ihnen! Bin grad an der Arbeit.»

«Seh ich.»

«Clare gefällt dieses Enteneigrün. Hoffentlich hab ich den Farbton annähernd getroffen.»

«Paßt ausgezeichnet zu dem Gebälk.»

Der junge Croom sah starr vor sich hin, dann sagte er: «Ich kann ja gar nicht glauben, daß sie je zu mir kommen wird, aber ich mach mir's doch immer wieder vor; sonst ginge ich noch ganz vor die Hunde.»

Dinny legte ihm die Hand auf den Arm.

«Sie werden Ihren Posten nicht verlieren. Ich hab mit Jack Muskham gesprochen.»

«Schon? Sie sind ein Prachtkerl! Ich will mich nur schnell waschen, den Rock anziehn und Sie dann ein wenig herumführen.»

Dinny wartete an der Tür, sie stand in einem Streifen Sonnenlicht. Die beiden Häuschen, die zu einem werden sollten, hatten trotz des Umbaus noch ihre Kletterrosen, Wistarien und ihr Strohdach. Alles würde sehr hübsch werden.

«Also los!» sagte der junge Croom. «Die Stallungen sind schon fix und fertig, das Gestüt hat seine Wasserleitung. Wir warten nur noch auf die Pferde, aber die kommen erst im Mai. Besser warten, als sie gefährden. Wär doch nur erst diese Sache vorüber! Sie kommen aus Condaford?»

«Ja. Clare ist heute morgen zurückgefahren. Sie hätte mir bestimmt Grüße aufgetragen, aber sie wußte nicht, daß ich zu Ihnen fuhr.»

«Warum sind Sie eigentlich gekommen?» fragte der junge Croom schroff.

«Aus Mitgefühl.»

Er zog seinen Arm durch den ihren.

«Ach ja! Tut mir leid! Was meinen Sie», fragte er plötzlich, «ist der Gedanke an andre ein Heilmittel gegen den eignen Kummer?»

«Kein besondres.»

«Find ich auch. Die Sehnsucht nach einem lieben Menschen packt einen wie Zahnweh oder Ohrenreißen. Man kommt nicht los davon.»

Dinny nickte.

«Noch dazu in dieser Jahreszeit!» rief der junge Croom mit bitterm Auflachen. «Und welch ein Unterschied zwischen ‹Gut leiden mögen› und ‹Lieben›! Das treibt mich noch zur Verzweiflung, Dinny. Und dabei so gar keine Hoffnung, daß Clare sich jemals ändert. Wenn sie mich je lieben könnte, sie täte es schon jetzt. Wenn sie mich nicht liebgewinnt, halt ich es hier nicht länger aus. Dann fahr ich nach Kenya oder irgendwohin.»

Sie sah ihm in die Augen, deren Blick offen und ehrlich an ihren Lippen hing, und ihre Nervenkraft verließ sie. Es ging ihre eigne Schwester an, doch was wußte sie im Grunde von Clare?

«Man soll nicht die Flinte ins Korn werfen. Nur nicht gleich verzagen!»

Der junge Croom drückte ihren Arm.

«Immer wieder behellige ich Sie mit meiner fixen Idee. Wenn man aber Tag und Nacht –»

«Ich kenne das.»

«Ich muß eine oder zwei Ziegen kaufen. Pferde können Esel nicht leiden und scheuen bisweilen auch vor Ziegen. Aber in diesem Gestüt soll sich alles recht heimisch fühlen, dafür werd ich schon sorgen. Für die Ställe hab ich zwei Katzen besorgt. Was halten Sie davon?»

«Ich versteh mich nur auf Hunde und – theoretisch – auf Schweine.»

«Kommen Sie zum Lunch! Hier kriegt man ganz guten Schinken.»

Er sprach nicht wieder von Clare; sie aßen zusammen den ‹ganz guten Schinken›, dann half er Dinny ins Auto und fuhr sie die ersten acht Kilometer ihres Heimwegs zurück; er müsse einmal einen tüchtigen Spaziergang machen, meinte er.

«Ich werd Ihnen diesen Besuch nie vergessen», sagte er und drückte ihr fest die Hand. «Es war ganz reizend von Ihnen! Recht herzliche Grüße an Clare!» Fort war er; während er in einen Feldweg bog, winkte er ihr zum Abschied.

Auf der übrigen Fahrt war Dinny zerstreut. Zwar blies noch immer der Südwest, doch ab und zu brach die Sonne durchs Gewölk, dann wieder prasselten Schauer von Eiskörnchen nieder. Sie brachte den Wagen im Schuppen unter, holte den Wachtelhund Foch und ging mit ihm zu den neuen Schweineställen. Dort traf sie den Vater, in tiefes Nachdenken über ihre Bauart versunken wie einst als Generalleutnant über einen Feldzugsplan; er wirkte sehr adrett, selbstsicher, schrullig. ‹Wer weiß, ob sie je Schweine beherbergen werden!› fuhr es Dinny durch den Sinn. Sie hängte sich in den Vater ein.

«Wie steht die Schlacht um Schweinsburg?»

«Gestern wurde einer der Maurer überfahren und der Zimmermann dort hat sich in den Daumen geschnitten. Ich hab mit dem alten Bellows ein ernstes Wort gesprochen, doch wahrhaftig, man kann es ihm nicht verdenken, daß er seine Arbeiter möglichst lang beschäftigen will. Mir gefällt ein Arbeitgeber, der zu seinen Leuten hält und nicht Gelegenheitsarbeiter nimmt. Er erklärt, Ende des nächsten Monats fertig zu werden, ich glaub's aber nicht.»

«Ich auch nicht», sagte Dinny, «er hat es schon zweimal versprochen.»

«Wo bist du gewesen?»

«Hab Tony Croom aufgesucht.»

«Ist was Neues los?»

«Nein. Ich wollte ihm nur sagen, daß ich unlängst mit Mr. Muskham gesprochen habe. Er wird seinen Posten nicht verlieren.»

«Freut mich. Ein tüchtiger Junge. Schade, daß er nicht zur Armee gegangen ist.»

«Mir tut er sehr leid, Vater. Er liebt sie wirklich.»

«Wieder eine Interpellation im Abgeordnetenhaus», versetzte der General trocken, «dabei hat man das Budget doch mehr als ausgeglichen. Eine hysterische Zeit – Tag für Tag wird einem zum Frühstück eine neue europäische Krise serviert.»

«Daran sind nur die Zeitungen schuld. Die französischen Blätter mit ihrem viel kleineren Druck regen einen nicht halb so auf. Bei ihrer Lektüre blieb ich ganz ruhig.»

«Zeitungen und Rundfunk. Alles erfährt man, noch ehe es geschehn ist. Und die Überschriften nehmen doppelt so viel Raum ein wie die Berichte selbst. Nach den Reden und Leitartikeln sollte man meinen, die Welt sei noch nie zuvor in der Patsche gewesen. Sie war es immer, nur hat man früher nicht so viel Lärm drüber geschlagen.»

«Aber hätte man das Budget ausgeglichen, wenn niemand Lärm geschlagen hätte?»

«Nein, heutzutage bringt man nur so den Stein ins Rollen. Doch es ist so unenglisch.»

«Vater, wissen wir denn genau, was englisch ist und was nicht?»

Ein Lächeln huschte über das verwitterte Gesicht des Generals und zog es in tausend Fältchen. Er wies auf die Schweineställe.

«Die sind es. Sie werden am Ende fertig, aber erst, wenn es dringend wird.»

«Gefällt dir das?»

«Nein; aber diese hysterischen Versuche, das Übel zu heilen, gefallen mir noch weniger. Es sieht so aus, als hätte man in frühern Zeiten nie an Geldmangel gelitten. So war zum Beispiel Eduard der Dritte ganz Europa Geld schuldig. Die Stuarts waren immer bankrott. Und nach den Napoleonischen Kriegen kamen Geldkrisen, gegen die die unsern reines Kinderspiel sind. Aber man hat einem die Finanzberichte nicht täglich zum Frühstück serviert.»

«‹Als Nichtwissen das Volk beglückte –›»

«Na, die gegenwärtige Mischung von Hysterie und Bluff ist mir in der Seele zuwider.»

«Du möchtest also die Stimme zum Schweigen bringen, die über Eden erschallt?»

«Das Radio? Ach ja: ‹Das Alte weicht, das Neue will sich regen, Gott offenbart sein Selbst auf tausend Wegen›», zitierte der General. «Ich erinnere mich noch an eine Predigt des alten Butler in Harrow über dieses Thema, es war eine seiner besten. Dinny, ich bin kein Sklave der Tradition, das bild ich mir wenigstens ein. Doch glaub ich, man redet über alles viel zu viel. Man redet so viel, daß einem gar keine Zeit zum Fühlen bleibt.»

«Vater, ich glaube an die Gegenwart. Sie hat die überflüssigen Hüllen abgestreift. Sieh dir doch nur die alten Bilder an, die die ‹Times› unlängst brachte. Dieser muffige Geruch nach Dogmen und Flanellunterröcken!»

«Flanell», widersprach der General, «trug man nicht zu meiner Zeit. Dinny, ich bin davon überzeugt, meine Generation war eine wirklich revolutionäre. Hast du das Stück über Browning gesehn? Da konntest du noch den Geist der Auflehnung finden. Doch noch ehe ich nach Sandhurst kam, war's damit vorbei. Wir dachten, wie wir wollten, und handelten, wie wir dachten, aber wir schwatzten nicht darüber. Jetzt redet man, ehe man denkt, und wenn es zum Handeln kommt, dann handelt man genauso wie wir es taten, falls überhaupt gehandelt wird. Den Hauptunterschied zwischen dieser Zeit und der vor einem halben Jahrhundert bildet die Freiheit des Ausdrucks; die ist heutzutage so groß, daß sie dem Erlebnis alle Würze raubt.»

«Vater, wie tiefsinnig!»

«Aber nicht originell. Ich hab es vielleicht ein dutzendmal gelesen.»

«‹Sie sind also nicht der Meinung, daß der Weltkrieg einen bedeutenden Wandel herbeiführte?› So fragen ja meist die Interviewer in den Zeitungen.»

«Der Weltkrieg? Er übt jetzt fast keinen Einfluß mehr. Auch waren meine Altersgenossen damals schon zu gesetzt. Die nächste Generation wurde weggetilgt oder niedergeschlagen –»

«Die Frauen doch nicht.»

«Nein. Sie schlugen über die Stränge, aber richtig beteiligt waren sie nicht. Und deine Generation, Dinny, kennt den Krieg nur mehr vom Hörensagen.»

«Sehr interessant und lehrreich, lieber Vater», erwiderte Dinny, «ich danke dir dafür, aber es wird gleich hageln. Komm doch, Foch!»

Der General schlug den Rockkragen hoch und trat auf den Zimmermann zu, der sich in den Finger geschnitten hatte. Dinny sah, wie der Vater den Verband prüfte und dem Zimmermann auf die Schulter klopfte, sie sah das Lächeln des Arbeiters.

‹Vaters Soldaten müssen ihn gerngehabt haben›, dachte sie. ‹Mag er auch zum alten Zopf gehören, ein lieber Kerl ist er doch.›


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