Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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«Hole die Papiere», erwiderte Bernhard. «Ich will mit meinen Augen sehen, wie du dem Herrn zurückgibst, was er geschrieben hat, und wie du aus seiner Hand empfängst, was er dir noch geben kann.»

Ehrenthal holte sein Taschentuch hervor und weinte laut: «Er ist krank. Ich soll ihn verlieren und soll auch verlieren mein Geld.» Der Freiherr saß unterdes schweigend auf seinem Stuhl und sah vor sich nieder. An dem Fenster aber ballte Itzig krampfhaft die Hand, und ohne daß er es merkte, zerrte er die Gardine von der Stange.

Der Sohn sah unverwandt auf die Windungen des Vaters und rief endlich mit Anstrengung: «Ich will es, Vater, hole die Papiere!» Dann sank er in die Kissen zurück. Der Vater wollte sich auf ihn stürzen, aber mit einer kurzen Gebärde des Widerwillens wies Bernhard ihn zurück, und mit Mühe aufatmend, sagte er: «Es ist genug, du tust mir weh.»

Da fuhr Ehrenthal auf, ergriff seinen Kronleuchter und wankte aus dem Zimmer. Still war es in dem Raum, nur die ängstlichen Atemzüge der Zurückbleibenden wurden gehört. Immer noch saß der Freiherr gebeugt, aber in der Abspannung fühlte er etwas durch seine Seele zucken, was aussah wie Freude. Er sah eine Stelle an seinem Himmel, wo die Sonne aus den dunklen Wolken brach. Er war gerettet. Sein Ehrenwort war ihm zurückgegeben und neue achttausend Taler von dem Manne am Fenster in Aussicht. Jetzt konnte er wieder aufblicken, er durfte wieder sein Haupt hoch tragen. Er faßte die Hand des Kranken, drückte sie und sagte leise zu ihm: «Ich danke Ihnen, mein Herr, o wie danke ich Ihnen, Sie sind mein Retter. Sie schützen meine Familie vor Verzweiflung und mich vor der Schande.»

Bernhard hielt die Hand des Freiherrn fest, und ein seliges Lächeln flog über sein Gesicht. Unterdes schlug am Fenster einer mit den Zähnen zusammen in verzweifelter Spannung und preßte seinen Leib fest an die Mauer, um das Fieber zu bändigen, das ihn schüttelte.

So blieb es lange still in der Stube, niemand sprach, Ehrenthal kam nicht zurück. Plötzlich wurde die Entreetür aufgerissen, in voller Wut stürzte ein Mann in das Zimmer, das Gesicht verstört, die Haare zerrauft. Es war Ehrenthal. – Er hielt das flackernde Licht in der Hand, aber nichts anderes.

«Verschwunden!» schrie er und schlug die Hände zusammen, daß das Licht auf den Boden fiel. «Alles ist fort, gestohlen ist alles!» Er stürzte auf dem Bett seines Sohnes nieder und streckte die Arme nach dem Kranken aus, als wollte er von ihm Hilfe erflehen. Der Freiherr sprang auf, nicht weniger entsetzt als Ehrenthal. «Was ist gestohlen?» rief er den andern an.

«Fort ist alles», stöhnte Ehrenthal, nur auf seinen Sohn blickend, «die Verschreibungen sind fort, die Hypotheken sind fort. Ich bin beraubt!» schrie er aufspringend, «Diebstahl, Einbruch! Schickt nach der Polizei!», und wieder stürzte er hinaus, der Freiherr hinter ihm.

Betäubt, halb ohnmächtig sah Bernhard ihnen nach. Da trat vom Fenster er, der zurückgeblieben war, an das Bett. Der Kranke warf sein Haupt zur Seite und starrte auf den Mann wie der ermattete Vogel auf die Schlange. Es war das Gesicht eines Teufels, in das er blickte, rotes Haar stand borstig in die Höhe, Höllenangst und Bosheit saß in den häßlichen Zügen. Bernhard schloß die Augen und hielt die Hand vor. Aber das Gesicht kam näher an ihn heran, und eine heisere Stimme flüsterte in sein Ohr.

Unterdes standen unten im Kontor zwei Männer einander gegenüber und sahen einander mit nichtssagenden Blicken an. Die Kassette mit ihrem Inhalt war verschwunden, was der Freiherr auf das Pult gelegt hatte, war verschwunden. Ehrenthal hatte mit seinen Schlüsseln geöffnet wie immer, nichts an den Schlössern war versehrt, alles im Kontor lag an seiner Stelle. Wenn in dem offenen Geldschrank Geld fehlte, so konnte es nur wenig sein. An den wohlverwahrten Fensterläden war keine Spur von Verletzung, es blieb unbegreiflich, wie die Dokumente genommen waren.

Die beiden Männer liefen in den Hausflur, dort leuchteten sie umher, hinter der Treppe, hinter einer alten Kiste, in dem Eingang zum Keller, in dem schwarzen Hofraum, nirgend war etwas zu sehen. Sogar die Haustür war verschlossen; sie erinnerten sich, daß der vorsichtige Buchhalter beim Heraufgehen das getan hatte. Und wieder rannten sie zurück in das Kontor und durchsuchten jeden Winkel immer hastiger, immer angstvoller. Dann saßen sie einander gegenüber mit blutlosen Wangen in einer Angst, welche mit jeder Minute stieg, jeder dem andern mißtrauend, jeder mit feindlichem Blick auf den andern schielend, ob nicht ein Zeichen das böse Gewissen verrate. Und wieder sprangen beide auf und überschütteten einander mit Vorwürfen, wie sie die Verzweiflung eingibt, und während sie wie Wilde gegeneinander die Hand erhoben, empfanden beide, daß der andere ebensoviel verliere als der eine und daß sie Grund hatten, ihre Stimme zu mäßigen, damit kein Fremder Zeuge des Auftritts werde.

Aus Ehrenthals Kontor waren die Papiere verschwunden in dem Augenblick, wo er widerwillig dem Drängen seines Sohnes nachgab, sich mit dem Freiherrn zu versöhnen. Er hatte noch kaum in die Versöhnung gewilligt, er allein war gegangen, die Papiere zu holen. Würde man ihm glauben, daß sie gestohlen waren? Würde sein eigener Sohn ihm glauben?

Und wieder, dem Freiherrn hing an den Papieren alles, oh, sein Verlust war der größte. Eben erst hatte er sich einer Hoffnung auf Rettung hingegeben, jetzt sank er in einen Abgrund, dessen Tiefe das Auge des Fallenden noch gar nicht messen konnte. In fremden Händen waren die Scheine. Wenn der Dieb sie zu benutzen verstand, ja, wenn der Diebstahl nur vor Gericht angezeigt wurde, so war er verloren. Und wenn sie sich nicht wiederfanden, auch dann war er rettungslos verloren. Jahre konnte es dauern, bis ihm die verlorenen Hypotheken vom Gericht neu ausgefertigt wurden, und sein Schicksal mußte sich in Wochen entscheiden. Er war nicht imstande, sich mit dem feindseligen Ehrenthal auseinanderzusetzen, er war nicht imstande, andern Gläubigern Deckung zu geben. Jetzt war er unrettbar verloren. Vor ihm lagen Armut, Verfall, Schande. Wieder fiel ihm jenes Ehrengericht ein, seine Kameraden und der unglückliche junge Mann, der sich selbst gerichtet hatte. Er hatte damals den Toten ansehen müssen, er wußte, wie einer aussah, der so gestorben war. Er wußte jetzt auch, wie man dazu kam, so zu sterben. Sonst hatte ihm gegraut, wenn er an das Bild des Toten dachte, jetzt fühlte er kein Grauen mehr. Seine Lippen bewegten sich, und wie im Traume sprach er zu sich selbst die tröstenden Worte: «Das ist die letzte Hilfe.»

So saßen die beiden Männer einander gegenüber und brüteten vor sich hin, und die Minuten, welche über ihr Haupt zogen, entstellten ihr Antlitz und ihr Urteil.

Hastiger flackerte das Licht, die Tür wurde aufgerissen, langsam wendeten die beiden ihr Gesicht dem Eintretenden zu. Ein häßlicher Kopf erschien an der Tür, und ein wilder Ruf wurde gehört: «Hinauf, Hirsch Ehrenthal, Euer Sohn stirbt.» Die Erscheinung verschwand, mit einem lauten Schrei stürzte Ehrenthal nach der Tür, der Freiherr wankte als ein müder Mann zum Hause hinaus.

Als der Vater am Bett seines Sohnes niederfiel, hob sich noch einmal eine weiße Hand drohend in die Höhe, dann sank ein toter Leib zurück. Bernhard fuhr nach der Sonne.

Draußen war ein warmer Abend. Ein leichter Wolkenduft bedeckte die Sterne des Nachthimmels, aber ein heimliches Dämmerlicht erhellte die Erde. Von dem blühenden Gebüsch der öffentlichen Anlagen trieb der Luftzug balsamische Düfte in die Straßen der Stadt. Langsam zogen die heimkehrenden Spaziergänger an den Häusern entlang, es wurde ihnen schwer, die südliche Luft zu verlassen und sich in ihre Mauern einzuschließen. Behaglich dehnte sich der Bettler auf der Schwelle des steinernen Palastes; jeder Gesell, der ein Liebchen hatte, eilte heut zu ihr und führte sie durch die Straßen; wer müde war, heut vergaß er die Arbeit des Tages, wer Kummer hatte, heut fühlte er ihn wenig, wer sonst das ganze Jahr allein stand, heut suchte er den Nachbar auf. Vor den Türen standen die Leute, plauderten und lachten, die Kinder spielten auf der Straße, sie haschten einander in der Dämmerung und tanzten auf den Granitplatten des Pflasters. Heute schmetterte die Nachtigall im Bauer ihr bestes Lied, sie sang, daß der schöne Frühsommer da sei, die glückliche Zeit, wo das Leben leicht wird und die Hoffnungen sich zur Blüte entfalten.

Durch die Schwärme der Spaziergänger schritt schwerfällig die hohe Gestalt eines Mannes, den Kopf auf der Brust. Seine Pferde stampften ungeduldig auf das Pflaster und erwarteten die Rückkehr des Herrn, um ihn aus dem Gewühl der Arbeiter in das vornehme Quartier zu führen. Sie warteten umsonst bis in die Nacht hinein; der, dem sie dienten, hatte sie vergessen. Er hörte nichts von dem Ruf der Nachtigall und trat durch den Kreis der tanzenden Mädchen, ohne einen Laut von den fröhlichen Kinderstimmen zu vernehmen. Sein Haupt war ihm schwer und träge der Zug seiner Gedanken. So kam er aus der Stadt in die Anlagen, er stieg langsam einen blumengeschmückten Hügel hinan und setzte sich dort ermüdet auf eine Bank. Unten vor seinen Füßen zog der dunkle Strom dem Meere zu, ihm gegenüber erhoben sich die gewaltigen Massen des alten Doms. Der Fluß vor ihm war bedeckt mit Holzflößen, welche vom Oberlauf des Stromes herkamen, um weit hinabzufahren bis in die Nähe der See. Auf den Flößen standen die Hütten der Ruderknechte, daneben loderten kleine Feuer, an denen die Leute ihre Abendkost bereiteten. Durch die stille Luft klang zuweilen das laute Gelächter oder ein roher Schrei der Fährleute zu ihm herauf. Das flutende Wasser, die kühnen Umrisse der Türme, den duftigen Wolkenschleier hoch oben sah er wie im Nebel, nur ein Gedanke blitzte in seinem finstern Gemüt auf wie der feurige Punkt dort unten auf dem Fluß. Auch er hatte mit geflößtem Holz Geschäfte gemacht, und das Geld, was er dabei gewonnen, wurde von andern ein Sündengeld genannt. Es war fremdes Eigentum wie die Summe, die der Mann mit der Pistole genommen hatte. Er stand hastig auf und eilte den Hügel hinab.

In einer Allee hoher Platanen lief er hin und her, und wieder blieb er ermüdet stehen und stützte seinen Rücken an einen Baumstamm. Vor ihm stiegen Schornsteine des Quartiers auf, in dem sich die Fabriktätigkeit der Stadt angesiedelt hatte, eine Reihe riesiger Obelisken ragte hoch über die Dächer der Menschenwohnungen. Er wußte, was das bedeutete, eine solche Säule in die Wolken bauen. Auch er hatte in den Grund des Baues alles hineingeworfen, was ihn bis dahin schützend umgeben hatte, seine Kraft, sein Geld, seine Ehre. Mit schlaflosen Nächten, mit grauem Haar hatte sein Wahnwitz ein solches Monument bezahlt, es war die Leichensäule seines Geschlechts, die er auf seinem Gute aufgebaut hatte. Und was er hier vor sich sah in dem undeutlichen Lichte der Nacht, das war ein ungeheurer Kirchhof, viele schattenhafte Denkmäler, unter welchen der Seelenfrieden glücklicher Menschen eingesargt lag. Und er nickte mit seinem Haupt und sagte, so daß er selbst die Worte vernahm: «Das war das letzte.» Er richtete sich auf und schritt seinem Hause zu.

Auf dem Wege empfand er, wie behaglich ihm war, an das zu denken, was ihn von solchen häßlichen Bildern befreien konnte. So trat er in sein Haus. Er machte ein freundliches Gesicht, als ihm die Lampe des Flurs auf die Augen schien. Als er in dem Entree stand, hörte er in dem Zimmer der Baronin sprechen. Lenore las vor. Er hörte zu und merkte, was sie vorlas, war aus einem Roman. Er durfte die Frauen nicht erschrecken. Aber es war ein Hinterzimmer im Hause, abgelegen, die Stube daneben unbewohnt, dorthin mußte er gehen. Als er noch so stand, öffnete sich die Tür, und die Baronin sah heraus. Unwillkürlich fuhr sie zurück, als sie ihn an der Tür erblickte. Er lächelte und trat mit munterm Schritt in das Zimmer. Seiner Frau gab er die Hand, er strich über Lenorens Haupt und beugte sich nieder, um zu sehen, was sie las. Die Baronin klagte, daß sie den Tee ohne ihn getrunken, und er scherzte über ihre Ungeduld, die den Lieblingstrank nicht erwarten konnte. Dabei dachte er, daß es ihm selbst auf eine Stunde durchaus nicht ankomme. Er trat zu dem Bauer, in welchem zwei kleine Vögel aus fremdem Lande schlafend auf der Stange saßen, dicht aneinandergedrängt, ein Köpfchen an das andere gelehnt; er steckte den Finger zwischen die metallnen Stäbe, als wollte er sie streicheln, und sagte gedankenlos: «Sie sind zur Ruhe gegangen.» Dann nahm er die Kerze aus der Hand des Bedienten und schritt nach der Tür seines Zimmers. Als er den Griff anfaßte, bemerkte er, daß das Auge seiner Frau ängstlich auf ihn gerichtet war, er wandte sich noch einmal zu ihr und nickte ihr freundlich zu. Dann schloß er die Tür. Er holte einen polierten Kasten aus seinem Schreibtisch und trug ihn mit dem Licht nach der Eckstube des Hauses. Hier war er sicher, niemanden zu stören.

Langsam lud er. Während des Ladens sah er auf die eingelegte Arbeit des Kolbens. Es war die mühsame Arbeit eines armen Teufels von Büchsenmacher, seine Bekannten hatten sie oft bewundert; die Pistolen selbst waren ein Geschenk des Generals, der bei seiner Hochzeit den Brautvater seiner elternlosen Gemahlin gemacht hatte. Schnell drückte er den Ladestock in den Lauf; dann sah er hinter sich, wenn er fiel, wollte er nicht auf dem Boden liegen. Er durfte die, welche eintraten, nicht durch den häßlichen Eindruck erschrecken, den ihm der Kamerad auf der Diele gemacht hatte.

Er setzte das Eisen an seine Schläfe. Da wurde der gellende Schrei einer Frau gehört, sein Weib stürzte in das Zimmer; sein Arm wurde mit der Kraft der Verzweiflung gefaßt, er zuckte zusammen, der Finger berührte den Drücker. Ein Feuerstrahl und ein Knall, und er sank in das Sofa zurück und fuhr ächzend mit beiden Händen nach seinen Augen.

Im Hause des Händlers aus dem Zimmer des Toten stieg ein Vater, das Licht in der Hand, die Treppe hinab in das Kontor. Ängstlich leuchtete er auf das Pult, in den Schrank, in alle Ecken des Raumes, er setzte sich nieder, schüttelte den Kopf und wunderte sich. Dann verschloß er sein Kontor, stieg wieder hinauf und fiel mit Stöhnen und Geschrei an dem Bett nieder. So trieb er es die ganze Nacht hindurch, klagend und suchend, ein verstörter, abgelebter, zugrunde gerichteter Mann.


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