Gustav Freytag
Soll und Haben
Gustav Freytag

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8

Noch immer besaß Veitel Itzig seine Schlafstube in der stillen Karawanserei, wo er sich am Tage seiner Ankunft einquartiert hatte. Wenn nach den Behauptungen der Polizei jeder Mensch irgendwo zu Hause sein muß und nach der Ansicht aller verständigen Frauen vorzugsweise da zu Hause ist, wo sein Bett steht, so war Veitel merkwürdig wenig zu Hause. Sooft er aus dem Geschäft des Herrn Ehrenthal entschlüpfen konnte, trieb er sich auf den Straßen umher, sah lauernd auf jeden jungen Herrn, welcher ihm geneigt schien, etwas zu kaufen oder zu verkaufen, und wußte aus der Haltung des Vorübergehenden genau zu erkennen, ob dieser für die Reize eines kleinen Handels empfänglich sei oder nicht. Stets hatte er einige Paradetaler in der Tasche, mit welchen er in anmutiger Nachlässigkeit so lockend zu klappern verstand, daß nur ein fühlloser Mensch gleichgültig gegen diese Zahlungsfähigkeit sein konnte. Er wußte mit einem einzigen schnellen Blick die geheimsten Fehler eines Rockes oder einer Weste zu erkennen, er hatte für seine Kunden eine bezaubernde Fülle von verbindlichen Redensarten, er sprach aus Grundsatz zu keinem halbwüchsigen Primaner anders als: «Wenn der gnädige Herr mir allergnädigst erlauben», er verstand, was ewig für das Höchste in diesem Geschäft gelten wird, seiner Untertänigkeit einen skurrilen Anstrich zu geben, und war Meister darin, die allerabgeschmacktesten Bücklinge zu machen. Er besaß die Wissenschaft, altes Messing durch Katzensilber blendend zu machen und altem Silber den allerhöchsten Glanz zu geben; er war stets bereit, abgelegte schwarze Fracks zu kaufen – was von allen Eingeweihten als Symptom einer kühnen und waghalsigen Natur betrachtet wird -, er wußte das fasrige Tuch derselben durch einen eigentümlichen Bürstenstrich mit einem Schein von Neuheit zu überziehen, der gerade lang genug dauerte, um seine Käufer zu verblenden, welche er in armen Schulmeistern, hoch aufgeschossenen Konfirmanden und freigesprochenen Lehrlingen zu finden bemüht war. Mit jedem Gange, welchen er für Herrn Ehrenthal tat, suchte er einen andern zu seinem eigenen Nutzen zu verbinden und erwarb dadurch schnell eine Kundschaft, welche den Neid graubärtiger Trödler erregte. Er beschränkte sein Geschäft aber nicht auf gebrauchte Gegenstände, obgleich er hierin seine ersten und zahlreichsten Erfolge durchgesetzt hatte. Er wurde Agent von Pferdehändlern, trat in Verbindung mit verschwiegenen Geldverleihern und trieb solchen Ehrenmännern Kunden zu; ja er lieh sein eigenes Geld aus und hatte das ungewöhnliche Zartgefühl, nie mehr als fünfzig vom Hundert zu nehmen; er lieh aber nur auf kurze Fristen und nahm am Zahlungstermin statt des baren Geldes mit großer Bereitwilligkeit jede Art von verkäuflichen Dingen zu einer Taxe, welche er als Sachverständiger am besten selbst machte. Dabei hatte er die Tugend, nie zu ermüden, er war den ganzen Tag auf den Beinen, lief um einige Groschen zehnmal denselben Weg, freute sich wie ein König um einen eroberten Taler, schüttelte jedes rauhe Wort – und er mußte oft welche hören – ab, wie der Pudel seine Schläge. Er gönnte sich selbst keine Stunde des Genusses, seine einzige Erquickung war, an den Fingern die Geschäfte abzuzählen, welche er gerade im Gange hatte, und seinen Gewinn zu berechnen. Es war merkwürdig, wie wenig er brauchte, er aß am Abend ein Stück Brot, welches er zu Mittag aus Ehrenthals Küche in seine Tasche praktiziert hatte; ein Glas Dünnbier gönnte er sich im ersten Jahre nur einmal, und zwar an einem heißen Tage, wo er einem Gutsbesitzer behilflich gewesen war, einen Wagen zu verkaufen, und durch eine Tätigkeit von zwei Stunden ebenso viele Taler verdient hatte. Seine Kleider gewährte ihm sein Geschäft. Sommer und Winter ging er deshalb in schwarzem Frack und den entsprechenden Pantalons; ja er fand es nützlich, über einer schwarzen Samtweste eine vergoldete Kette zu tragen, und erschien stets als Gentleman unter seinesgleichen, weil er mit Recht behauptete, jeder Geschäftsmann müsse so auftreten, daß sich kein Mensch zu schämen brauche, mit ihm ein Geschäft zu machen. Aus allen diesen Gründen genoß er schon nach Ablauf des ersten Jahres die Freude, seine sechs Dukaten um das dreißigfache vermehrt zu sehen.

Im Geschäft des Herrn Ehrenthal war er schnell ein unentbehrliches Mitglied geworden, seinem Scharfsinn entging keine Person, kein Pferd, kein Getreidewagen; jedes Gesicht, das er einmal gesehen, erkannte er wieder; jeden Tag wußte er den Kurszettel der Börse auswendig, als ob er selbst vereideter Sensal gewesen wäre. Noch bekleidete er die mehr nützliche als erhabene Stelle eines Laufburschen, noch putzte er Bernhards Stiefel und aß vor der Küchentür; aber es war ersichtlich, daß ihm ein Schreibpult und ein Lederstuhl in dem kleinen Kontor, welches Herr Ehrenthal der Form wegen hielt, nicht fehlen würden. Dieser Stuhl war das Ziel seiner Sehnsucht, es war für ihn ein Sitz im Paradiese. Denn noch war er nicht eingeweiht in die Tiefen des Geschäfts, noch wurde er weggeschickt, sooft irgendein wichtiger Kunde mit Herrn Ehrenthal verhandelte. Sehr bald sah er ein, daß ihm selbst noch einiges fehle, um dies Glück zu verdienen; er gebrauchte die deutsche Sprache mit vieler Fertigkeit, aber es war ein östlicher Hauch darin, mehr Kehlkopf als höhere Grammatik; er schrieb wohl auch Geschäftsbriefe und Rechnungen, aber es war keine Glätte, kein Strich dabei, die Buchstaben waren sozusagen widerhaarig, und die Perioden waren löchrig und geflickt; und was vollends die Geheimnisse der Buchhaltung betraf, so war er darin wie ein unschuldiges Kind. Dieser Mangel drückte ihn sehr.

In seiner Herberge war er unterdes ein angesehener Mann geworden, selbst Löbel Pinkus behandelte ihn mit ungewöhnlicher Vertraulichkeit. Dies schöne Verhältnis verdankte Veitel seinem Scharfblick. Jene Bretterwand in der Gaststube und der hohle Klang des Holzes hatten ihn seit dem Tage seines Einzuges beunruhigt, wochenlang hatte er auf eine Gelegenheit gewartet, seine Untersuchungen fortzusetzen. Endlich an einem Sonnabend schützte er Unwohlsein vor und blieb zu Hause, als der Hauswirt und seine Gäste mit würdigem Schritt nach der Synagoge zogen. Da endlich glückte ihm, einen Ritz in der Hinterwand seines Schrankes zu erweitern und etwas zu erblicken, was ihn aufs höchste überraschte. Er sah in eine große schmutzige Stube, welche ganz angefüllt war mit Koffern und Kisten und einem Chaos begehrenswerter Artikel. Herren- und Damenkleider, Betten, Wäsche, Stoffe, bunte Vorhänge lagen in großen Haufen durcheinander, auch metallene Geräte, ein Kruzifix, Kelche, Kronleuchter glänzten in dem Halbdunkel und noch andere lockende Spekulationen, welche auch sein scharfes Auge nicht erkennen konnte. Als Aladin den ersten Schritt in die Zauberhöhle tat, geriet er schwerlich in so große Aufregung wie Junker Itzig bei seiner Entdeckung. Er lief immer wieder zu dem Ritz zurück und starrte in das staubige Dämmerlicht der geheimnisvollen Niederlage, bis die Gäste aus der Synagoge nach Hause kamen. Er behielt die Entdeckung für sich, aber er lag seit dem Tage auf der Lauer, wie das Wiesel vor einem Mauseloch. Einigemal hörte er bei Nacht Geräusch in der geheimnisvollen Stube des Nebenhauses; einmal gelang es ihm, ein Geflüster zu vernehmen, bei welchem die tiefe Stimme des würdigen Pinkus unverkennbar war; einst, als er spät nach Hause kam, sah er am Nachbarhause Fässer, Kisten und Bündel in eine kleine Britschka laden, welche schamhaft mit weißer Leinwand verhüllt war, eine Maßregel, welche schon Sulamith im Hohenliede Salomonis als nützlich empfiehlt, damit man nicht von den Wächtern des Königs in den Weinbergen angehalten werde. In derselben Nacht verschwanden zwei schweigsame Gäste seines Herbergsvaters, welche offenbar aus Polen stammten, und kamen nicht wieder. Aus alledem zog er den Schluß, daß sein Wirt eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäft von allerlei merkwürdigen Waren hielt, welche er aus guten Gründen lieber am Abend als bei Tage fortschaffte. – Wie ein Licht ging es unserm Veitel auf. Die Waren fuhren nach dem Osten, wurden über die Grenze geschmuggelt und verbreiteten sich bis tief in das russische Reich, bis an die asiatische Grenze, wo zuletzt der strebsame[*] Kirgise die Hemden und Schnürröcke aufträgt, welche vom deutschen Schneider genäht sind. Alles nach dem Grundsatz, was in Deutschland defekt wird, fällt den Russen zu. Veitel benutzte seine Entdeckung mit der Mäßigung eines Geschäftsmannes und machte seinem Hauswirt gerade nur so viele Andeutungen, daß Pinkus sich bewogen fühlte, ihn mit besonderer Rücksicht zu behandeln.

Nach einem tatenreichen Tag schritt Veitel nachdenkend in seine Herberge zurück und betrat mit dem üblichen Gruß die Gaststube. Er setzte sich still in eine Ecke und suchte in seinen Gedanken nach einem Schriftgelehrten, welcher geeignet war, ihn in die Geheimnisse eines guten Stils und der Buchführung einzuweihen, gegen möglichst geringes Honorar, ja vielleicht gegen einen schwarzen Frack, den er durchaus nicht loswerden konnte, weil dessen Schöße – er hatte einem riesigen Leichenbitter gehört – bis auf den Boden hingen, wie die Äste einer Trauerweide. Als Veitel nach fruchtlosem Überlegen aufsah, erblickte er am Tische einen fremden Gast, welcher eine Feder in der Hand hielt und diese zuweilen in ein Tintenfaß tauchte; der Mann sprach leise mit einem Händler und beugte sich von Zeit zu Zeit auf das Papier, wahrscheinlich, um die Beschlüsse der geheimen Unterhaltung zu verewigen. Veitel sah sich den Schreiber ahnungsvoll an. Es war klar, daß die Großväter dieses Mannes nicht unter Moses durch das Rote Meer gezogen waren. Der Herr war stark und klein, er hatte eine rötliche aufgeregte Nase und ein rundes ältliches Gesicht, verworrenes Haar und eine alte Stahlbrille, die er zuweilen an den Ohren festdrückte, weil es ihr trotz ihrer langen Dienstzeit ganz unmöglich war, auf der Stumpfnase Schluß zu gewinnen. Veitel bemerkte, daß dieser Mann mit der Brille einen ungewöhnlich schlechten Rock anhatte und zuweilen aus einer Zinndose schnupfte, wobei er jedesmal den Händler mit einem eigentümlichen Schielblick ansah, mit einer Art von inquisitorischem Blinzeln, welches seinem Gesicht einen gutmütigen Ausdruck geben sollte, dies aber nicht tat. Offenbar war der Mann ein Schriftgelehrter, und Veitel beschloß abzuwarten, ob er an ihn kommen könne. Endlich war die Verhandlung geschlossen, der Händler empfing ein Papier und legte dafür ein Geldstück, vor Veitels Adleraugen ein Achtgroschenstück, auf den Tisch, welches von dem Herrn mit der Brille nachlässig in die Tasche des Beinkleides versenkt wurde. Der Händler entfernte sich, der Fremde blieb, wie es schien, in gemütlicher Stimmung sitzen und goß sich aus einer kleinen Flasche Branntwein den letzten Rest in das Glas. Veitel trat auf ihn zu, der kleine Herr blickte mißtrauisch auf, aber als er die verbindliche Stellung Veitels sah, fuhr ein vertrauliches Lächeln über sein rotes Gesicht, und eine scharfe Stimme sprach: «Nur näher, mein junger Freund, Sie wollen mich konsultieren, ich stehe zu Diensten.»

Veitel begann zögernd: «Wenn der Herr bekannt ist am Orte, so wollte ich ihn wohl ersuchen um etwas.»

«Immer heraus, mein Sohn», ermunterte der andere, indem er sein Glas austrank und Veitel mit seinem gutmütigen Blick ansah.

«Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht jemand wüßten, der gegen eine billige Vergütung einem Manne von meiner Bekanntschaft Unterricht geben würde im Schreiben und in den Aufsätzen, wie man sie braucht zum Geschäft.»

«So?» fragte der schäbige Herr. «Wie man sie braucht zum Geschäft? – Und dieser Mann von Ihrer Bekanntschaft sind Sie selbst, mein Sohn?»

«Was soll ich daraus machen ein Geheimnis?» antwortete Veitel aufrichtig. «Ja, ich bin es selbst; aber ich bin noch ein Anfänger und bin nicht imstande, mehr zu geben als wenig.»

«Wer wenig gibt, erhält wenig, mein Lieber – wie war doch der Name?» fragte der Alte gleichgültig dazwischen und drehte die Dose.

«Veitel Itzig heiße ich.»

«Also, lieber Itzig», fuhr der Alte fort, «guter Unterricht kostet gutes Geld. Und was treiben Sie für ein Geschäft?» forschte er mit väterlicher Miene weiter.

«Ich bin im Kontor bei Hirsch Ehrenthal», erklärte Veitel mit Selbstgefühl.

Der Fremde wurde aufmerksam. «Herr Ehrenthal ist ein reicher Mann, ein kluger Mann, ich habe seinerzeit viel mit ihm zu tun gehabt, er hat eine schöne Gesetzkenntnis. Wenn Sie den Geschäftsstil erlernen wollen und bei Herrn Ehrenthal sind», fuhr er überlegend fort, «vielleicht kann da Rat werden. Welches Honorar würden Sie zahlen, wenn sich jemand fände?»

Veitel fand es gewissenlos, etwas zu bieten, er bemerkte zurückhaltend: «I[*]ch weiß doch noch nicht, was er fordern wird für solchen Unterricht.» -

«So will ich's Euch geradeheraus sagen», erklärte der Herr mit der Brille. «Ich selbst könnte Euch vielleicht den Unterricht geben, vielleicht auch nicht; man gibt solche Anweisung nicht jedem, ich müßte mich erst näher nach Euch erkundigen. Wenn ich Euch aber den Gefallen tue, so will ich Euch den Unterricht erteilen in Erwägung, daß Ihr ein Anfänger seid, in Erwägung, daß Ihr arm seid, und in Erwägung, daß ich jetzt gerade einige freie Zeit habe und aufgelegt bin, mehr Theorie als Praxis zu treiben, wenn Ihr mir fünfzig Taler zahlt; fünfundzwanzig Taler vor der ersten Lektion und fünfundzwanzig Taler in einem Schuldschein, den ich selbst Euch schreiben werde, binnen vier Wochen.»

«Fünfzig Taler!» rief Veitel entsetzt und sank wie vom Schlag gerührt auf einen Schemel. «Fünfzig Taler!» wiederholten mechanisch seine Lippen, als das Räderwerk seines Geistes bereits ins Stocken geraten war.


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