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XVIII

Der dritte Februar war so mild und frühlingshaft, daß das Blut rascher durch die Adern floß und zu Abenteuern trieb.

Darum sandte Tony Croom frühmorgens Clare ein Telegramm und brach zu Mittag in seinem alten, aber neuerstandnen Zweisitzer nach London auf. Der Wagen war nicht gerade sein Ideal, aber wenn's drauf ankam, konnte man ihn bis zu achtzig Kilometer Geschwindigkeit bringen. Tony Croom ratterte über die nächstgelegene Themsebrücke und fuhr dann über Abingdon an Benson vorbei im flotten Tempo nach Henley. Dort hielt er kurz, um rasch ein belegtes Brot zu essen und Benzin nachzufüllen. Dann hielt er noch einmal auf der Brücke an und warf einen Blick auf den sonnbeglänzten Fluß, der sanft und glatt durchs kahle Gehölz hindurchschimmerte. Von hier an fuhr er ohne Unterbrechung nach der Uhr: er hatte sich vorgenommen, Schlag zwei in der Melton Mews einzutreffen.

Clare war noch nicht fertig, sondern eben erst heimgekommen. Er saß im Wohnzimmer unten; dieser Raum war jetzt dank dem Preissturz mit drei Stühlen und einem seltsam gemusterten Tischchen möbliert. Vor ihm stand eine amethystfarbene, gravierte Flasche mit Schlehenschnaps. Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe sie die Wendeltreppe herabkam in rehfarbenem Tweedkostüm und Hut, einen Kalbfellmantel überm Arm.

«Tut mir leid, daß ich dich warten ließ. Also los, mein Lieber. Wohin fahren wir?»

«Ich dachte mir, vielleicht möchtest du dir Bablock Hythe ansehn. Dann könnten wir auf dem Rückweg durch Oxford fahren, dort einen ausgiebigen Tee nehmen, ein wenig durch die alten Gassen mit ihren Colleges schlendern und noch vor elf zurück sein. Paßt es dir?»

«Ausgezeichnet. Und wo wirst du übernachten?»

«Ich? Ach, ich fahre wieder gemütlich nach Haus. Um eins bin ich zurück.»

«Armer Tony! Ein anstrengender Tag!»

«Ach was, kaum dreihundertachtzig Kilometer. Jetzt brauchst du noch nicht in den Pelz zu schlüpfen, der Wagen ist leider geschlossen.»

Sie verließen die Melton Mews, streiften dabei um ein Haar einen Motorradfahrer und fuhren dem Hydepark zu.

«Das Auto ist gut, Tony.»

«Ja, ein leicht zu lenkender alter Kasten, aber ich hab das Gefühl, er kann jeden Augenblick zusammenbrechen. Stapylton hat ihn schrecklich strapaziert. Übrigens bin ich nicht für hellgestrichene Autos.»

Clare lehnte sich lächelnd zurück, offenbar machte ihr die Sache Spaß.

Auf diesem ersten langen Autoausflug, den sie zusammen unternahmen, sprachen sie nur wenig miteinander. Beide hatten nach Art junger Leute ihre Freude am raschen Dahinsausen, und der junge Croom holte aus dem Wagen heraus, was er in dem dichten Straßenverkehr nur konnte. So erreichten sie nach kaum zwei Stunden die letzte Themsebrücke.

«In diesem Gasthof wohne ich», rief er einen Augenblick später. «Möchtest du Tee trinken?»

«Das wäre unvorsichtig, mein Lieber. Ich möchte nur einen Blick auf die Ställe und das Gestüt werfen; dann fahren wir lieber irgendwohin, wo dich niemand kennt.»

«Ich will dir nur einen Augenblick die Themse zeigen.»

Durch die Pappeln und Weiden schimmerte der helle Streif des Flusses im goldnen Licht der Abendsonne. Sie stiegen aus, ihn zu betrachten. Die Kätzchen auf den Haselnußbüschen waren schon nah am Aufblühn.

Clare brach einen Zweig ab.

«Trügerisch – dieser Frühling. Viel Wasser muß noch den Fluß hinab, eh der Frühling wirklich kommt.»

Ein kühler Windhauch strich plötzlich von der Themse her, von den Wiesen am andern Ufer stieg Nebel auf.

«Gibt es hier nur eine Überfuhr, Tony?»

«Ja. Auf dem andern Ufer führt eine Abkürzung nach Oxford, etwa acht Kilometer. Ich bin sie ein- oder zweimal zu Fuß gegangen – recht hübsch.»

«Wenn die Bäume und Wiesen blühn, muß es hier famos sein. Also los! Zeig mir, wo das Gestüt liegt, und dann geht's nach Oxford.»

Sie stiegen wieder ins Auto.

«Möchtest du dir nicht die Ställe ansehn?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Erst bis die Stuten hier sind. Es macht nämlich einen gewissen Unterschied, ob du mir die Ställe zeigst, oder ob ich die Stuten besichtigen komme. Stammen sie tatsächlich aus Nejd?»

«Muskham schwört drauf. Ich schiebe mein Urteil auf, bis ich die Araber gesehn hab, die sie bringen.»

«Was für Stuten sind das?»

«Zwei Fuchsstuten, eine kastanienbraune.»

Die drei Gestüte lagen auf einem sanften Hang an der Themse, umrahmt von einem weitgestreckten Gehölz.

«Die Entwässerung ist ideal, und den ganzen Tag scheint die Sonne hin. Die Stallungen liegen dort um die Ecke hinter dem Gehölz. Es gibt noch eine Menge Arbeit; wir bauen auch eine Heizung ein.»

«Sehr still ist es hier.»

«Auf dieser Straße sieht man fast keine Autos, nur ab und zu ein Motorrad – dort kommt eins.»

Ein Motorrad ratterte auf sie zu, hielt an, machte kehrt und fuhr ratternd zurück.

«Machen einen scheußlichen Lärm, diese Dinger!» murmelte der junge Croom. «Na, die Stuten werden wohl schon unterwegs damit Bekanntschaft gemacht haben.»

«Die Armen! Hier wird ihnen ja alles ganz fremd sein.»

«Alle drei haben ‹goldige› Namen: Goldsand, Goldhuri, Goldhinde.»

«Soviel Poesie hätt ich Jack Muskham gar nicht zugetraut.»

«Seine poetische Ader fängt, so scheint es mir, bei den Pferden an und hört bei ihnen auf.»

«Wunderbar, Tony, diese tiefe Stille!»

«Fünf Uhr vorbei. Jetzt haben die Leute, die an meinem Häuschen arbeiten, Feierabend gemacht. Sie setzen alles in Stand.»

«Wie viele Räume hat es?»

«Vier. Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, Badezimmer. Man kann aber noch zubaun.»

Er sah sie gespannt an, doch ihr Gesicht blieb abgewandt.

«An Bord!» rief er plötzlich. «Wir müssen vor Einbruch der Dunkelheit in Oxford sein.»

Oxford, das im Zwielicht wie alle Städte recht trostlos aussah, schien ihnen zuzurufen: ‹Nun muß auch ich alte Stadt mir diese häßlichen kleinen Wohnhäuser, die Autos und das moderne Leben gefallen lassen – und vor diesem Schicksal könnt ihr mich nicht retten.›

Die beiden, die stets mehr für Cambridge übrig gehabt hatten und bereits furchtbar hungrig waren, brachten für Oxford nicht allzu viel Interesse auf. Endlich saßen sie im Restaurant zur ‹Bischofsmütze› vor Sardellenbrötchen, Eiern, Toast, Gebäck, Kuchen, Jam und einer großen Kanne Tee. Mit jedem Bissen kamen sie der Romantik Oxfords mehr auf den Geschmack. Das Beisammensein in diesem unerwartet traulichen, abgeschiednen Raum des alten Gasthauses, in dem sie allein beim Essen saßen, das helle Feuer im Kamin, die zugezogenen roten Vorhänge – das alles machte ihnen den Abschied schwer. Ein Motorradfahrer im ledernen Overall warf einen Blick hinein und verschwand. Drei junge Studenten plapperten beim Eingang, wählten einen Tisch zum Abendessen aus und zogen sich wieder zurück. Nur ab und zu brachte eine Kellnerin den beiden frischen Toast oder machte sich an einem der Tische zu schaffen. Köstlich, dieses Alleinsein! Erst um halb acht brachen sie auf.

«Sehn wir uns ein wenig die Stadt an», sagte Clare. «Wir haben ja noch eine Menge Zeit.»

Die Oxforder saßen um diese Stunde bei Tisch, die Straßen waren fast menschenleer. Planlos streiften die beiden durch die Stadt, schritten durch enge Gassen und standen plötzlich vor College-Gebäuden und langen, alten Mauern. Hier schien alles unberührt von der modernen Zeit. Die Vergangenheit hielt einen im Bann. Schwarze Türme, alte mattbeleuchtete Steinfassaden, winkelige, dämmerige Torbogen, plötzlich der Ausblick auf einen geräumigen, quadratischen Hof, und das Schlagen von Turmuhren. Diese Atmosphäre einer düstern, menschenleeren alten Stadt, die dennoch in ihren Mauern eine Fülle von elektrischem Licht und modernem Leben barg, ließ die beiden fast verstummen. Und da sie in Oxford fremd waren, verloren sie bald jede Orientierung.

Der junge Croom hatte sich fest in Clare eingehängt und ging mit ihr in gleichem Schritt. Sie waren nicht romantisch veranlagt, und dennoch hatten sie das Gefühl, als hätten sie sich in vergangene Jahrhunderte verirrt.

«Fast tut's mir leid», meinte Clare, «daß ich nicht hier oder in Cambridge aufgewachsen bin.»

«In Cambridge gibt es kein so trauliches altes Winkelwerk wie hier. Oxford sieht in der Dunkelheit viel mittelalterlicher aus. Dort liegen die College-Gebäude alle in einer Reihe, die Höfe sind ungleich schöner als hier, aber hier ist viel mehr Stimmung.»

«Ich glaub, mir hätte das Leben im Mittelalter gefallen. Zelter und Wämser mit Puffärmeln. Tony, in einem Wams mit Puffärmeln und einem Barett mit langer grüner Feder hättest du prachtvoll ausgesehn.»

«Ich bin auch mit der Gegenwart zufrieden, wenn ich sie mit dir verbringe. So lang wie heute waren wir noch nie ununterbrochen beisammen.»

«Nur nicht sentimental werden. Wir sind jetzt hier, um uns Oxford anzusehn. Welchen Weg sollen wir einschlagen?»

«Einerlei», erwiderte er etwas abgekühlt.

«Beleidigt? Das da ist ein großes College! Wollen wir hineinsehn?»

«Die Studenten kommen jetzt aus dem Speisesaal. Acht Uhr vorbei; bleiben wir lieber auf der Straße.»

Sie gingen über den Cornmarket zur Broad-Street, blieben vor den Statuen auf der rechten Seite stehn und wandten sich dann einem dämmerigen Platz zu; in der Mitte stand ein Rundbau, im Hintergrund eine Kirche, rechts und links College-Gebäude.

«Das muß das Herz der Stadt sein», meinte Clare. «Oxford hat zweifellos seine Vorzüge. Wenn die Leute auch die Peripherie verunstalten, diesem alten Viertel können sie nichts anhaben.»

Mit einem Schlag schien die Stadt zum Leben erwacht. Jünglinge eilten vorüber, trugen flatternde Talare über den Arm oder die Schultern geworfen. Einen von ihnen fragte der junge Croom, in welcher Gasse sie sich befänden.

«Das ist das Radcliff-Gebäude. Hier ist das Brasenose-College und dort drüben die Hauptstraße.»

«Und wie komme ich zur ‹Bischofsmütze›?»

«Gehn Sie rechts.»

«Danke.»

«Bitte sehr.»

Er neigte den blonden Kopf vor Clare und huschte davon.

«Nun, Tony?»

«Gehn wir hinein, auf einen Cocktail.»

Ein Motorradfahrer im Lederrock, die Kappe etwas tief im Gesicht, stand bei seinem Rad und faßte die beiden scharf ins Auge, als sie das Hotel betraten.

Nach einem Imbiß von Keks und Cocktails traten sie wieder auf die Straße und fühlten sich, wie der junge Croom feststellte, ‹quietschfidel›. «Zeit genug! Wir fahren über die Magdalenenbrücke durch Benson, Dorchester und Henley zurück.»

«Tony, halt auf der Brücke an. Ich möchte mir meinen Namensvetter, den Fluß, ansehn.»

Die Brückenlaternen warfen Lichtkegel auf den schwarzen Cherwellfluß, die Magdalenenbrücke lag massig im Dunkel da, weiter in der Ferne gegen die Christchurchwiesen zu glommen ein paar Lichter. Die breite, spärlich beleuchtete Straße, über die sie gekommen, lief zwischen düstern Häuserfassaden und Torbogen hin. Der kleine Fluß, über dem sie jetzt hielten, schien geheimnisvoll hinzugleiten.

«‹Der Char›, so nennt man ihn doch, gelt?»

«Im Sommer werd ich mir ein Boot anschaffen, Clare. Weiter oben ist der Fluß noch schöner als hier.»

«Willst du mich rudern lehren?»

«Wie kannst du fragen!»

«Fast zehn. Tony, das war ein schöner Ausflug.»

Verstohlen ruhte sein Blick auf ihr; dann ließ er den Motor an. Sie mußten beide immer in Bewegung sein. Wann war ihnen eine lange, wirkliche Rast vergönnt?

«Schläfrig, Clare?»

«Eigentlich nicht. Aber der Cocktail war stark. Wenn du müde bist, könnt ich chauffieren.»

«Müde? Was fällt dir ein! Ich dachte nur daran, daß jeder Kilometer uns dem Abschied näherbringt.»

Im Dunkel scheint einem ein Weg stets länger als bei Tag – und ganz verändert. Hundert Dinge tauchen auf, deren man sich nicht entsinnt: Hecken, Garben, Bäume, Häuser und Wegkreuzungen. Auch die Dörfer sehn anders aus. In Dorchester machten sie halt, um sich zu vergewissern, ob sie auf dem rechten Weg seien. Ein Motorradfahrer glitt an ihnen vorüber, und der junge Croom rief ihm zu: «Nach Henley?»

«Gradaus!»

Sie erreichten ein andres Dorf.

«Das muß Nettlebed sein», erklärte der junge Croom. «Jetzt kommt kein Dorf mehr bis Henley, und dann haben wir noch dreiundfünfzig Kilometer. Gegen zwölf sind wir in London.»

«Du Armer! Mußt noch den ganzen Weg zurück.»

«Ich werd drauflosfahren wie der Teufel. Ein gutes Betäubungsmittel.»

Clare berührte den Ärmel seines Mantels, dann versanken sie wieder in Schweigen.

Eben hatten sie einen Wald erreicht, da bremste er plötzlich. «Die Scheinwerfer sind ausgegangen!»

Ein Motorradfahrer schoß vorbei und rief ihm zu: «Ihre Scheinwerfer sind ausgegangen, Sir!»

Der junge Croom ließ die Maschine halten.

«Verdammtes Pech! Die Batterie muß ausgebrannt sein.»

Clare lachte. Er stieg aus und besah den Wagen prüfend von allen Seiten. «Ich erinnere mich an diesen Wald. Es sind noch fast acht Kilometer bis Henley. Wir müssen auf gut Glück langsam weiter.»

«Soll ich aussteigen und vorangehn?»

«Nein. Es ist stockfinster. Ich könnte dich am Ende überfahren.»

Nach etwa hundert Schritten hielt er wieder an.

«Ich bin von der Straße abgekommen. Noch nie bin ich in so pechfinstrer Nacht gefahren.»

Clare lachte wieder.

«Ein Abenteuer, mein Lieber!»

«Hätt ich nur eine Taschenlampe mit! Wenn ich nicht irre, geht es noch zwei bis drei Kilometer durch den Wald.»

«Versuchen wir's wieder!»

Ein Auto flitzte vorbei, der Lenker schrie ihnen etwas zu.

«Tony, halt dich an seine Lichter!» Doch er hatte den Motor noch gar nicht in Gang gebracht, da war das Auto auch schon um eine Wegbiegung oder in einer Senkung verschwunden. Sie fuhren im Schneckentempo weiter.

«Verdammt!» rief der junge Croom plötzlich, «schon wieder vom Weg ab!»

«Schieb den Wagen ganz von der Straße fort und laß uns überlegen. Kommt denn vor Henley kein einziges Dorf oder Gehöft mehr?»

«Keines. Übrigens hat man nicht überall Gelegenheit, eine Batterie zu laden; ich fürchte, auch die Glühlampe ist hin.»

«Sollen wir das Auto hierlassen und zu Fuß nach Henley gehn? Hier im Wald ist es wohl sicher.»

«Und was dann?» murmelte der junge Croom. «Bei Tagesanbruch muß ich mit dem Auto zurück sein. Weißt du was? Ich bringe dich zu Fuß ins Hotel, leih mir eine Taschenlampe aus und geh wieder zum Wagen zurück. Mit einer Taschenlampe könnt ich dann das Auto nach Henley schaffen oder bei ihm bleiben, bis es Tag wird, dann fahr ich nach Henley und du steigst bei der Brücke wieder ein.»

«Da müßtest du ja fünfzehn Kilometer zu Fuß laufen! Könnten wir denn nicht beide im Auto bleiben und den Sonnenaufgang abwarten? Ich hab mir schon immer gewünscht, einmal eine Nacht im Auto zu verbringen.»

Der junge Croom kämpfte mit sich. Eine ganze Nacht mit ihr – allein!

«Du traust mir also?»

«Schwatz nicht so altmodisches Zeug, Tony. Es ist das beste, was wir tun können, und ein Heidenspaß obendrein. Wenn ein Auto in uns hineinfährt oder wenn man uns hoppnimmt, weil wir ohne Lichter fahren, kann die Situation peinlich werden, verstehst du?»

«Der Mond scheint just nie, wenn man ihn braucht», murrte der junge Croom. «Meinst du's im Ernst?»

Clare tippte ihm auf den Arm.

«Schieb das Auto weiter in den Wald zwischen die Bäume. Ganz langsam. Achtung! Halt!»

Ein leichter Stoß.

«Wir sind an einen Baum angefahren», sagte Clare. «Wir stehn jetzt mit der Rückwand zur Straße. Ich werd aussteigen und mich umschaun, ob man uns sehn kann.»

Der junge Croom wartete und rückte für sie die Polster und die Decke zurecht. ‹Sie kann mich nicht wirklich lieb haben, sonst ließe sie die Sache unmöglich so kühl›, fuhr es ihm durch den Sinn. Er erbebte bei dem Gedanken, diese lange, dunkle Nacht mit ihr verbringen zu dürfen, obwohl er genau wußte, es würde eine Qual sein!

«Alles in Ordnung», ließ Clare sich vernehmen. «Keine Seele kann das Auto sehn. Steig du jetzt aus und zieh dich um. Ich setze mich wieder hinein.»

Schritt für Schritt mußte er sich vorwärtstasten. Nur der glattere Boden unter seinen Füßen verriet ihm, daß er die Straße erreicht habe. Dort war es nicht ganz so finster, doch sah er keine Sterne. Das Auto war vollkommen unsichtbar. Er wartete ein wenig, dann wandte er sich um und tappte zurück. Das Auto stand so verborgen, daß er pfeifen und auf ihre Antwort warten mußte, um es wiederzufinden. Pechfinstre Nacht, wahrhaftig! Er stieg in den Wagen.

«Fenster auf oder zu?»

«Laß es vielleicht halb offen. Tony, ich fühl mich sehr behaglich!»

«Gott sei Dank! Stört dich meine Pfeife?»

«Keine Spur. Reich mir eine Zigarette! Schöner kann man sich's fast nicht wünschen.»

«Fast», sagte er leise.

«Jetzt möcht ich Tante Emilys Gesicht sehn! Dir ist doch warm?»

«Durch das Leder dringt keine Kälte. Und dir?»

«Herrlich!» Schweigen. «Tony», sagte sie dann, «gelt, du bist mir nicht böse? Ich habe ein Versprechen gegeben.»

«Mach dir keine Sorgen», sagte der junge Croom.

«Ich seh grade nur deine Nasenspitze im Schein deiner Pfeife.»

Er dagegen sah beim Aufglühn ihrer Zigarette ihre Zähne, die lächelnden Lippen, ihr Gesicht bis zu den Augen, dann verschwand es wieder im Dunkel.

«Leg doch den Hut ab, Clare. Und hier hast du meine Schulter, lehn dich an, wenn du willst.»

«Weck mich, wenn ich schnarche.»

«Du – und schnarchen!»

«Ein jeder schnarcht manchmal. Und heute schnarch ich bestimmt.»

Sie plauderten noch eine Weile. Doch alles schien ihm unwirklich bis auf das eine, daß er neben ihr im Dunkel saß. Ab und zu hörte er ein Auto vorüberrattern, kein anderes Geräusch drang durch die Nacht; selbst für die Eulen war es zu dunkel. Seine Pfeife ging aus, er legte sie fort. Clare lag zurückgelehnt da, so nah bei ihm, daß er ihren Arm an seinem fühlte. Er hielt den Atem an. War sie eingeschlummert? Ach, er würde bestimmt kein Auge schließen, spürte er doch, wie die Wärme ihres Arms auf seinen überging, wie der zarte Duft ihres Parfums seine Sinne verwirrte. Schon das allein war so schön, daß es jammerschade gewesen wäre, zu schlafen.

«Wenn du wirklich nichts dagegen hast, Tony, möcht ich den Kopf auf deine Schulter legen», sagte sie schlaftrunken.

«Wie kannst du das sagen!»

Ihr Kopf kuschelte sich in seinen Schal, deutlicher spürte er jenen zarten Duft, der ihn an einen sonnigen Föhrenwald gemahnte. War es kein Traum, ruhte sie wirklich hier an seiner Schulter und würde noch sechs bis sieben Stunden so ruhn? Ein Schauer überlief ihn. So unbeweglich, so selbstverständlich lag sie da! Nicht das leiseste Zeichen von Leidenschaft oder Verwirrung – als wäre er ihr Bruder. Da kam ihm jäh die Erkenntnis: Diese Nacht stellte ihn auf eine Probe, die er bestehen mußte. Bestand er sie nicht, dann würde sie sich ihm entziehen und ihm unwiderstehlich entgleiten. Sie schlief, wahrhaftig! Dieses leise, regelmäßige Geräusch – wie das Glucken eines Kükens – ließ sich unmöglich vortäuschen, ein entzückendes Geräusch, ein wenig komisch, ihm aber über die Maßen kostbar! Was ihm jetzt auch widerfuhr – er hatte eine ganze Nacht mit ihr verbracht! Mäuschenstill saß er da, wenn Mäuse überhaupt so still sein können. Ihr Kopf wurde schwerer, sank vertrauensvoller an seine Schulter, je tiefer sie schlief. Während er so saß und lauschte, wurde sein Gefühl für sie noch tiefer, wurde zum glühenden Wunsch, sie zu beschützen, ihr zu dienen. Und die kühle, dunkle, stille Nacht war seine Gefährtin – kein Auto mehr fuhr vorüber; die Nacht erschien ihm plötzlich wie ein dunkles, gewaltiges, alles umhüllendes, atmendes Wesen, sie war wach wie er. Nein, die Nacht schlief nicht! Das empfand er jetzt zum ersten Mal in seinem Leben. Die Nacht war so wach wie der Tag. Dunkel und verschlossen lag sie da, doch merkte sie alles wohl. Sie schwieg, blieb reglos wie er, atmete nur und hielt Wache. Mochten nun Mond und Sterne scheinen, oder wie heute tiefes Dunkel alles umhüllen, die Nacht war eine mächtige Gefährtin.

Sein Arm wurde steif und, als würde Clare sich dessen im Schlaf bewußt, zog sie den Kopf fort, erwachte aber nicht. Gerade noch rechtzeitig rieb er sich die Schulter, denn schon im nächsten Augenblick sank ihr Kopf wieder schwerfällig zurück. Behutsam beugte er sich vor, bis seine Lippen ihr Haar berührten, und wieder vernahm er dieses sanfte, leise, rhythmische Glucken, das von einem ganz kleinen Küken zu kommen schien. Dann hörte es auf, ging in das tiefere Atemholen des festen Schlafes über. Auch ihn überkam Schläfrigkeit; er schlummerte ein.


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