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XXIII

Dinny saß in dem kleinen, kahlen Wartezimmer und blätterte in der ‹Times›. Der junge Croom stand am Fenster.

«Dinny», rief er und wandte sich ihr zu, «geben Sie mir doch einen Rat, wie kann ich ihr diese scheußliche Situation ein wenig erleichtern? In gewissem Sinn bin ja nur ich an dem ganzen schuld, und doch gab ich mir alle Mühe, mich zu beherrschen.»

Dinny sah in sein bekümmertes Gesicht. «Ich weiß keinen Rat, nur den einen: Bei der vollen Wahrheit bleiben.»

«Haben Sie zu dem Kerl dort drin Zutraun?»

«Freilich. Mir gefällt's, daß er immer eine Prise nimmt.»

«Ich halte gar nichts vom Anfechten der Klage. Wozu Clare für nichts und wieder nichts foltern lassen? Was liegt schon dran, wenn sie mich bankrott machen?»

«Das müssen wir irgendwie zu verhindern trachten.»

«Meinen Sie, ich sehe ruhig zu, wenn man Clare –»

«Darüber wollen wir nicht reden, Tony. Genug für heute! Ist das nicht ein trübseliger Ort? Da ist's bei Zahnärzten noch gemütlicher – dort gibt's wenigstens Farbdrucke an den Wänden und ein paar ‹Illustrierte› auf dem Tisch. Und Hunde darf man auch mitnehmen.»

«Darf man hier rauchen?»

«Gewiß.»

«Eine ganz billige Sorte.»

Dinny nahm eine Zigarette, und sie pafften eine Minute schweigend.

«Zu scheußlich!» rief er plötzlich. «Dieser Kerl wird wohl zur Verhandlung wieder nach London kommen, nicht wahr? Der hat sich gewiß nie einen Pfifferling aus ihr gemacht.»

«O doch, doch! ‹Souvent homme varie, folle est qui s'y fie!›»

«Er soll mir nicht in die Nähe kommen!» rief der junge Croom grimmig. Er trat ans Fenster zurück und starrte hinaus. Dinny entsann sich plötzlich jener Szene, da sie zwei Männer nicht daran hatte hindern können, wie kämpfende Hähne aufeinander loszufahren, jener Szene, deren Folgen für sie so verhängnisvoll geworden.

Da kam Clare herein. Rote Flecken brannten auf ihren blassen Wangen. «Jetzt kommst du dran, Tony!»

Der junge Croom schritt vom Fenster weg, sah ihr scharf in die Augen und ging an ihr vorüber ins Zimmer des Anwalts. Er tat Dinny aufrichtig leid.

«Uff!» rief Clare, «nur fort von hier!»

Draußen auf der Straße sagte sie:

«Dinny, ich wollte, wir hätten wirklich eine Liebschaft gehabt. Diese lächerliche Tugend glaubt uns ja doch niemand.»

«Wir schon!»

«Hm! Du und Vater wohl, aber dieser Fuchs mit der Schnupftabaksdose traut uns nicht über den Weg, und auch sonst niemand. Doch jetzt muß ich durchhalten. Ich kann Tony nicht in der Patsche lassen und mag Jerry nicht um Haaresbreite nachgeben.»

«Komm, trinken wir eine Tasse Tee», schlug Dinny vor. «Man muß doch irgendwo in der City Tee kriegen.»

In einer verkehrsreichen Straße entdeckten sie bald eine Teestube.

«Der ‹ganz junge› Roger hat dir also nicht gefallen?» fragte Dinny über den kleinen runden Tisch hinweg.

«O! Ich finde ihn tadellos – wirklich anständig. Mir scheint, Anwälte können überhaupt nichts glauben. Doch nichts wird mich in meinem Entschluß erschüttern, ich verrate über mein Eheleben kein Wort. Ich will nicht. Basta!»

«Ich finde seinen Standpunkt begreiflich. Du überläßt gleich am Anfang dem Gegner den halben Sieg.»

«Ich werde nicht dulden, daß die Anwälte diese Dinge hereinzerren. Wir bezahlen sie, also haben sie sich nach uns zu richten. Übrigens, ich geh jetzt von hier schnurstracks in den Temple, dann vielleicht ins Parlament.»

«Verzeih, daß ich noch einen Augenblick auf die Sache zurückkomme. Wie willst du's mit Tony Croom halten, solange diese Affäre in Schwebe ist?»

«Ich werde ihn wie immer treffen, doch nicht mehr mit ihm im Auto übernachten. Aber welchen Unterschied macht es? – ob Tag oder Nacht, ob im Auto oder sonstwo – mir kann das nicht einleuchten.»

«Anwälte ziehn eben stets die menschliche Natur in Betracht.» Und Dinny lehnte sich zurück. Wie viele Mädchen gab es hier, wie viele junge Männer, die Tee oder Kakao tranken, Brötchen oder Kuchen rasch verzehrten! Plaudern und Schweigen, schale Luft, kleine Tische und dienstbare Geister. Was war die menschliche Natur im allgemeinen? Hieß es nicht immer, sie müsse sich ändern? Die muffige Vergangenheit tot und dahin! Dennoch glich diese Teestube aufs Haar jener Teestube, die sie mit der Mutter vor dem Krieg besucht und damals so interessant gefunden hatte. Und war nicht auch beim Scheidungsgericht, das sie noch nie betreten, alles beim alten geblieben?

«Bist du fertig, Mädel?» fragte Clare.

«Ja, ich begleite dich bis zum Temple.»

Als sie in der Middle Temple Lane stehnblieben, um sich zu verabschieden, vernahmen sie eine hohe, angenehme Stimme:

«Das nenn ich Glück!» Und eine Hand ruhte ganz leicht einen Augenblick auf Dinnys Arm.

«Wenn Sie auf dem Weg ins Parlament sind», sagte Clare, «lauf ich rasch fort, hole meine Sachen und treffe Sie hier wieder.»

«Sehr taktvoll!» bemerkte Dornford. «Bleiben wir an diesem Portal stehn. Dinny, wenn ich Sie so lang nicht sehe, fühl ich mich ganz verloren. Jacob diente um Rahel vierzehn Jahre – wir Menschen von heute sind nicht mehr so langlebig – also wiegt jeder Monat, den ich diene, eines seiner Jahre auf.»

«Rahel und er gingen miteinander.»

«Verstehe. Nun, ich muß eben warten und hoffen. Was bleibt mir sonst übrig?» Sie lehnte sich gegen das gelbe Portal und sah ihn an. Ein Beben lief über seine Züge, Dinny empfand plötzlich Mitleid und sagte: «Vielleicht erwache ich eines Tages wieder zum Leben. Jetzt mag ich nicht länger warten. Leben Sie wohl! Und besten Dank!» …

Nun spielte auch noch ihre eigene Angelegenheit hinein! Dieser Gedanke auf dem Heimweg im Autobus brachte ihr keinen Trost. Jener Anblick seines bebenden Gesichtes stimmte sie unruhig und bedrückt. Sie wollte ihm ja keinen Kummer bereiten, er war ein liebenswürdiger Mann, hatte Clare viel Entgegenkommen bewiesen, seine Stimme war angenehm, sein Gesicht anziehend, und er teilte ihre Interessen weit mehr, als Wilfrid es je getan. Doch wo blieb jenes wilde, berauschende Verlangen, das alle Werte wandelte, die ganze Welt in einem einzigen Wesen aufgehn ließ, dem einen ersehnten, erträumten Gefährten? Ganz still saß sie im Autobus und blickte über den Kopf der Frau hinweg, die ihr gegenüber die Finger um eine Mappe gekrampft hielt und wie eine Jägerin dreinsah, die in ein neues Revier oder Gehölz auf die Pirsch geht. Nun glommen in der Regent Street die Lichter auf, ein kalter Abend, es lag wie Schnee in der Luft. Ach ja, hier standen früher die niedern, runden Dächer, die schönen gelben Mauern der Häuser des ‹Quadranten›. Sie entsann sich noch einer Diskussion über die alte Regent Street, die sie mit Millicent Pole auf dem Dach eines Autobusses geführt hatte. Verändert, verändert, alles anders! Sie schloß die Augen und sah plötzlich Wilfrids Antlitz vor sich mit halbgeöffneten Lippen, wie sie es zum letzten Mal im Greenpark vorüberhuschen gesehn.

Da trat ihr jemand auf die Zehen. Sie schlug die Augen auf und sagte: «Verzeihung!»

«Bitte sehr! Tut nichts!»

Wie höflich! Die Welt wurde doch höflicher von Jahr zu Jahr!

Der Autobus blieb stehn, Dinny verließ ihn eilends. Sie schritt die Conduit Street hinab und kam an dem Schneiderladen vorüber, wo ihr Vater arbeiten ließ. Der arme, liebe Vater! Nun kam er gar nicht mehr her. Kleider waren jetzt so teuer, und ihm waren neue Anzüge so zuwider! Sie kam in die Bond Street.

Eine Verkehrsstockung, die ganze Straße entlang staute sich eine endlose Reihe von Autos. Und da hieß es immer, England sei ruiniert! Sie überquerte den Fahrdamm und bog in die Burton Street. Da sah sie eine bekannte Gestalt gesenkten Haupts langsam vor sich hergehn. Sie holte den Mann ein.

«Stack!»

Er zog den Hut, Tränen rannen ihm über die Wangen. Er blinzelte mit den großen, dunklen, etwas vorquellenden Augen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

«Sie, Miss? Eben wollt ich zu Ihnen!» Und er hielt ihr ein Telegramm hin.

Sie hob es im trüben Schein der Laterne nah an die Augen und las:

 

‹Henry Stack, London, Cork Street 50 a. Bedauern schmerzlichste Mitteilung, Honourable Wilfrid Desert bei Expedition ins Landinnere ertrunken. Leichnam geborgen, am Fundort begraben. Bericht eben eingelaufen. Kein Zweifel möglich. Herzliches Beileid. Britisches Konsulat Bangkok.›

 

Sie stand wie zu Stein erstarrt, ihr wurde es schwarz vor den Augen. Stacks Finger kamen näher, nahmen ihr die Depesche aus der Hand.

«Ja», sagte sie. «Danke! Stack, zeigen Sie es Mr. Mont. Nicht grämen!»

«Oh! Miss!»

Dinny berührte mit den Fingerspitzen seinen Arm, rüttelte ihn ganz leicht und schritt rasch davon.

Nicht grämen! Ein Eisregen ging nieder. Sie hob das Gesicht, um die prickelnde Berührung der Eiskörnchen zu fühlen. Für sie war er ja schon lange tot – jetzt nicht mehr als früher. Dennoch – gestorben, dahin – unerreichbar fern. Nun ruhte er in der Erde, nah dem Strom, der ihn getötet, im Schweigen des Urwalds, wo keine Menschenseele sein Grab finden würde. Alle Erinnerungen an ihn lebten mit ganzer Macht wieder auf, ihre Glieder versagten, fast wäre sie hingesunken auf die schneeige Straße. Eine Minute lang blieb sie stehn und hielt sich mit der Hand am Gitter eines Hauses fest. Ein Briefträger hemmte den Schritt und starrte sie an. Vielleicht hatte doch noch ganz heimlich ein Fünkchen Hoffnung in ihr geglüht, er werde eines Tags zurückkehren. Vielleicht drang ihr nur die Kälte des Schneewetters durch Mark und Bein – sie fühlte sich starr und kalt wie Eis.

Endlich erreichte sie die Mount Street, schloß die Haustür auf und trat ein. Plötzlich faßte sie entsetzliche Angst, sie könnte ihr Erlebnis verraten, könnte Mitleid, Interesse, Teilnahme erwecken. Da floh sie in ihr Zimmer. Es ging ja doch nur sie an, niemand andern. Der Stolz trug den Sieg davon, ihr war's, als sei sogar ihr Herz zu Stein erstarrt.

Ein heißes Bad wirkte belebend auf sie. Frühzeitig zog sie sich zum Abendessen um und ging hinunter.

An diesem Abend schien ihr das Schweigen, das häufig eintrat, noch erträglicher als die krampfhaften Versuche, ein Tischgespräch zu führen. Dinny fühlte sich krank. Als sie zu Bett gegangen war, trat ihre Tante ins Zimmer.

«Dinny, du siehst wie ein Gespenst aus!»

«Hab mich erkältet, Tantchen.»

«O diese Anwälte – kein Wunder! Ich hab dir Großmutters Schlaftrunk gebracht.»

«Ah! Ich hätt schon immer gern gewußt, wie ‹Großmutters Schlaftrunk› schmeckt.»

«Na, versuch ihn.»

Dinny trank und schnappte nach Luft.

«Furchtbar stark.»

«Stimmt. Dein Onkel braute ihn. Michael hat angeklingelt.» Lady Mont nahm das Glas wieder an sich, beugte sich vor und gab Dinny einen Kuß auf die Wange. «Sonst nichts», stellte sie fest. «Schlaf jetzt, sonst wirst du noch krank.»

Dinny lächelte. «Ach wo, Tante Emily, ich werd doch nicht krank.»

Fest entschlossen, gesund zu bleiben, kam sie am nächsten Morgen zum Frühstück hinunter.

Der Orakelspruch war eingelangt – in Gestalt eines maschinengeschriebnen Briefs mit der Unterschrift ‹Kingson, Cuthcott & Forsyte›. Er empfahl, in einer Eingabe die Klagepunkte zu bestreiten; auch Lady Corven und Mr. Croom hatte das Orakel denselben Rat erteilt. Sobald die einleitenden Schritte erledigt seien, werde es weitere Ratschläge erteilen.

Auch bei Dinny stellte sich jenes Kältegefühl in der Magengegend ein, das Zuschriften eines Rechtsanwalts nicht selten hervorrufen, obwohl Dinny ohnedies schon von eisiger Kälte durchschauert war.

Mit dem Morgenzug fuhr sie in Begleitung des Vaters nach Condaford zurück und wiederholte beim Abschied ihr Sprüchlein: «Ach wo, Tante Emily, ich werd doch nicht krank!»


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