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XIX

Der junge Croom erwachte mit steifen Gliedern und wußte gar nicht, wo er sich befand.

«Es wird schon licht, Tony», rief eine Stimme, «aber noch seh ich nicht genug, um den Morgenpsalm zu lesen.»

Er setzte sich auf. «Himmel! Hab ich am Ende gar geschlafen?»

«Jawohl, du armer, lieber Junge. Ich habe herrlich geschlafen, nur die Beine tun mir etwas weh. Wie spät ist es denn?»

Der junge Croom sah auf das leuchtende Zifferblatt seiner Armbanduhr.

«Fast halb sieben. Au! Mir sind die Beine eingeschlafen.»

«Steigen wir aus, um uns ein wenig zu strecken.»

Seine Stimme klang ihm selbst wie aus weiter Ferne: «Also, jetzt ist's vorbei.»

«War es so schrecklich?»

Er fuhr sich mit den Händen an den Kopf und gab keine Antwort. Der Gedanke, er werde nun die nächste und alle folgenden Nächte von ihr getrennt verbringen, traf ihn wie ein Keulenschlag. Sie öffnete den Wagen.

«Jetzt muß ich ein bißchen aufstampfen. Dann machen wir einen Spaziergang, um uns zu erwärmen. Vor acht bekommen wir nirgends ein Frühstück.»

Er ließ den Motor an, damit sich das Auto etwas erwärme. Das Morgenlicht stahl sich in den Wald; er nahm jetzt die Buche wahr, an deren Stamm sie die Nacht verbracht hatten. Dann stieg auch er aus dem Wagen und trat auf die Straße hinaus. Noch immer in Nebel und grauem Dämmerschein, wirkte der Wald zu beiden Seiten der Straße düster und geheimnisvoll. Kein Lufthauch, kein Laut! So mochte sich Adam gefühlt haben, wenn er ans Gitter des Gartens Eden schlich, nur hatte er, Tony, die Vertreibung noch nicht verdient! Adam! Jenes seltsame, liebenswürdige Geschöpf mit weißem Haar und Bart! Der Mensch vor dem Sündenfall – ein rebellischer Prediger im Urzustand, mit einer Lieblingsschlange, dem berühmten Apfel und einer ergebenen Helferin mit langem Haar, wie Lady Godiva! Tony hatte sich ordentlich gereckt und ging zum Auto zurück.

Clare kniete auf dem Kissen und brachte mit Taschenkamm und Spiegel ihr Haar in Ordnung.

«Wie fühlst du dich, Tony?»

«Gar nicht großartig. Ich denke, wir rattern weiter und frühstücken in Maidenhead oder Slough.»

«Warum nicht lieber zu Hause? Um acht sind wir dort. Ich braue einen tadellosen Kaffee.»

«Famos!» rief der junge Croom. «Ich fahre im Achtzigkilometertempo drauflos.»

Während sie dahinsausten, sprachen sie nur wenig. Beide waren zu hungrig.

«Ich koche das Frühstück, und du, Tony, kannst dich inzwischen rasieren und ein Bad nehmen. Dadurch ersparst du Zeit und wirst dich auf der Rückfahrt wohler fühlen. Ich bade später.»

Als sie zum Marble Arch am Eingang des Hydeparks kamen, meinte der junge Croom:

«Am besten, ich stelle das Auto ein. Geh du allein hinauf. Es ist zu auffällig, wenn wir so zeitig in der Frühe zusammen vorfahren. Die Chauffeure in der Mews-Garage sind gewiß schon an der Arbeit. In zehn Minuten komm ich nach.»

Als er um acht Uhr in Clares Wohnung eintraf, fand er sie in einem blauen Morgenkleid, der kleine Tisch im untern Zimmer war schon zum Frühstück gedeckt, und Kaffeeduft drang ihm entgegen.

«Ich hab das Wasser zum Bad aufgedreht, Tony, einen Rasierapparat findest du auch.»

«Liebstes!» rief der junge Croom. «Ich brauche keine zehn Minuten.»

In zwölf Minuten kam er tatsächlich zurück und nahm ihr gegenüber Platz. Es gab weiche Eier, Toast, Quittenjam aus Condaford und Bohnenkaffee. Noch nie hatte ihm eine Mahlzeit so herrlich gemundet, denn alles war ganz so, als wären sie schon verheiratet.

«Bist du nicht müde, Liebstes?»

«Nicht ein bißchen. Ich fühle mich quietschfidel. Aber ein zweites Mal sollten wir uns solch ein Stückchen doch nicht leisten – zu riskant.»

«Wir hatten ja nicht die Absicht.»

«Nein, und du warst ein Engel! Freilich, es stand nicht ganz im Einklang mit dem, was ich Tante Emily versprochen habe. Dem Reinen ist alles – nicht rein.»

«Da hast du recht – hol die ‹Reinen› der Teufel! Herrgott, wie soll ich es nur aushalten, bis ich dich wiederseh?»

Clare streckte den Arm über das Tischchen und drückte seine Hand.

«Jetzt wird es am besten sein, du gehst. Ich will nur einen Augenblick hinaussehn, ob die Luft rein ist.»

Nachdem sie Umschau gehalten hatte, küßte er ihr die Hand, schritt zu seinem Auto zurück und stand um elf schon neben einem Handwerker in einem Pferdestall zu Bablock Hythe …

Clare nahm ein besonders heißes Bad. Es dauerte leider nicht lang genug, aber es drang ihr in alle Poren. Sie hatte das gleiche übermütige Gefühl wie damals als kleines Mädel, wenn sie etwas angestellt hatte, das ihrer Erzieherin gegen den Strich ging, und dabei nicht ertappt worden war. Der arme, liebe Tony! Schade, daß die Männer so ungeduldig waren. Platonische Freundschaft war ihnen ebenso zuwider wie Einkaufengehn. Sie stürmten in einen Laden, riefen: «Haben Sie das und das? Nicht?» und stürmten auch schon wieder hinaus. Es war ihnen zuwider, etwas zu probieren, sich hier und dort eine Falte glatt streichen zu lassen, den Kopf zu wenden, um zu sehn, wie man von hinten aussah. Mit Sorgfalt und Vergnügen auszuwählen, was ihnen paßt, war den Männern ein Greuel. Tony war ein rechtes Kind. Sie kam sich von Natur aus und durch ihre Erfahrungen weit älter vor. Vor ihrer Heirat war Clare zwar sehr umschwärmt gewesen, dennoch hatte sie nie viel mit jener Sorte von Menschen zu tun gehabt, deren ganzes Denken und Fühlen nur um London und das eigene Ich kreiste, denen nichts in der Welt heilig war, die über alles spöttelten und nur eines hochhielten: Abwechslung und genug Geld, um es sich jahraus, jahrein gutgehn zu lassen. In Herrenhäusern war sie natürlich solchen Leuten begegnet, hatte sich aber stets aus dieser Atmosphäre zum Sport geflüchtet. Sie war ein Freiluftmensch und mehr sehnig als robust; der Sport war ihr Element. Auch ihre Übersiedlung nach Ceylon hatte daran nichts geändert, sie verbrachte dort ihre Zeit im Sattel oder auf dem Tennisplatz. Zwar bekannte sie sich unter dem Einfluß vieler moderner Romane zu einer freieren Lebensauffassung, aber während sie jetzt so im Bade lag, überkam sie ein unbehagliches Gefühl. Es war Tony gegenüber nicht nett, ihn so auf die Folter zu spannen wie gestern nacht. Je näher sie ihn an sich herankommen ließ und ihm dennoch ihre Liebe versagte, um so mehr mußte sie ihn ja quälen. Beim Abtrocknen faßte sie gute Vorsätze für die Zukunft. In voller Eile kam sie gerade noch recht ins Temple-Gebäude. Doch sie hätte ruhig noch weiter im Bad bleiben können, denn Dornford war mit einem wichtigen Fall beschäftigt. Sie erledigte die laufenden Arbeiten und sah müßig auf den Rasen der Temple-Anlagen hinaus; eben zerrann der Morgennebel, der schönes Wetter verhieß, die Sonne, in blendend klarer Reinheit, koste mit ihren Strahlen Clares Wange. Sie mußte an Ceylon denken, wo die Sonne nie so kühl und angenehm schien. Jerry! Wie mochte es ihm gehn? Was für Schritte unternahm er gegen sie? Recht schön und gut, ihr Entschluß, Tony nicht mehr zu quälen, sich von ihm fernzuhalten, ihm sinnliche Erregung zu ersparen; doch ohne ihn war es so öd und einsam! Er war ihr zur Gewohnheit geworden. Vielleicht eine schlechte Gewohnheit, doch gerade von den schlechten Gewohnheiten konnte man sich am schwersten befreien.

‹Natürlich bin ich ein leichtes Blut›, dachte sie. ‹Tony ja auch, aber er ließe einen nie im Stich!›

Und der Rasen der Temple-Anlagen wurde plötzlich zum Meer, das Fensterbrett zur Reling, und sie und Tony standen dran gelehnt und sahn den fliegenden Fischen zu, die aus dem Wellenschaum emportauchten und glitzernd über das blaugrüne Wasser schossen. Durchsichtig klare Luft! Wärme, Farbe, Schönheit! Sie fühlte sich ganz melancholisch.

‹Einen ordentlichen langen Ritt muß ich machen!› fuhr es ihr durch den Kopf. ‹Morgen fahr ich nach Condaford und bleibe den ganzen Sonnabend im Freien. Ich will Dinny bewegen, mitzuhalten, sie sollte wirklich mehr reiten.›

Der Schreiber trat ein und sagte: «Mr. Dornford wird heute nachmittag vom Gericht sofort ins Parlament gehn.»

«So! George, fühlen Sie sich je deprimiert?»

Das Gesicht dieses Schreibers kam ihr stets drollig vor, zu seiner rosigen Stumpfnase hätten unbedingt Koteletten gepaßt.

«Ich vermisse hier nur einen Hund», erwiderte er mit seiner weichen Stimme. «Hätt ich bloß meinen alten Toby da, ich käme mir nie einsam vor.»

«Was für eine Rasse ist er, George?»

«Ein Terrier. Leider kann ich ihn nicht mitnehmen, Mrs. Calder würde ihn vermissen, und wenn er am Ende einen Anwalt beißt – –»

«Köstlicher Einfall!»

Georg schnob.

«Naja! Im Temple kann man unmöglich in gehobener Stimmung sein.»

«Ich hätt auch gern einen Hund, George, aber wenn ich ausgehe, müßte er allein zu Hause bleiben.»

«Mr. Dornford wird vermutlich nicht mehr lang hier wohnen.»

«Warum?»

«Er sieht sich nach einem Haus um. Mir schwant, er möchte heiraten.»

«So? Wen denn?»

George kniff ein Auge zusammen.

«Sie meinen meine Schwester?»

«Hm!»

«Jawohl. Aber woher wissen Sie das?»

George kniff das andre Auge zusammen.

«Hab was läuten gehört, Lady Corven.»

«Er könnte es gewiß schlimmer treffen. Im allgemeinen bin ich von der Ehe nicht begeistert.»

«Wir vom Gericht sehn von der Ehe meist nur die Schattenseiten. Aber meiner Meinung nach würde Mr. Dornford eine Frau glücklich machen.»

«Find ich auch, George.»

«Ein sehr ruhiger Mann, doch mit Energie geladen und dabei so besonnen. Die Anwälte haben ihn gern, die Richter nicht minder.»

«Und die Gattinnen werden ihn ebenfalls gern haben.»

«Allerdings ist er Katholik.»

«Irgendwas muß man ja sein.»

«Mrs. Calder und ich sind anglikanisch, seit dem Tod meines alten Vaters. Er gehörte mit Leib und Seele der Brüderschaft von Plymouth an. Wenn jemand eine selbständige Meinung zu äußern wagte, sprang er ihm sofort an die Kehle. Oft und oft hat er mir mit Feuer und Schwert gedroht. Zu meinem eigenen Besten natürlich. Ein lieber alter Kerl, durch und durch religiös. Daß andre nicht ebenso gläubig waren, fand er unerträglich. Echtes westenglisches Blut, konnt es nie verleugnen, wenn er auch hier in London im Peckham-Viertel lebte.»

«Also, George, möchten Sie mir um fünf telephonieren, falls Mr. Dornford mich noch brauchen sollte? Ich werde um diese Zeit zu Hause sein.»

Clare ging zu Fuß. Der Tag schien noch frühlingshafter als der gestrige. Sie ging den Themsekai entlang und durch den St. James's-Park. Auf den Uferbeeten schossen die Narzissen in Mengen aus dem Boden, die Bäume zeigten dicke Knospen. Angenehm wärmend schien ihr die Sonne auf den Rücken. Das konnte unmöglich so bleiben! Ganz gewiß, der Winter kam nochmals zurück. Rasch schritt sie unter dem Torbogen mit den steinernen Rossen hin; der Anblick stimmte sie seltsamerweise traurig und doch auch wieder heiter, dann ging sie am Artillerie-Denkmal vorüber, ohne es anzusehn. Nun hatte sie sich ganz warmgelaufen und trat rasch in die Reitallee des Hydeparks. Reiten war ihre Passion, und es wirkte stets beruhigend auf sie, jemanden ein gutes Pferd reiten zu sehn. Sonderbare Tiere, die Pferde, eben noch feurig und lebendig, und im nächsten Augenblick schon stumpf und nachdenklich!

Zwei oder drei Herren zogen vor ihr den Hut. Ein hagerer Mann auf einer Vollblutstute, der an ihr vorbeigeritten war, riß das Pferd herum und kehrte zurück.

«Dacht ich mir's doch – Sie sind's! Lawrence hat mir erzählt, daß Sie wieder hier sind. Kennen Sie mich noch – Jack Muskham?»

«Natürlich!» murmelte Clare, dachte: ‹Dieser lange Kerl nimmt sich zu Pferd recht gut aus!› und war sogleich auf der Hut.

«Einer Ihrer Bekannten wird über meine Araberstuten die Aufsicht führen.»

«Ach richtig! Tony Croom!»

«Ein netter junger Mann, nur weiß ich nicht, ob er von der Sache auch genug versteht. Aber er ist ganz Feuer und Flamme. Wie geht es Ihrer Schwester?»

«Recht gut.»

«Sie sollten Miss Cherrell für den Rennsport begeistern, Lady Corven.»

«Dinny macht sich, scheint mir, nicht viel aus Pferden.»

«Ich würde sie bald bekehren. Ich entsinne mich –» er hielt inne und runzelte die Stirn. Trotz seiner lässigen Pose fand Clare sein braunes, gefurchtes Gesicht energisch; um seine Lippen spielte ein ironischer Zug. Was er wohl dazu sagen würde, wenn er erführe, sie habe die gestrige Nacht mit Tony in einem Auto verbracht?

«Wann kommen die Stuten, Mr. Muskham?»

«Sie sind jetzt in Ägypten. Im April wollen wir sie einschiffen. Ich reise vielleicht hin und nehme dann auch den jungen Croom mit.»

«Ich würde mir die Stuten gern einmal ansehn», sagte Clare. «In Ceylon hab ich einen Araber geritten.»

«Sie müssen hinauskommen!»

«Ist es nicht in der Nähe von Oxford?»

«Ungefähr neun Kilometer entfernt. Schöne Gegend. Ich werd Sie dran erinnern. Auf Wiedersehn!» Er zog den Hut, gab dem Pferd ganz leicht die Sporen und sprengte davon.

‹Unschuldig wie ein Neugebornes!› dachte Clare. ‹Hoffentlich hab ich nicht zu sehr übertrieben. Mit dem möcht ich mich nicht gern zerstreiten. Der weiß, was er will, sieht mir ganz danach aus. Elegantes Schuhwerk. Nach Jerry hat er gar nicht gefragt!›

Sie war etwas irritiert, verließ die Reitallee und wandte sich dem Serpentine-Teich zu.

Auf dem sonnbeglänzten Wasser trieben keine Boote, am andern Ufer schwammen ein paar Enten. Lag ihr wirklich etwas an der Meinung der Leute? Wie sang doch der Müller von Dee? ‹Ich scher mich um keine einzige Seel, und keine Seel schert sich um mich!› Brachte er es wirklich fertig, sich um niemanden zu scheren? Oder war das am Ende nur Theorie? Sie ließ sich im vollen Sonnenschein auf einer Bank nieder und fühlte sich auf einmal schläfrig. Eine Nacht im Auto war doch nicht ganz dasselbe wie eine Nacht im Bett. Sie kreuzte die Arme über der Brust und schloß die Augen. Fast im selben Augenblick schlief sie ein.

Zwischen ihr und dem glänzenden Wasserspiegel schlenderten eine Menge Leute vorbei und wunderten sich, eine so elegant gekleidete Dame am hellen Mittag schlafen zu sehn. Zwei kleine Jungen mit kleinen Aeroplanen blieben dicht vor ihr stehn, starrten prüfend ihre dunklen Wimpern an, die auf den blassen Wangen ruhten, und sahn das leise Beben ihrer leichtgeschminkten Lippen. Sie hatten eine französische Gouvernante und waren daher viel zu wohlerzogen, um auf den Einfall zu kommen, die Schläferin mit einer Nadel zu stechen oder plötzlich ein Indianergeheul auszustoßen. Doch wie interessant! Diese Frau schien ja keine Hände zu haben, hielt die Beine gekreuzt unter der Bank und die Schenkel wirkten in dieser Haltung ungewöhnlich lang. Als sie schon vorübergegangen waren, drehte der eine von ihnen noch immer den Kopf zurück, um mehr von ihr zu erspähn.

So schlief denn Clare an diesem sonnigen Tag, der schon den Frühling vorgaukelte, eine volle Stunde den tiefen Schlaf eines Menschen, der die Nacht im Auto verbracht hat.


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