Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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Seit Anton dies an Karl geschrieben, war längere Zeit vergangen, er hatte indes den Kranken täglich besucht. In dem Befinden Sturms war keine auffallende Änderung eingetreten, aber er hielt hartnäckig an seinem Entschluß fest, den Geburtstag nicht zu überleben. An einem Morgen kam der Bediente in Antons Zimmer und meldete, der Auflader Sturm wünsche ihn dringend zu sprechen.

«Ist er kränker?» fragte Anton erschrocken. «Ich gehe sogleich zu ihm.»

«Er ist selbst mit einem Wagen vor der Tür», sagte der Diener. Anton eilte vor das Haus. Dort hielt ein Fuhrmannswagen, über das Weidengeflecht waren große Tonnenreifen gespannt und über diese eine weiße Decke gezogen. Ein Zipfel der Leinwand schlug sich zurück, und der Kopf des Vater Sturm fuhr mit einer ungeheuren Pelzmütze heraus. Der Riese blickte auf Anton und die Hausknechte, welche sich um den Wagen drängten, von der Höhe herunter wie der große Knecht Ruprecht auf die erschrockenen Kinder. Aber sein eigenes Gesicht sah sehr bekümmert aus, dem herantretenden Anton hielt er ein Blatt Papier entgegen: «Lesen Sie dieses, Herr Wohlfart. Einen solchen Brief habe ich von meinem armen Karl bekommen. Ich muß sogleich zu ihm. – Auf das Gut hinter Rosmin», erklärte er dem Kutscher, einem stämmigen Fuhrmann, der neben dem Wagen stand.

Anton sah in den Brief, es waren die ungeschickten Buchstaben des Försters; erstaunt las er den Inhalt: «Mein lieber Vater, ich kann nicht zu Dir kommen, denn ein Sensenmann hat mir jetzt abgehauen, was von der Hand noch übrig war. Deshalb bitte ich Dich, sogleich nach Empfang dieses Briefes zu Deinem armen Sohn zu reisen. Du nimmst einen großen Wagen und fährst damit bis Rosmin. Dort hältst Du vor dem Roten Hirsch. Im Hirsch warten ein Wagen und ein Knecht vom Gut auf Dich. Der Knecht versteht kein Wort Deutsch, ist aber sonst ein guter Kerl, er wird Dich schon erkennen. Zu der Reise kaufst Du Dir einen Pelz, auch Pelzstiefel, diese müssen bis über die Knie gehen und unten mit Leder besetzt sein. Wenn Du für Deine großen Beine keine Stiefel findest, so muß der Gevatter Kürschner Dir noch in der Nacht über Deine Füße einen Pelz nähen. Grüße Herrn Wohlfart. Dein getreuer Karl.»

Anton hielt den Brief in seiner Hand und wußte nicht gleich, was er daraus machen sollte.

«Was sagen Sie zu diesem neuen Unglück?» fragte der Riese traurig.

«Jedenfalls müssen Sie sogleich zu Ihrem Sohn», erwiderte Anton.

«Natürlich muß ich hin», bestätigte der Auflader. «Das Unglück trifft mich hart, gerade jetzt, übermorgen sind's fünfzig.»

Anton merkte den Zusammenhang. «Sind Sie denn aber auch vorbereitet, wie Karl will?»

«Ich bin's», sagte der Riese und schlug die Leinwanddecke zurück, «es ist alles in Ordnung, der Pelz und auch die Stiefel.» Anton sah in den Wagen und hatte Mühe, ernst zu bleiben. In einen großen Wolfspelz eingewickelt, nahm Sturm die ganze Breite des Wagens ein. Auch seine Füße waren mit einem Wolfsfell übernäht; wenn er jemals einem Ungeheuer ähnlich gewesen, so war er es jetzt. Er stieß mit seiner Mütze oben an die weiße Leinwand, und die Säulen seiner Füße füllten den ganzen Wagenraum zwischen Vorder- und Rücksitz. Er saß auf einem Bettsack und hatte einen Futtersack zur Rücklehne. Das wenige, was noch von leerem Raum in dem Wagen übrig war, wurde in Anspruch genommen durch allerlei Ballen und Eßkober, welche die Kameraden ihrem scheidenden Obersten kunstvoll zusammengeschnürt und angebunden hatten; kleine Tonnen und Kisten waren um ihn herum eingestaut, und gerade vor ihm hingen eine geräucherte Wurst und eine Reiseflasche von dem Reifen herab. So saß er wie ein Bär der Urwelt in seinem Winterlager. Ein großer Säbel lehnte an seiner Seite: «Gegen diese Sensenmänner», sagte er und schüttelte ihn zornig. – «Jetzt habe ich noch eine große Bitte an Sie. Den Schlüssel zu meinem Hause verwahrt der Wilhelm, diese Kiste bitte ich Sie zu übernehmen, hierin steckt, was unter meinem Bett stand; heben Sie's auf für den Karl.»

«Ich werde die Kiste Herrn Schröter übergeben», erwiderte Anton, «er ist nach dem Bahnhof gefahren und muß jeden Augenblick zurückkehren.»

«Grüßen Sie ihn», sagte der Riese, «ihn und Fräulein Sabine, und sagen Sie beiden, daß ich ihnen von Herzen danke für alle Freundlichkeit, die sie in meinem Leben mir und dem Karl erwiesen haben.» – Bewegt sah er in den Hausflur hinein. «Manches liebe Jahr habe ich dort drinnen hantiert; wenn die Ringe an Ihren Zentnern glatt sind wie poliert, meine Hände haben redlich dazu geholfen. Was dieses Geschäft durchgemacht hat seit dreißig Jahren, das habe ich mit durchgemacht, Gutes und Trauriges; aber ich kann wohl sagen, Herr Wohlfart, wir waren immer tüchtig. Ich werde eure Fässer nicht mehr rollen», fuhr er, zu den Hausknechten gewandt, fort, «und ein anderer wird euch helfen die Leiterbäume an den Wagen setzen. Denkt manchmal an den alten Sturm, wenn ihr ein Zuckerfaß anbindet. Es kann nichts ewig bleiben auf der Welt, auch wer stark ist, geht zu Ende; aber diese Handlung, Herr Wohlfart, soll stehen und blühen, solange sie einen Chef hat wie diesen und Männer wie Sie und ehrliche Hände an der Waage. Dieses ist meines Herzens Wunsch.» Er faltete die Hände auf dem Weidengeflecht, und Tränen rollten über seine Wangen. «Und jetzt leben Sie wohl, Herr Wohlfart, geben Sie mir Ihre Hand.» Er zog einen großen Fausthandschuh aus und steckte seine Hand aus dem Wagen heraus. «Und ihr, Peter, Franz, Gottfried, ihr Hausknechte alle, lebt wohl und denkt freundlich an mich.» Der Hund Sabinens kam wedelnd an den Wagen und sprang an dem Weidenkorb herauf. «Da ist auch der alte Pluto!» rief Sturm und fuhr mit der Hand auf den Kopf des Hundes. «Pluto, adjes!» Der Hund leckte ihm die Hand. «Adjes, alles!» rief der Scheidende. «Nach Rosmin, Kutscher!» So zog er sich in den Wagen zurück. Der Frachtwagen rasselte über das Pflaster, nach einer Weile öffnete sich noch einmal die weiße Leinwand, der große Kopf sah noch einmal zurück, und seine Hand winkte.

Anton war durch mehrere Tage in lebhafter Besorgnis um das Schicksal Sturms. Endlich kam ein Brief von Karls Hand.

«Lieber Herr Wohlfart», schrieb Karl, «Sie werden wohl gemerkt haben, weshalb ich die letzten Zeilen an meinen Goliath schrieb. Er mußte fort aus seiner Stube, und ich mußte ihn von seinem Eigensinn wegen des Geburtstages abbringen. Deshalb erdachte ich in meiner Angst eine Notlüge. Es kam also folgendermaßen:

Am Tage vor seinem Geburtstage erwartete ihn der Knecht zu Rosmin im Hirsch. Ich selber war in die Schenke gegenüber geritten, um zu sehen, wie der Vater ankam und wie er aussah. Ich hielt mich versteckt. Gegen Mittag kam der Wagen langsam angerasselt. Der Fuhrmann half dem Vater vom Wagen, denn das Absteigen wurde ihm sehr sauer, so daß ich wegen der Beine große Furcht bekam, es war aber mehr der Pelz und das Schütteln des Wagens schuld. Der Alte nahm auf der Straße einen Brief in die Hand und las darin, dann stellte er sich vor den Jasch, der zum Wagen gelaufen war und der tun sollte, als verstehe er kein Wort Deutsch, und machte vor ihm verschiedene Zeichen und erschreckliche Bewegungen mit den Händen. Er hielt seine Hand zwei Fuß vom Steinpflaster, und als der Knecht mit dem Kopfe schüttelte, duckte der Alte sich selbst auf die Erde. Dies sollte soviel bedeuten wie ‹mein Zwerg›, aber der Jasch konnte es nicht verstehen; dann packte der Vater das Gelenk seiner einen Hand mit der andern und schüttelte die Hand heftig vor Jaschs Nase, so daß der Knecht, der ohnedies über den großen Mann erschrocken war, beinahe weggelaufen wäre. Endlich aber wurde der Vater mit seinen Sachen in unsern Korbwagen geschafft, nachdem er noch einigemal um den Wagen herumgegangen war und ihn mit Mißtrauen befühlt hatte. So fuhr er ab. Dem Knecht hatte ich gesagt, er sollte auf geradem Weg nach der Försterei fahren, und hatte mit dem Förster alles verabredet. Ich ritt auf einem Seitenwege vor, und als der Wagen gegen Abend ankam, sprang ich in des Försters Bett und ließ mir die Hand unter der Bettdecke festbinden. um sie nicht in der Freude herauszustecken. Als der Alte zu meinem Bett trat, war er so gerührt, daß er weinte, und es tat mir in der Seele weh, daß ich ihn täuschen mußte. Ich erzählte ihm, daß es schon wieder besser wäre und daß mir der Arzt erlaubt hätte, am nächsten Tag aufzustehen. Darauf wurde er ruhiger und sagte mir mit wichtiger Miene, das wäre ihm lieb, denn morgen wäre für ihn ein großer Tag, morgen müßte ich an sein Bett. Somit fing er wieder von seinem Unsinn an. Aber nicht lange, so wurde er lustig, der Förster kam dazu, und wir aßen, was das gnädige Fräulein mir vom Schloß geschickt hatte. Ich setzte dem Alten Bier vor, welches er sehr schlecht fand, darauf machte der Förster Punsch, und wir tranken alle drei recht tapfer, der Vater mit seinem verzweifelten Gedanken, ich mit der abgehauenen Hand und der Förster.

Von der langen Reise, der warmen Stube und dem Punsch wurde der Vater bald schläfrig. Ich hatte für eine große Bettstelle gesorgt, die in des Försters Stube aufgestellt war. Er küßte mich beim Gutenachtgruß noch auf den Kopf, klopfte auf die Bettdecke und sagte: ‹Also morgen, mein Zwerg.› Gleich darauf war er eingeschlafen. Und wie fest schlief er! Ich fuhr aus des Försters Bett und wachte die Nacht bei ihm in der Stube; es war eine bange Nacht, und ich mußte immer wieder auf seinen Atemzug hören. Spät am andern Morgen wachte er auf. Sobald der Alte sich im Bett rührte, trat der Förster in die Stube, und schon an der Tür schlug er die Hände zusammen und rief ein Mal über das andere: ‹Aber Herr Sturm, was haben Sie gemacht!› ‹Was habe ich denn gemacht?› fragte mein Goliath noch halb im Schlaf und sah sich ganz erstaunt in der Stube um. Es war ein großes Geschrei der Vögel, und die ganze Wirtschaft kam ihm so fremd vor, daß er gar nicht wußte, ob er noch auf der Erde war. ‹Wo bin ich denn?› rief er. ‹Dieser Ort steht nicht in der Bibel.› Der Förster aber rief immerzu: ‹Nein, so etwas ist noch nicht gehört worden!›, bis der Alte ganz erschrocken wurde und ängstlich fragte: ‹Na, was denn?› – ‹Was haben Sie gemacht, Herr Sturm!› rief der Förster, ‹Sie haben eine Nacht und einen Tag und wieder eine Nacht geschlafen.› ‹Warum nicht gar›, sagte mein Alter, ‹heut ist der Dreizehnte, es ist Mittwoch.› ‹Nein›, sagte der Förster, ‹heut ist der Vierzehnte, es ist Donnerstag.› So zankten die beiden miteinander. Endlich holte der Förster seinen Kalender, in welchem er alle vergangenen Tage ausgestrichen und auch den gegenwärtigen Mittwoch mit einem dicken Strich, und hatte zum Dienstag unter seine Bemerkungen geschrieben: ‹Heut 7 Uhr ist der Vater des Amtmanns Sturm angekommen, ein großer Mann, kann viel Punsch vertragen›, und Mittwoch: ‹Heut hat dieser Vater den ganzen Tag über geschlafen.› Mein Alter sah hinein und sagte endlich ganz verwirrt: ‹Es ist richtig. Hier haben wir's schriftlich. Dienstag um sieben Uhr bin ich gekommen, die Größe und der Punsch, alles stimmt, der Mittwoch ist quittiert, es ist heut Donnerstag, es ist der Vierzehnte.› Er legte den Kalender hin und saß ganz betreten in seinem Bett. ‹Wo ist mein Sohn Karl?› rief er endlich. Jetzt trat ich in die Stube, ich hatte meine Hand unter den Rock gebunden und verstellte mich ebenso wie der Förster, bis der Alte endlich rief: ‹Ich bin wie behext, ich weiß nicht, was ich denken soll.› ‹Siehst du denn nicht›, sprach ich, ‹daß ich außer Bett bin? Gestern, als du schliefst, war der Doktor hier und hat mir erlaubt aufzustehen. Jetzt bin ich schon so stark, daß ich den Stuhl hier mit steifem Arm heben kann.› ‹Nur nichts Schweres mehr›, sagte der Alte. ‹Und auch deinetwegen habe ich mit dem Doktor gesprochen›, redete ich weiter, ‹er ist ein kluger Mann und hat uns gesagt: entweder – oder; entweder er geht drauf, oder er schläft sich durch. Wenn er den ganzen Tag schläft, hat er's überstanden. Es ist gefährlich für ihn, es kommen manchmal solche Zufälle bei den Menschen vor.› ‹Bei uns Aufladern›, sagte der Alte. So brachten wir ihn dazu, daß er aus dem Bett aufstand. Und er war recht munter. Aber ich hatte doch den ganzen Tag große Sorge und ging ihm nicht von der Tasche. Er durfte nicht aus dem Hof heraus. Und doch wäre am Nachmittag bald alles verloren gewesen, als der Vogt kam, mich zu sprechen. Glücklicherweise hielt der Förster die Hoftür verschlossen, er ging hinaus und unterwies den Vogt. Als dieser hereinkam, rief ihm mein Vater schon von weitem entgegen: ‹Welcher Tag ist heut, Kamerad?› ‹Donnerstag›, sagte der Vogt, ‹der Vierzehnte.› Da lachte der Vater über das ganze Gesicht und rief: ‹Jetzt ist's sicher, jetzt glaub' ich's.› Noch eine Nacht schlief er beim Förster, bis der Geburtstag überstanden war.

Am nächsten Morgen ließ ich den Wagen kommen, fuhr den Vater nach dem Hof und führte ihn in die Stube gegenüber der meinen, wo der Techniker gewohnt hat. Ich hatte ihm die Stube schnell eingerichtet, Herr von Fink, welcher von allem wußte, hatte handfeste Möbel aus dem Schloß herüberschaffen lassen, ich hatte dem Vater den alten Blücher an die Wand gehängt, hatte die Rotkehlchen hereingelassen, die Hobelbank aufgestellt und einiges Werkzeug dazu, damit die Stube für ihn bequem war. Und jetzt sagte ich ihm: ‹Dies ist deine Wohnung, Alter. Du mußt jetzt bei mir bleiben.› ‹Oho›, sagte er, ‹dieses geht nicht, mein Zwerg.› ‹Es wird nichts anders sein›, sage ich wieder, ‹ich will es, Herr von Fink will es, Herr Wohlfart will es, Herr Schröter will es. Du mußt dich ergeben. Wir werden uns nicht mehr trennen, solange wir beide noch zusammen auf dieser Erde sind.› Und darauf zog ich meine Hand aus dem Rock und hielt ihm eine tüchtige Strafrede, wie ungesund sein Leben gewesen sei und daß er seiner Einbildung wegen mich verlassen wolle, so lange, bis er ganz weichherzig wurde und mir alles mögliche Gute versprach. Darauf kam Herr von Fink herüber und begrüßte den Vater in seiner lustigen Weise, und am Nachmittag kam das Fräulein und brachte den Herrn Baron geführt. Der blinde Herr freute sich außerordentlich über den Vater, seine Stimme gefiel ihm sehr, und er fühlte oft nach der Größe, und beim Abschied nannte er ihn einen Mann nach seinem Herzen. Und das muß wohl sein, denn der Herr kommt seitdem alle Nachmittage zum Vater in die kleine Stube und hört zu, wie der Vater schnitzt und pocht.

Noch ist der Vater verwundert über alles, was er hier sieht; auch mit dem Tage, den er verschlafen hat, ist er noch nicht ganz im reinen, obgleich er's merkt; denn er faßt mich manchmal mitten in der Unterredung beim Kopf und nennt mich einen Spitzbuben. Dieses Wort wird er jetzt wohl gleich an Stelle des alten ‹Zwerg› in seiner Rede einführen, obgleich es für einen Amtmann noch schlimmer ist. Er will sich auf die Stellmacherei legen, er hat heut bereits über Radspeichen geschnitzt. Ich fürchte nur, er wird sehr ins Schwere arbeiten. Ich bin froh, daß ich ihn hier habe und daß alles so abgelaufen ist; wenn er nur erst den Winter überstanden hat, wird er die Schwäche in seinen Füßen schon auslaufen. Das kleine Haus will er verkaufen, aber nur an einen Auflader. Er läßt Sie bitten, dasselbe dem Wilhelm anzufragen, welcher zur Miete wohnt, dieser soll's billiger haben als ein Fremder.»


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