Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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Die Frau trat aus dem Hause, eine saubere Gestalt, gefolgt von dem krausköpfigen Knaben, der beim Anblick der Fremden schleunigst seine Finger in den Mund steckte und sich hinter der Schürze seiner Mutter verbarg. Anton fragte nach dem Mann. «Er kann Ihren Wagen vom Felde sehen, er wird sogleich hier sein», sagte die errötende Frau. Sie bat die Herren in die Stube und stäubte mit ihrer Schürze eilig zwei Holzstühle ab. Es war ein kleines geweißtes Zimmer, die Möbel mit roter Ölfarbe gestrichen, aber sauber gewaschen, im Kachelofen brodelte der Kaffeetopf, in der Ecke tickte die Schwarzwälder Uhr, und auf einem kleinen Holzgestell an der Wand standen zwei gemalte Porzellanfiguren und einige Tassen, darunter wohl ein Dutzend Bücher; hinter dem kleinen Wandspiegel aber steckten die Fliegenklappe und eine Birkenrute, sorgfältig, mit rotem Band umwunden. Es war der erste behagliche Raum, den sie auf der weiten Gutfläche gefunden hatten.

«Ein Gesangbuch und eine Rute», sagte Anton freundlich. «Ich hoffe, Sie sind eine brave Frau. Komm her, Blondkopf!» Er zog den verdutzten Knaben auf seinen Schoß und ließ ihn auf dem Knie reiten, im Schritt, im Trab und Galopp, bis der kleine Kerl sich entschloß, seine Hände anderswo unterzubringen als im Munde. «Er kennt das», sagte die Frau erfreut, «sein Vater macht's ihm gerade so, wenn er artig ist.»

«Sie haben eine schwere Zeit durchgemacht», warf Anton hin.

«Ach, Herr», rief die Frau, «als wir hörten, daß eine deutsche Herrschaft das Gut gekauft hätte und daß wir jetzt alles für Sie zusammenhalten müßten und daß Sie nächstens kommen würden und vielleicht hierher ziehen, da haben wir uns gefreut wie Kinder. Mein Mann war den ganzen Tag wie einer, der in der Schenke gewesen ist, und ich habe vor Freude geweint. Wir glaubten, daß jetzt Ordnung werden sollte, und man will doch wissen, für wen man arbeitet. Mein Mann hat ernsthaft mit dem Schäfer gesprochen – er ist auch aus unserer Gegend -, und die beiden Männer haben miteinander abgemacht, daß sie es nicht leiden wollen, wenn der Inspektor noch etwas verkauft. Und dasselbe hat mein Mann dem Inspektor gesagt. Aber niemand ist gekommen in vielen Wochen, wir haben alle Tage in der Schenke nachgefragt, und mein Mann ist in Rosmin beim Gericht gewesen und hat sich erkundigt, bis es zuletzt hieß, Sie würden gar nicht kommen und das Gut würde wieder verkauft werden. Da, es sind jetzt vierzehn Tage her, ist der Inspektor mit einem fremden Fleischer angefahren und hat verlangt, mein Mann solle ihm die Hammel übergeben. Mein Mann hat sich geweigert. Da haben sie ihm gedroht und mit Gewalt in den Schafstall gewollt. Und der Schäfer und mein Mann haben sich davorgestellt und die beiden zurückgeworfen. Darauf sind diese mit Flüchen weggefahren und haben gewettert, sie würden sich die Schafe doch holen. Seit der Zeit haben unsere Männer jede Nacht gewacht, dort hängt die geladene Flinte, die sich der Vogt dazu geborgt hat; und wenn des Schäfers Hund bellte und sich etwas im Hofe rührte, bin ich aufgefahren und habe um den Mann und das Kind eine fürchterliche Angst gehabt. Es sind gefährliche Menschen hier, Herr Oberamtmann, und Sie werden das auch finden.»

«Ich hoffe, vieles soll jetzt besser werden», sagte Anton. «Ihr habt ein einsames Leben hier.»

«Es ist wohl einsam», sagte die Frau. «Nach dem Dorfe kommen wir fast gar nicht und nur manchmal des Sonntags in die deutschen Dörfer, wenn wir zur Kirche geben. Aber es gibt immer im Hause zu schaffen, und», fuhr sie verlegen fort, «ich will's nur gerad heraussagen, wenn es Ihnen nicht recht ist, soll es auch aufhören. Ich habe einen kleinen Fleck hinter der Scheuer umgegraben, wir haben ihn eingezäunt und einen Garten daraus gemacht, da habe ich mir gezogen, was ich für die Küche brauchte, und dann», fuhr sie stockend fort, «dann sind auch noch die Hühner – und auch ein Dutzend Enten, und wenn Sie nicht böse sein wollten, die Gänse auf der Stoppelweide und», sie fuhr mit der Schürze an die Augen, «noch die Kuh und das Kalb.»

«Unser Kalb», rief der kleine Blondkopf laut und schlug mit den Händen auf Antons Knie.

«Wenn Ihnen nicht recht ist, daß ich das Vieh für mich gehalten habe», fuhr die Frau weinend fort, «so soll ja alles aufhören. Lohn haben mein Mann und der Schäfer seit der letzten Wollschur nicht bekommen, und was wir zum Leben gebraucht, das haben wir uns durch Verkauf schaffen müssen; aber mein Mann hat Rechnung geführt über alles und wird sie Ihnen vorlegen, damit Sie sehen, daß wir keine unehrlichen Leute sind.»

«Ich hoffe, es wird sich so ausweisen», tröstete Anton die aufgeregte Frau. «Unterdes zeigen Sie mir Ihren Garten; wenn es möglich ist, sollen Sie ihn behalten.»

«Es ist nichts mehr darin», sagte die Frau entschuldigend und führte die Gäste zu dem eingehegten Platz, dessen Beete schon in großen Schollen umgegraben waren für die Winterruhe. Sie beugte sich nieder und suchte von Blumen zusammen, was sie noch fand, einige Astern und ihren Stolz, die Herbstveilchen. Sie band einen Strauß und überreichte ihn Anton. «Weil Sie ein Deutscher sind», sagte sie dabei mit freudigem Lächeln.

Im Hofe hörte man eilige Schritte. Der Vogt kam in der Arbeitsjacke mit geröteten Wangen heran und stellte sich vor. Es war ein junger stattlicher Mann von verständigem Wesen mit einem Zutrauen erweckenden Gesicht. Anton sagte ihm einiges Ermunternde, und im Diensteifer eilte der Mann ins Haus und brachte seine Rechnungen herzu.

«Erst betrachten wir die Wirtschaft», sagte Anton, «die Bücher nehme ich mit, Ihr kommt morgen auf das Schloß, dort besprechen wir das Weitere.»

«Die Pferde sind auf dem Felde», erklärte der Vogt, «ich selbst führe den einen Pflug, bei dem andern muß Schäfers Knecht helfen. Es sind nur vier Pferde hier, sonst standen zwölf in dem Stall. Wir haben in diesem Jahre wenig mehr gebaut als unser Deputat und Futter für das Vieh. Es fehlte an allem.»

Der Gang durch die Wirtschaftsräume war doch erfreulich, die Gebäude waren in erträglicher Ordnung, und die vorhandenen Vorräte gaben Hoffnung, die Herde über den Winter zu erhalten. Zuletzt öffnete der Vogt mit freudigem Gesicht eine Tür im Bodenraum des Wohnhauses und wies auf einen Haufen Erbsen. «Das Stroh haben Sie über dem Schafstall gesehen, hier sind die Erbsen selber, ich habe sie vor dem Inspektor versteckt, weil ich dachte, sie gehörten Ihnen. Es war Eigennutz dabei», fuhr er ehrlich fort, «denn wir waren so gestellt, daß wir nichts erhielten, und ich mußte auf etwas denken, was diesem Vorwerk das Leben rettete, wenn der Winter keine Hilfe brachte.»

Die Frau des Vogts trat mit ihrem Knaben herzu, als die Männer aufbrachen, ihr Gesicht leuchtete vor Freude über die bevorstehende Verbesserung ihrer Lage.

«Es ist gut», sagte Anton lächelnd, «ich hoffe, wir werden miteinander zurechtkommen. Und jetzt zu den Schafen. Wir gehen, kommt mit uns, Vogt.» Der Wagen fuhr langsam über das Feld voraus, der Vogt erklärte eifrig den Zustand der Feldstücke; nicht der vierte Teil des Ackers, welcher zu dem Vorwerk gehörte, war bestellt, lange Strecken lagen seit Jahren als Weideland in Ruhe.

Ungeduldig eilte Karl voraus, als sie sich dem wolligen Volk näherten, welches gegenwärtig fast der einzige Schatz lebender Wesen war, der dem Gute gehörte. Langsam mit breitem Schritt kam der Schäfer den Fremden entgegen, begleitet von seinen zwei Hunden, dem erfahrenen alten, welcher gleichen Schritt mit seinem Herrn hielt und, ebenso bedächtig wie sein Brotherr, das neue Schicksal des Gutes herankommen sah, und von einem jungen Köter, der als Lehrling in dem schweren Berufe eines Schäferhundes sich vergeblich bemühte, den Schein ruhiger Würde zu behaupten; er lief immer wieder in jugendlicher Hitze seinem Herrn vor und bellte die Fremden an, bis ein mißbilligendes Knurren seines erfahrenen Kameraden ihn zum Stillstehn brachte. Der Schäfer nahm mit Förmlichkeit seinen breiten Filzhut ab und erwartete die Anrede der Fremdlinge. Als denkender Mann und Naturkundiger wußte er allerdings, wen er vor sich sah, aber es hätte einem, dessen ganzes Leben darauf gerichtet war, vorschnelles Wesen an Schafen und Hunden zu bändigen, sehr schlecht gestanden, wenn er selbst die Neugierde eines Böckleins gezeigt hätte. Der Vogt stellte mit einer kreisförmigen Handbewegung dem Schäfer die beiden Herren vor, und der Schäfer neigte mehrmals seinen Kopf in einer Weise, welche anzeigte, daß er die Bedeutung der ausgesprochenen Worte vollständig begreife.

«Eine hübsche Herde, Schäfer», redete ihn Anton an.

«Fünfhundertfünfundzwanzig Stück», antwortete der Schäfer, «darunter sechsundachtzig Lämmer, dort hinten vierzig Masthammel.» Er suchte mit forschendem Blick in der Herde nach einem Schaf, welches die wünschenswerten Eigenschaften eines Probestücks hatte, beugte sich nieder, faßte das Tier mit schnellem Ruck an den Hinterbeinen und zeigte die Wolle. Karl begann die Untersuchung. Es waren große starkgebaute Tiere, wie sie zu den Verhältnissen des Gutes paßten, und gleichmäßiger in Bau und Wolle, als sich nach allem hoffen ließ. «Wenn sie Futter kriegen, geben sie ihre Wolle», sagte der Schäfer stolz. «Es ist Kernwolle.»

Ein Jährling war so unvorsichtig, zu husten. Der Schäfer sah mißbilligend auf das vorlaute Tier. «Die Herde ist ganz gesund», erklärte er.

«Wie lange seid Ihr hier im Dienst?» fragte Anton.

«Neun Jahre», erwiderte der Mann. «Als ich herkam, war das Vieh wie die Pudel in der Stadt, mit nacktem Hinterteil. Es hat Mühe gemacht, niemand hat sich um die Herde bekümmert; es ist deswegen nicht schlechter gegangen. Wenn ich nur immer Erbsenstroh gehabt hätte und in diesem Winter die ordinären Erbsen für die Mütter.»

«Wollen sehen, was sich tun läßt», tröstete Anton. «Es ist knapp in der Wirtschaft für diesen Winter.»

«Das ist wahr», gab der Schäfer zu, «aber hier ist schöne Brachweide.»

«Ich glaube gern», sagte Anton lächelnd, «daß Eure Schafe nicht unzufrieden sind. Es gibt wenig Felder, auf denen Euer Hund nicht zu jeder Jahreszeit gebellt hat. Mit Freuden habe ich gehört, wie brav Ihr die Herde für Euren neuen Herrn verteidigt habt. Sind die Leute hier Euch oft ärgerlich gewesen?»

«Ich könnt's nicht sagen, Herr», versetzte der Schäfer, «die Menschen sind sich überall gleich, sie wollen nicht parieren und sie haben keine Überlegung. Ich richte eher einen Hund ab für die Herde als einen Menschen.» Er stützte sich breitspurig auf seinen langen Stab und sah mit Wohlgefallen auf seinen Hund herunter, der unterdes pflichtgetreu die Herde umbellt hatte und jetzt zu seinem Herrn zurückkam, um seine Schnauze vertraulich an dessen Hosen abzuwischen. «Sehen Sie diesen Hund an! Wenn ich einen Hund zwei Jahre in der Lehre gehabt habe, so ist er entweder gut, oder er ist nicht gut. Wenn er nicht gut ist, so jage ich ihn fort und bin fertig mit ihm; wenn er einmal gut geworden ist, so kann ich mich, solange er lebt, auf ihn verlassen wie auf mich selber. Den jungen dort bei den Hammeln habe ich drei Jahre im Dienst, und ich kann keine Stunde dafür stehen, daß er nicht einen verrückten Einfall bekommt und, anstatt meine Schafe nach rechts zu treiben, selber nach links läuft. Deswegen sage ich, es ist auf Menschen kein Verlaß.»

«Und auf wen verlaßt Ihr Euch in dieser Welt?» fragte Anton.

«Zuerst auf mich selber», sagte der Schäfer, «denn ich kenne mich, und dann auf meinen Hund Krambow, den kenne ich auch, und außerdem noch zuletzt, wie sich's gehört» – er winkte mit dem Kopfe ein wenig nach der Höhe; dann pfiff er leise seinem Hunde, Krambow fuhr wieder im Kreise um die Herde. «Und Sie», fuhr der Schäfer fort, «werden Sie hierbleiben bei dem Baron?»

«Ich denke, ja», antwortete Anton.

«Und darf ich fragen, als was? Inspektor und Amtmann sind Sie nicht, denn Sie haben sich die Hammel noch nicht angesehen. Die Hammel müssen fort, es ist hohe Zeit. Also, darf ich fragen, was sind Sie bei dem neuen Herrn?»

«Wenn's ein Titel sein soll», erwiderte Anton, «so nennt mich Rechnungsführer.»

«Rechnungsführer», wiederholte der Schäfer nachdenkend, «da darf ich wohl mit Ihnen über mein Deputat reden?»

«Das sollt Ihr, Schäfer, das nächste Mal, wenn ich Euch sehe.»

«Es hat keine Eile», sagte der Schäfer, «man will nur wissen, wie? In meiner Stube ist eine Glasscheibe zerbrochen, der Glaser wird jetzt wohl wieder aufs Schloß kommen, da bitte ich, Herr Rechnungsführer, daß Sie an mich denken.»

Karl und der Vogt traten heran, Anton rief dem Kutscher: «Nach der Försterei.»

«Sie wollen zum Förster?» fragte der Vogt mit verlegener Miene.

«Er will zum Förster!» wiederholte der Schäfer und trat einige Schritte näher.

«Weshalb wundert Euch das?» forschte Anton aus dem Wagen.

«Es ist nur -», sagte der Vogt stockend, «der Förster ist ein wunderlicher Mann. Und wenn nicht der Herr Baron selbst kommt, so wird er sich nicht ergeben.»

«Wohnt er denn in einer Festung?» fragte Anton lachend.

«Er hat sich eingeschanzt», sagte der Vogt, «und läßt niemanden in sein Haus, er lebt auf seine eigentümliche Weise.»

«Er ist ein Waldmensch», bestätigte der Schäfer, mit dem Kopfe nickend.

«Die Polnischen sprechen, er ist ein Schwarzkünstler», fuhr der Vogt fort.

«Er kann verschwinden», rief der Schäfer.

«Glaubt Ihr das auch?» fragte Karl erfreut.

«Es gibt keine Hexriche», erklärte der Schäfer mit starker Mißbilligung seines Vorurteils, «die im Dorfe halten manchen dafür. Der Förster ist ein natürlicher Mann.»

«Er ist im Grunde ein guter Mann, aber er hat seinen Eigensinn», sagte der Vogt.

«Ich hoffe, er wird meine Vollmacht respektieren», entgegnete Anton, «es wäre sein Schade, wenn er es nicht täte.»

«Es wird doch besser sein, wenn ich mit dem Förster spreche», bat der Vogt. «Wenn Sie mir erlauben wollen, mit Ihnen zu fahren;[*] er hat zu mir ein gutes Zutrauen.»

«Meinetwegen», schloß Anton, «nehmt die Zügel, der Knecht mag unterdes den Pflug führen, auf dem Rückwege setzen wir Euch ab. Und jetzt vorwärts zu dem gefährlichen Mann.»


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