Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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4

Schon stand die Sonne niedrig am Himmel, als die beiden Wanderer bei den ersten Häusern der Hauptstadt ankamen. Erst einzelne kleine Gebäude, dann zierliche Sommerwohnungen mitten in blühenden Gärten; dann rückten die Häuser dichter zusammen, die Straße schloß sich auf beiden Seiten, und mit dem Staube und dem Wagengerassel legte sich bange Sorge um die Brust unseres Helden. In dem Geflecht großer und kleiner Straßen wäre Anton ratlos gewesen, wenn ihn nicht sein Begleiter, der aus Achtung vor dem besseren Rock Antons hinter ihm geblieben war, durch laute Rechts und Links an den Straßenecken gelenkt hätte. Veitel Itzig aber hatte eine merkwürdige Vorliebe für krumme Seitengassen und schmale Trottoirs. Hier und da winkte er hinter dem Rücken seines Reisegefährten mit frecher Vertraulichkeit geputzten Mädchen zu, die an den Türen standen, oder jungen Burschen mit krummer Nase und runden Augen, welche, die Hände in den Hosentaschen, auf der Straße lungerten. Zuweilen wurde sein Gruß mit nachlässigem Kopfnicken erwidert, welches ungefähr bedeutete: «Er ist ein gutes Geschöpf, aber er hat kein Geld»; in der Regel ward seine Zuvorkommenheit mit kalter Verachtung hingenommen, welche der Pflastertreter der schmutzigen Nebenstraße da, wo nichts zu gewinnen ist, ebenso gut zu äußern weiß wie der schnurrbärtige Held der Granitplatten im eleganten Stadtteil. Endlich bogen die jungen Männer in eine Hauptstraße, wo große Häuser mit Säulenportalen, elegante Kaufläden und ein Gewühl gutgekleideter Menschen verrieten, daß hier der Wohlstand einen entschiedenen Sieg über die Armseligkeit davongetragen hatte. In dieser Straße hielten sie vor einem hohen Hause an. Itzig wies auf das Tor mit einer gewissen scheuen Achtung und sagte kurz: «Hier wohnt er, hier wirst du werden bald so stolz, wie diese Gojim sind; wenn du willst wissen, wo ich zu finden bin, so kannst du nachfragen im Geschäft bei Ehrenthal auf der Gerbergasse. Gute Nacht!» Er pfiff vor sich hin und schlenderte die Straße hinab, ohne sich umzusehen.

Anton trat mit klopfendem Herzen in den Hausflur und lockerte den Brief seines Vaters in der Brusttasche. Er war sehr kleinmütig geworden, und sein Kopf war so schwer, daß er sich am liebsten einen Augenblick hingesetzt hätte, um auszuruhen. Aber wie Ruhe sah es in dem Hause nicht aus. Vor der Tür stand ein großer Fracht-Wagen, in dem Hause mächtige Fässer und Ballen, und riesengroße, breitschultrige Männer mit Lederschürzen und kurzen Haken im Gürtel trugen Leiterbäume, klirrten mit Ketten, rollten die Fässer und schnürten dicke Stricke durch künstliche Knoten zusammen; dazwischen eilten Kommis, die Feder hinter dem Ohr, Papier in der Hand, ab und zu, und Fuhrleute in blauen Blusen nahmen die Papiere, die Ballen und die Fässer mit der geschäftlichen Würde in Empfang, welche die Tätigkeit aller verantwortlichen Menschen zu bezeichnen pflegt. Hier war kein Ort der Ruhe. Anton stieß an einen Ballen, fiel beinahe über einen Hebebaum und wurde durch das «Vorgesehen!», welches ihm zwei Enaksöhne mit Lederschürzen zuriefen, noch mit Mühe vor dem Schicksal bewahrt, unter einer großen Öltonne plattgedrückt zu werden.

Im Zentrum der Bewegung, gleichsam als Sonne, um welche sich die Fässer und Arbeiter und Fuhrleute herumdrehten, stand ein junger Herr aus dem Geschäft, ein Herr mit entschlossener Miene und kurzen Worten, welcher als Zeichen seiner Herrschaft einen großen schwarzen Pinsel in der Hand hielt, mit dem er bald riesige Hieroglyphen auf die Ballen malte, bald den Aufladern ihre Bewegungen vorschrieb. Diesen Herrn fragte Anton mit tonloser Stimme nach dem Prinzipal des Geschäftes und wurde durch eine kurze Bewegung des Pinselstiels in den hintern Teil des Hausflurs nach dem Kontor gewiesen. Zögernd trat er an die Tür, es kostete ihn einen großen Entschluß, den Griff mit der Hand zu drehen – er hat sich später oft daran erinnert –, und als die Tür geräuschlos aufging und er in das Dämmer der großen Arbeitsstube sah, da wurde ihm so angst, daß er kaum über die Schwelle schreiten konnte. Sein Eintritt machte wenig Aufsehen. Ein halbes Dutzend Schreiber fuhr hastig mit den Federn über die blauen Briefbogen, um noch die letzten Züge vor dem Schluß des Kontors und der Post zu tun. Nur einer der Herren, welcher zunächst der Tür saß, erhob sich und fragte in kühlem Geschäftston: «Was steht zu Ihren Diensten?»

Auf die schüchterne Erklärung Antons, daß er Herrn Schröter zu sprechen wünsche, trat aus dem zweiten Kontor ein großer Mann mit faltigem Gesicht, mit stehendem Hemdkragen, von sehr englischem Aussehen. Anton sah schnell auf das Antlitz, und dieser erste Blick, so ängstlich, so flüchtig, gab ihm einen guten Teil seines Mutes wieder. Er erkannte alles darin, was er in den letzten Wochen, ach, so oft ersehnt hatte, ein gütiges Herz und einen redlichen Sinn. Und doch sah der Herr streng genug aus, und seine erste Frage klang kurz und entschieden. Anton faßte schnell nach seinem Brief, nannte seinen Namen und erzählte hastig und mit stockender Stimme, daß sein Vater gestorben sei und daß er den Herrn von seinem Totenbette grüßen lasse.

Wie ein freundliches Licht flog es über das Auge des Kaufmanns, er öffnete den Brief schweigend, las ihn langsam durch, reichte dem bewegten Anton die Hand und sagte: «Seien Sie mir willkommen.» Darauf wandte er sich zu einem von den schreibenden Herren, welcher einen grünen Rock trug und einen grauen Überziehärmel um den rechten Arm gebunden hatte: «Herr Anton Wohlfart tritt von heut in unser Geschäft.» Einen Augenblick hörten die sechs Federn auf zu rennen, und ihre Lenker sahen im Tempo nach Anton hin; der Chef aber fuhr zu Anton gewandt fort: «Sie werden müde sein, Herr Jordan wird Ihnen Ihr Zimmer anweisen; ruhen Sie heut aus, morgen das Weitere.»

Nach diesen Worten wandte er sich mit leichtem Kopfnicken ab und ging nach dem zweiten Kontor zurück, wo ebenfalls sechs Federn über das blaue Papier fuhren, und jetzt mit solcher Schnelligkeit, daß sich der Federbart vor Aufregung sträubte, denn die alte Wanduhr hatte zum Schlage bereits ausgehoben.

Nur der alte Herr im grünen Rock streifte den grauen Ärmel ab, strich ihn sorgfältig glatt, schloß ihn mit einem Haufen Papiere in das Pult und lud Anton ein, ihm auf das Zimmer zu folgen. Wieder schritt Anton durch die Tür des Kontors, in welchem er nur zehn Minuten gewesen war; aber er war ein anderer Mann geworden, sein Schicksal war entschieden, er hatte jetzt eine Heimat, er gehörte in das Geschäft. Deshalb schlug er im Vorbeigehen herzhaft auf einen großen Ballen, wie man auf die Schulter eines guten Bekannten schlägt, wobei der grüne Herr sich umwandte und mit wohlwollender Herablassung zu ihm sagte: «Baumwolle»; und drei Schritt weiter klopfte Anton, Einlaß fordernd, an ein riesiges Faß, welches wohlbehäbig in einer Ecke stand wie ein dicker Pächter in seinem hellen Sommerrock, worauf sich wieder der grüne Herr umwandte und ebenso wohlwollend sagte: «Korinthen.» Jetzt stieß unsern Anton kein Hebebaum mehr, ja er selbst schob den einen mit kräftiger Fußbewegung beiseite, und einen Riesen mit lederner Schürze, der ihm begegnete, grüßte er mit sicherer Vertraulichkeit und fühlte sich behaglich, als der Riese ihm artig dankte, besonders als der grüne Herr wieder herablassend äußerte: «Der oberste Auflader.»

Durch den Hofraum gingen sie auf gewundenen Pfaden in ein Hintergebäude und stiegen drei ausgetretene Treppen hinauf. Dort öffnete Herr Jordan ein Zimmer und bemerkte gegen Anton, daß dies wahrscheinlich seine künftige Wohnung sein werde, es sei die frühere Behausung eines guten Freundes von ihm, der aus dem Geschäft geschieden sei und sich selbst etabliert habe. Es war ein sehr kleines Zimmer, die Möbel einfach und nicht neu, aber saubere weiße Gardinen und weiße Rouleaus vor den Fenstern und auf dem Schreibtisch eine schöne Katze aus Gips, mit gelblicher Lederfarbe lackiert, so daß sie aussah wie eine lebende. Diese Katze hatte der etablierte Kollege zum Besten seines Nachfolgers in der Stube zurückgelassen.

Herr Jordan eilte in das Kontor zurück, in dem er der erste und letzte sein mußte, weil ihm ein Teil der Schlüssel anvertraut war, und Anton blieb allein. Mit Hilfe eines freundlichen Bedienten, welcher ihm schnell das Zimmer wohnlich zu machen suchte, ordnete er seinen Anzug und war eben damit fertig, als zahlreiche Tritte auf den Treppen verkündeten, daß seine Kollegen aus dem Geschäft in ihre Zimmer eilten.

Wieder erschien der grüne Herr und teilte ihm mit, Herr Schröter sei zu einer Konferenz und heut nicht mehr zu sprechen. Dagegen sei seine Ansicht, daß der Ankömmling den einzelnen Herren Besuch machen müsse, um die Bekanntschaft mit ihnen auf anständige Weise einzuleiten. Ein Frack sei nicht nötig.

Anton stieg mit seinem Begleiter einige Treppen herunter, und Herr Jordan war im Begriff, an einer Tür anzuklopfen, als der Bewohner des Zimmers ihm entgegentrat, ein schöner schlanker Mann von mäßiger Größe und einem Wesen, welches unserm Helden sehr imponierte. Er hatte seinen Anzug gewechselt, trug kurze Beinkleider und Stulpenstiefel, eine Jockeimütze auf dem Kopf und eine Reitgerte in der Hand, die er unternehmend schwenkte.

«Führen Sie Ihr Füllen schon an der Leine?» sagte der Junker in den Stulpenstiefeln lächelnd zu dem Führer. Herr Jordan stellte sich feierlich auf und präsentierte: «Herr Wohlfart, der neue Lehrling, soeben angekommen. – Herr von Fink, Sohn der großen Firma Fink und Becker in Hamburg.»

«Erbe des größten Tranvorrats von der Welt und so weiter», unterbrach ihn Herr von Fink nachlässig. «Jordan, geben Sie mir zehn Taler, ich will den Reitknecht bezahlen. Schreiben Sie's zu dem übrigen.» Jordan holte bereitwillig ein Kassenbillett aus seiner Brieftasche und überreichte es dem Jockei, der es zusammenknitterte und in die Westentasche steckte; worauf er mit einiger Höflichkeit zu Anton sagte: «Wenn Sie mich besuchen wollen; wie ich aus dem festlichen Gesicht Ihres Merkurs merke, so bedauere ich, heute nicht zu Hause zu sein, ich will ein neues Pferd kaufen. Ihren Besuch nehme ich als geschehen an, ich danke Ihnen in aller Feierlichkeit dafür und gebe Ihnen meinen Segen zu Ihrem Eintritt.» Er nickte gleichgültig mit dem Kopf und schritt klirrend die Stufen hinab und über die Steinplatten des Hofes.

Antons Behagen erlitt durch das kühle Benehmen des Herrn einen großen Stoß, und er dachte verschüchtert: Wenn die andern Herren vom Geschäft ebenso sind, so wird es mir schwer werden, mit ihnen umzugehen. Auch Herr Jordan fand nötig, das auffallende Benehmen des Jockeis zu erklären, und sagte mit vertraulicher Wichtigkeit: «Fink gehört nur halb in unser Geschäft, er ist erst seit kurzer Zeit hier, von seinem Vater aus New York gezogen und hierher versandt worden, um bei uns vernünftig zu werden.»

«Ist er denn nicht vernünftig?» fragte Anton neugierig.

«Nur zu wild, liebt den Sport, ist aber sonst ein guter Gesellschafter», sagte Herr Jordan. «Die andern Herren habe ich zu mir auf die Stube gebeten, um Sie mit allen bekannt zu machen; wir werden dort eine Tasse Tee trinken. Morgen machen Sie den einzelnen Besuch auf ihren Zimmern.»


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